Verlorene Maßstäbe

Eröffnungsansprache des Jüdischen Präsidenten des Deutschen Koordinierungsrates Landesrabbiner em. Dr. h.c. Henry G. Brandt bei der Woche der Brüderlichkeit am 07. März 2010 in Augsburg


Verlorene Maßstäbe! Ist dies die apodiktische Feststellung eines Tatbestands, vielleicht ein Lament, eine Klage über erdrückendes Weh? Könnte es nur eine Frage sein, die nun gestellt, beantwortet werden will, aber deren Lösung noch aussteht. Weiter noch, könnte es eine Herausforderung sein, Maßstäbe, die wir als solche zu erkennen meinten und die wir glaubten verloren zu haben, wieder zu suchen oder aus unseren Erinnerungen zu erneuern?

Willkommen! Willkommen hier in der Friedensstadt AUGSBURG zur Eröffnung der bundesweiten Woche der Brüderlichkeit 2010. Seien Sie alle herzlich begrüsst.

(Anreden)

Last but certainly not least, begrüße ich und heiße willkommen den diesjährigen Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille: Herrn Architekt Dr. Daniel Libeskind, der uns durch seinen gestrigen fulminanten Vortrag bereits in seinen Bann geschlagen hat, sowie seine Frau Gemahlin Nina.

Als der Vorstand des DKR das Thema „Verlorene Maßstäbe“ für das kommende Arbeitsjahr empfohlen hatte, war es keineswegs die Absicht, einfach modisch wieder über die gegenwärtigen Krisen zu debattieren. Darüber pfeift jeder sich selbst respektierende Spatz vom Dach, dazu ist schon fast alles tausende Male in allen Kreisen und Medien gesagt worden. Wir möchten einen viel breiteren Horizont setzen, über den Tellerrand hinausblicken. Ich glaube nämlich, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen, die wir gerade durchzustehen haben, sind nur Symptome einer schon viel länger währenden, umfassenderen, tief verwurzelten gesellschaftlichen Malaise. Noch als Wachstum unendlich schien, der Wohlstand sich – zumindest für viele – immer mehrte, machten sich vielerseits bereits Unbehagen, Vorbehalte bis Orientierungsverlust breit. Wertegefüge, die man zu besitzen vermeinte, schienen sich in Unberechenbarkeiten und Beliebigkeiten aufzulösen. Immer rasanter bewegte sich der Zug in Richtung Superlative und Größenwahn. Immer größer, immer höher, immer teurer, immer mehr schwindelerregende Margen und Profite, immer mehr Sinneskitzel… Und immer weniger Verantwortung und Rechenschaft.

Der einfachste Maßstab, welchen Wert man Waren, Dienstleistungen etc. zumisst, ist deren Geldwert. Was man für wertvoll dünkt, dafür ist man bereit zu zahlen. Welches Bild gibt dann unsere Gesellschaft von sich ab, die Fußballer, Tennisspieler, Rockstars mit Millionen überschüttet, von denen ein Topchirurg, Forscher oder Staatspräsident nicht einmal zu träumen wagt? Wie ordnet man den Umstand ein, wenn Riesenkonzerne Billionen Profite ausweisen und zur gleichen Zeit tausende von Mitarbeitern arbeitslos auf die Straße setzen? Wo ordnen wir moralisch ein, wenn in der großen Politik lukrative Geschäfte mit den miesesten Tyrannen und Verächtern der Menschenrechte zelebriert werden? Wahrlich, verlorene Maßstäbe!

Fragen wir aber welches die Maßstäbe sind, die wir glauben verloren zu haben, fällt die Antwort auch nicht leicht. Wahrscheinlich sind es die schon über Jahrtausende überlieferten Lehren, Weisheiten und ethischen Maxime aus heiligen Büchern und Traditionen aus aller Welt; Grundsätze von denen Menschen glaubten, sie stammen von jenseits menschlicher Vernunft und Interessengemenge. Hat man sie auch immer wieder mit Füßen getreten, sie verleugnet, missachtet und verspottet – haben sie sich doch immer wieder Bahn gebrochen und das durch Bosheit, Gier und Machtgelüste verbreitete Dunkel durch ihr Leuchten durchbrochen. Diese Grundsätze sind doch auch uns nicht fremd; die Gleichwertigkeit aller Menschen, das Primat des Lebens und seiner Erhaltung, Verantwortung für Schöpfung und Geschöpf, Gerechtigkeit, Friedensliebe, Freiheit und etliches mehr. In jeder Epoche erscheinen sie im veränderten, doch passenden Gewand, bleiben aber in ihrem Wesen unverändert gleich. Sie sind wie der Pulsschlag des Herzens – lebenserhaltend und lebensnotwendig. Wie die Bibel lehrt: Sie sind auch nicht im Himmel oder über den Meeren, sondern in unseren Herzen und in unseren Mündern.

Stellen wir uns der Herausforderung, das Verlorengeglaubte für unsere Zeit und für die Zukunft wiederzufinden und zu bewahren. Die Alternative? Eigentlich haben wir keine, wenn die Menschheit in Frieden und Würde weiter existieren will.

Hiermit eröffne ich die Woche der Brüderlichkeit 2010.