Laudatio von Dr. h.c. Charlotte Knobloch

Laudatio von Dr. h.c. Charlotte Knobloch anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an das Fritz Bauer Institut und Mirjam Pressler im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung der Woche der Brüderlichkeit, 3. März 2013 in Kassel


(Anrede,)

„Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ – Ein Satz von William Faulkner, der mir in jüngster Zeit häufiger in den Sinn kommt. Spüre ich doch die Folgen um sich greifender, geschichtsverdrossener Gedankenlosigkeit und historischer Gleichgültigkeit. Umso mehr freue ich mich über das wohlbedachte Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit: Sachor – Gedenke.

In der Bibel begegnet uns der hebräische Wortstamm zachar – erinnern, gedenken – 169 Mal. Nicht ohne Grund.

„Der Zukunft ein Gedächtnis.“ – Formuliert einen essentiellen Auftrag an unsere Gesellschaft, wollen wir uns nicht schon bald in Oberflächlichkeit und Marginalität verlieren. Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an das Fritz-Bauer-Institut und Mirjam Pressler setzt der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ein wichtiges Signal für den Erhalt und die Fortentwicklung einer klugen Erinnerungskultur in unserem Land.

Verehrte Anwesende,
„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden“ – war der ehemalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer überzeugt. Er wusste: Wenn die junge deutsche Demokratie dauerhaft Freiheit und Gerechtigkeit garantieren wolle, müsste sie ihre Vergangenheit bewältigen.

Allein dem Einsatz des unerschrockenen Fritz Bauers ist es zu verdanken, das ab 1963 in Frankfurt am Main die Auschwitz-Prozesse zustande kamen. Bis heute bewundere ich seinen Mut. An der Entschlossenheit von Fritz Bauer können wir uns alle ein Beispiel nehmen.

Seinem Andenken verpflichtet erforscht und dokumentiert das Fritz-Bauer-Institut die nationalsozialistischen Massenverbrechen. Es versteht sich als Bildungseinrichtung zur Geschichte und deren Wirkung bis in die Gegenwart.

Diese Wirkungen zu unterschätzen, bedeutet dem Irrtum anheim zu fallen, allein die Zeit könne alle Wunden heilen. Wer die historisch bedingten mentalen Herausforderungen unseres Landes scheut, setzt mutwillig das gesunde, unbeschwerte und aufgeklärt patriotische Selbstverständnis der jungen Generationen in der Bundesrepublik aufs Spiel.

Fritz Bauer wusste, dass Verantwortung nicht verjährt. Unermüdlich kämpfte er für Gerechtigkeit. Heute geht es nicht mehr um die Schuld einzelner Täter. Im Fokus stehen die Erkenntnis kollektiver Verantwortung und die kognitive Aufarbeitung unserer gemeinsamen Geschichte. Eine bipolare Annäherung, wie sie bislang dominiert, wird weder zu einer weiteren Annäherung führen – noch je, zu Normalität.

Wahrhaftige und gegenwartsorientierte Auseinandersetzung mit Geschichte trennt uns nicht – sie eint.

Die Buber-Rosenzweig-Medaille würdigt die immer neuen, interdisziplinären Impulse des Instituts für den gesellschaftlichen Diskurs und das dezidierte Eintreten für eine differenzierte, generationsübergreifende Gedächtniskultur. Eigene Forschung wird ergänzt durch aktive Begleitung von staatlichen oder privaten Institutionen bei deren Erinnerungsarbeit. Von entscheidender Bedeutung sind darüber hinaus die pädagogischen Ansätze. Lehrerfortbildungen und Studientage, an denen die nachfolgenden Generationen für ihre historische Verantwortung sensibilisiert werden.

Ich danke und gratuliere Ihnen, verehrter Herr Direktor Professor Dr. Gross und Ihrem hervorragenden Team, zu dieser Auszeichnung und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg dabei, der Zukunft ein Gedächtnis zu bewahren.

Denn, um es mit Jean Amery auszudrücken – ich zitiere: „Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten.“

Verehrte Anwesende,
ebenso wenig kann man der eignen Geschichte entfliehen. Diese Erkenntnis tragen die Erzählungen von Mirjam Pressler in sich. Seit mehr als 30 Jahren thematisiert sie die Verarbeitung individueller Vergangenheit. Trotz – oder gerade wegen – ihrer schadhaften, gar zertrümmerten Kindheit gelingt es ihren jungen Protagonisten, zu starken Persönlichkeiten heranzureifen und ein erfülltes Leben aufzubauen.

Vielleicht entspringt ihr unvergleichliches Einfühlungsvermögen für die kindliche Erlebniswelt ihrer eigenen Kindheit. 1940 geboren, wächst sie bei Pflegeeltern auf. Armut und Gewalt prägten ihre ersten Jahre. Lesen und Schreiben waren verpönt. Heimlich, bringt sie es sich fünfjährig selbst bei. – Anhand eines Reiseführers St. Petersburg begann ihre Reise in die Welt der Worte, wo sie Zuflucht aus ihrem harten Alltag fand.

Eine Parallele zu Anne Frank, deren Lebensraum auf wenige Quadratmeter reduziert war. Ihre Welt jedoch erstreckte sich in die endlosen Weiten ihrer Phantasie, die sie im Schreiben erkundete. Die von Mirjam Pressler übersetzte kritische Ausgabe der Tagebücher sowie ihre Biografie von Anne Frank sind von unschätzbarem Wert für das Gedächtnis der Zukunft. Junge Menschen finden hier einen Zugang zu Millionen ähnlicher Schicksale hinter dem unbegreiflichen Ausdruck „Holocaust“.

Aber Mirjam Pressler bringt ihrem Publikum nicht nur jüdische Themen näher. Die Mutter dreier Töchter erzählt von verschiedenartig beschädigten Kindheiten – es sind viele „Kratzer im Lack“, die sich Jugendliche in unserer Gesellschaft zuziehen können. Geschrieben für junge Leser, sind es auch die Erwachsenen, die von der Lektüre ihrer Bücher profitieren.

In mehr als 30 Büchern erinnert Mirjam Pressler an den kindlichen Wunsch, voller Vertrauen die Welt zu erobern – und erschüttert mit den Varianten der Verstörung dieser Unbekümmertheit. Immer wieder ist da jenes traumatische Erleben des Andersseins – vielleicht die schmerzhafteste Erfahrung junger Menschen. Ihre schonungslose und mutige Darstellung ist ein Aufschrei für eine tolerantere Gesellschaft.

Ein Happy End findet sich selten. Dennoch glauben wir ihr, dass es immer einen Ausweg gibt. Hoffnungslosigkeit hat keinen Platz in der Welt von Mirjam Pressler. Sie ermutigt zum Befreiungsschlag, dazu, an sich selbst zu glauben.

Niemals belehrt sie. Sie beschreibt. Die studierte Kunsthistorikerin ist eine begnadete Erzählerin. Scheinbar mühelos bewegt sie sich in allen Genres – Ausprobieren macht ihr Spaß.

Schon ihr Weg zum Schreiben war das Wagnis von etwas Neuem. Erst mit 40 veröffentlichte sie ihr erstes Buch – gleich ein Bestseller. Die Geburtsstunde einer der bedeutendsten Autorinnen unserer Tage. Vielfach gefeiert und ausgezeichnet. Nicht nur für ihre eigenen Texte, sondern auch als Literaturvermittlerin. Weit über 300 Werke hat sie übersetzt – aus dem Englischen, Niederländischen und vor allem dem Hebräischen.

Mit ihrem Gespür für Sprache bringt sie dem deutschen Publikum nicht nur die hebräische Literatur näher. Sie transportiert eine ganze Welt. Fungiert als Mittlerin, die Fremdheiten abbaut und Raum für Empathie schafft – Verständnis für die differenzierte israelische Gesellschaft.

Ich gratuliere ihr von Herzen zu dieser Auszeichnung.

Verehrte Anwesende,
Mirjam Pressler hat ihr Anliegen einmal wie folgt beschrieben: „Geschichten, die nicht sterben dürfen, muss man immer wieder erzählen.“
Mit anderen Worten: Sachor – Der Zukunft ein Gedächtnis.

Erinnern, Gedenken – meine sehr verehrten Damen und Herren – das bedeutet immer auch Besinnen.

Lassen Sie uns als Christen und Juden diese Woche der Brüderlichkeit nutzen, um uns unserer gemeinsamen Stärke zu besinnen: unsere gemeinsamen Werte. Besinnen wir uns auf die Ringparabel. Mirjam Pressler hat sie mit „Nathan und seine Kinder“ einem jungen Publikum zugänglich gemacht. Wir alle sollten uns an sie erinnern. – Sachor.

Lassen Sie uns ein Beispiel an Fritz Bauer und Mirjam Pressler nehmen: Mehr Mut!

Als Christen und Juden ist es unsere Pflicht, den Menschen, gerade den jüngeren, Halt zu geben – ihnen Mut zu machen. Mut, zu sich selbst zu stehen. Mut, für unsere Gemeinschaft, unsere Werte einzustehen – für Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und das respektvolle Miteinander. In mahnender Erinnerung der Geschichte – für eine gute Zukunft für unsere Kinder und Kindeskinder.

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch den Preisträgern. Und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Die Laudatorin Charlotte Knobloch ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses und war bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland