"Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem"

Begrüßung und Hinführung zum Thema „In Verantwortung für den Anderen“ durch den EKD-Ratsvorsitzenden Präses Dr. h.c. Nikolaus Schneider anlässlich der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier zur Eröffnung der „Woche der Brüderlichkeit“ am 10. März 2012 im Alten Rathaus zu Leipzig.


„Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.“ (Jesaja 2,2f)

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
mit diesen Worten des Propheten Jesaja begrüße ich Sie sehr herzlich zu unserer heutigen christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier im Rahmen der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit.

Die Vision des Jesaja bringt zum Ausdruck, warum Juden und Christen schon heute gemeinsam Gottes Wort hören und davon lernen wollen. Wir Christinnen und Christen kommen „aus den Völkern“ hinzu und hören mit dem jüdischen Volk die Weisung und das Wort JHWHs vom Zion. Denn: „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“ (Jes 56,7), ruft der Gott Israels, der auch der Herr der Kirche und der Schöpfer aller Welt ist.

In dieser Gemeinschaftsfeier vergewissern wir uns als Juden und als Christen unserer gemeinsamen Grundlage im Wort Gottes. Und wir vergegenwärtigen uns die uns miteinander verbindende Hoffnung auf Gottes Erneuerung und Erlösung dieser Welt. In dieser Feier wollen wir die gemeinsame Verantwortung bedenken, die wir als Geschwister in der Verehrung des einen Gottes füreinander und für die Welt haben.

Um dieser gemeinsamen Verantwortung willen war seit der ersten christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier dieser Art 1967 in Berlin immer auch die Beziehung zur gegenwärtigen politischen Wirklichkeit im Blickfeld. Das ist auch angemessen. Denn es ist bis heute schmerzlich, dass viele christliche Gemeinden in den Zeiten höchster Gefährdung ihrer jüdischen Nachbarn während der nationalsozialistischen Herrschaft ihre menschliche und politische Verantwortung nicht gesehen haben.(1)

Das Motto dieser Woche der Brüderlichkeit - „Verantwortung für den Anderen“ – ist also nicht allein auf den privaten zwischenmenschlichen Bereich zu beziehen, sondern eben auch auf die politische Wirklichkeit hier bei uns in Deutschland und weltweit.

Auf zwei Themenbereiche möchte ich an dieser Stelle unsere Aufmerksamkeit lenken:

Der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Bericht einer unabhängigen Expertenkommission zum Antisemitismus in Deutschland, der Ende vergangenen Jahres veröffentlicht wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass bei 6-11% der Menschen in unserer Gesellschaft von einem manifesten Antisemitismus ausgegangen werden muss.(2) Gerade wegen einer in dem Bericht konstatierten überdurchschnittlichen Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Denkmustern in den Kirchen müssen uns diese Ergebnisse der Studie zutiefst erschüttern. Sie rufen uns ganz konkret in die „Verantwortung für den Anderen“, und zwar im kompromisslosen Eintreten gegen alle alten und neuen Erscheinungsformen des Antisemitismus.

Der Bericht formuliert die für uns wichtig Frage, „inwieweit der christlich-jüdische Dialog zu einer Überwindung antisemitischer Vorurteile in den Kirchen beiträgt“. Und er fragt weiter, ob dieser Dialog nicht eher „nur auf einer Metaebene stattfindet, die die Mitglieder der Kirchen an der Basis nur selten anspricht“.(3) Diese Fragen richten sich auch unmittelbar an unsere Arbeit in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Es ist offensichtlich notwendig, neu über die Verankerung der Themen und Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs im Leben der Ortsgemeinden, im schulischen Unterricht und der Erwachsenenbildung nachzudenken. Und ich sehe die zusätzliche Herausforderung, jüngere Menschen zu gewinnen, die den christlich–jüdischen Dialog zu ihrer Sache machen, also im biblischen Sinne ihr Herz an ihn hängen.

Der zweite Bereich ist die Sorge um den Nahostkonflikt und insbesondere um die Existenz des Staates Israel. Die Friedensvision des Jesaja, die sich an den anfangs gelesenen Vers der Völkerwallfahrt anschließt (Jes 2,4) – dass nämlich Waffen in Ackergeräte umgeschmiedet werden und Menschen das Kriegführen nicht mehr lernen -, lässt die bis an die Grenzen der Hoffnungslosigkeit zugespitzte Konfliktlage im Nahen Osten umso schmerzlicher erscheinen.

Deshalb müssen wir neben allen Erwägungen politischer Klugheit, neben Gesprächen, Verhandlungen, Vermittlungsmissionen und materiellen Hilfen, Gott mit unserem Gebet in den Ohren liegen. Er möge uns Menschen auf allen Seiten schenken, die mutig und nüchtern zugleich für einen gerechten Frieden arbeiten.

Wir hören in dieser Gemeinschaftsfeier auf Gottes Wort. Wir hören aber auch aufeinander. Und führen unser Gespräch vor und mit Gott - und im Raum unserer Gemeinschaft.

Herausforderungen aus der politischen Wirklichkeit stehen uns dabei klar vor Augen. Genau hier nämlich, in der konkreten Wirklichkeit und in unserem Alltag sind wir zur „Verantwortung für den Anderen“ gerufen. Und genau hier sollen wir - um Gottes Willen! - unseres Bruders und unserer Schwester Hüter und Hüterin sein. (vgl. Gen 4,9). Die Gegenwart des Geistes Gottes segne unsere Gemeinschaftsfeier.

 

Anmerkungen

(1) Vgl. STÖHR, M., Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Wege weiter gehen. Zur Entstehung und Aufgabe der Buber-Rosenzweig-Medaille, in: Christoph Münz u. Rudolf W. Sirsch (Hg.), "Denk an die Tage der Vergangenheit. Lerne aus den Jahren der Geschichte.". 40 Jahre Buber-Rosenzweig-Medaille (= Forum Christen und Juden, Bd. 7), Berlin 2009, S. 7–13, 9.
(2) Vgl. BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN, Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Berlin 2011, 62.
(3) ebd., 93.