Gott hat sein Volk nie verstoßen

Ansprache von Alfred Buß, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, zu Lukas 2, 41-52, bei der jüdisch-christlichen Gemeinschaftsfeier im Rahmen der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit am 12. März 2011 in Minden.


(Anrede),

Wie am Ende der Erzählung von der Geburt Jesu, so auch hier: Seine Mutter bewahrt alles, was geschah und bewegt es in ihrem Herzen.

Zuvor hat wahrlich anderes ihr Herz bewegt: Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Kind, wie konntest du uns das antun?

Als rechtschaffene fromme Juden sind sie unterwegs. Das Pessachfest gehört zu den drei großen Wallfahrtsfesten. Jeder erwachsene Jude sollte es möglichst in Jerusalem feiern. So machen sich ganze Dorfgemeinschaften miteinander auf den Weg. Wem immer es möglich ist, verbringt die gesamte Festwoche in Jerusalem. Maria und Josef haben ihren zwölfjährigen Sohn dabei. Auf die Weise wird er – gemeinsam mit anderen Heranwachsenden – früh mit den religiösen Bräuchen vertraut. Die Halbwüchsigen werden durchaus ihr Eigenleben führen in der Reisekarawane und in der Stadt. Bis zu 100 000 Pilger kommen zum Pessachfest – Jerusalem mag zu dieser Zeit halb so viele Einwohner haben. Da ist es nicht verwunderlich, wenn ein Zwölfjähriger eine Zeitlang in der Menge untertaucht. Doch erst am Ende der ersten Tagesrückreise fällt wirklich auf, dass er verschwunden ist. Seine Eltern haben ihn verloren. Der verlorene Sohn...

Sie finden ihn schließlich im Tempel wieder. In den Hallen des äußeren Tempels erforschen und disputieren jüdische Lehrer die Tora. Jesus gesellt sich zu ihnen, hört zu, stellt Fragen. Kindlich leicht. Die christliche Ikonographie hat hier gern einen souverän lehrenden Zwölfjährigen im Gegenüber zu verschlossenen, ja entsetzt dreinblickenden Lehrern Israels gezeichnet. Davon findet sich im Lukasevangelium nichts. Nicht mit den Lehrern Israels steht Jesus im Konflikt, sondern mit seinen Eltern. Die Toralehrer und der Zwölfjährige bilden eine einträchtige Szene. Aufeinander hören – miteinander leben. Zuhören und fragen. Fragen statt definieren. Zuhören statt immer schon eine Antwort wissen. Jüdisches Lehrhaus.
Im Film Yentl, mit Barbara Streisand, gibt es eine schöne Szene: Yentl kommt mit anderen Studenten ins Gespräch; alle schwärmen von ihren großen und bedeutenden Lehrern: Mein Lehrer, sagt einer, weiß auf jede Frage zehn Antworten. Doch Yentl sagt: Mein Lehrer weiß auf jede Antwort zehn Fragen. (Zitiert nach Ebach, Jürgen, Schrift Stücke. Biblische Miniaturen, Gütersloh 2011, 20).

Maria hat jetzt nur eine Frage: Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich. Jesus antwortet, indem er zurück-fragt: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?

Zwei Väter also. Jesus ist nicht von seinem irdischen Vater her zu verstehen. Und so lange dieser das nicht versteht, wird er ihn –wie seine Mutter- suchen müssen. Vater Jesu ist der Gott Israels. Wo immer wir Jesus in den Evangelien begegnen, treffen wir ihn als Juden, der mitten in seinem Volk lebt. Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus ist tief verankert in der theologischen Diskurstradition Israels. Selbst in der Zahl Zwölf wird Jesus markant in die jüdische Tradition gestellt: Salomo wird mit zwölf Jahren König, Daniel und schon Samuel werden mit zwölf Jahren Propheten. Ja, es lohnt, die beiden Eingangskapitel des Lukasevangeliums im Gegen-Licht von 1.Samuel 2 zu lesen: da spannt sich ein Bogen vom Loblied der Hanna dort und der Maria hier, von Elkana zu Josef, von den Lehrenden im Tempel zu Eli bis zum Summarium: der Knabe Samuel aber wuchs heran und gewann an Gunst beim Herrn und bei den Menschen dort und der Schluss-Sequenz des Lukas über den zwölfjährigen Jesus hier: Das Kind wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte es mit Weisheit, und seine Gnade ruhte auf ihm.

Und so fragt der zwölfjährige Jesus seine Eltern: Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? In seines Vaters Haus muss er sein – nicht Menschenmacht verfügt, wohin Jesus gehört. Auch nicht Elternmacht. Ihr entzieht er sich gerade. Entzieht sich dorthin, wohin er von Geburt an gehört: inmitten des großen Weltgeschehens – in seines Vaters Haus. Er muss sein, wo ihn keiner vermutet.

Hier begegnet zum ersten Mal das göttliche Muss, mit dem Lukas uns immer wieder konfrontiert. So auch vor Jesu Gefangennahme und Kreuzigung (Lk 22,37): Ich sage euch: An mir muss sich das Schriftwort erfüllen: Er wurde zu den Verbrechern gerechnet. Das Gottesknechtslied aus Jesaja 53 klingt an. (vgl.Jes 53,12). Jesus - der Mensch, der ganz in der Bezogenheit auf Gott lebt, ja auch stirbt– ist in seinem Leben und Leiden nicht zu verstehen ohne die spezifischen Gotteserfahrungen Israels.

Selbst der christliche Osterglaube – der ja von den Jüdinnen und Juden in ihrer großen Mehrheit nicht geteilt wurde und wird – selbst der Glaube an den auferstanden Christus, kann nur auf dem Hintergrund jüdischer Gotteserfahrung ausgesagt werden. In bedrängenden Erfahrungen erkannte Israel Gott als den, der Macht hat auch jenseits der Grenze des Todes. Dessen Gerechtigkeit es nicht zulassen wird, dass die Mörder auf immer über die Opfer triumphieren. Israel vertraut darauf: Gottes Treue wird sich heilvoll erweisen. Gerade gegenüber denen, die umgebracht wurden aufgrund ihrer Treue zu ihrem Gott. Deshalb lobt das Gottesvolk Gott als den, der die Toten lebendig macht.
Nur weil im Judentum dieses sich im Lob aussprechende Vertrauen auf Gott lebendig war, konnten die Jünger Jesu die Ostererscheinungen deuten. Nur in diesem Kontext konnten sie bekennen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.

Dieser Glaube aber war es, der Menschen aus den Völkern dazu brachte, als Christinnen und Christen auf den Gott des Gottesvolkes Israel zu vertrauen.

Doch dann haben sich die Christen in verblendeter Arroganz an die Stelle Israels gesetzt – in verheerender Judenfeindschaft. Demgegenüber ist unbedingt festzuhalten: Gott hat sein Volk nie verstoßen.

Christen sind durch Christus zum Gott Israels, dem Vater Jesu Christi gekommen. Gott sei Dank. „Der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig (1886-1929) schreibt ... an seinen zum Christentum konvertierten Vetter Rudolf Ehrenberg (1884-1969): ’Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir uns einig: es kommt niemand zum Vater, denn durch ihn. Es kommt niemand zum Vater – anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden).“ (Briefe und Tagebücher I, 1900-1918, hg. v. Rachel Rosenzweig u. Edith Rosenzweig-Scheinmann 1979, 135 zitiert nach Klaus Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen, Stuttgart 1999, S.81f ) So fragt der zwölfjährige Jesus seine Eltern damals und uns Christen heute:
Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?