Verlorene Maßstäbe

Ansprache von Landesbischof Dr. Johannes Friedrich anlässlich der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier am 06. März 2010 in der Synagoge in Augsburg.


Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

im Namen der israelitischen Kultusgemeinde, bei der wir heute hier in Augsburg zu Gast sein dürfen, im Namen der Römisch-Katholischen Schwesterkirche und im Namen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern begrüße ich Sie alle sehr herzlich zu unserer heutigen Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit.

Seit 43 Jahren gibt es nun schon diese Christlich-Jüdische Gemeinschaftsfeier. Die Woche der Brüderlichkeit, die Christen und Juden seit 1952 begehen, kann auf eine noch längere Tradition zurückblicken.

Man könnte sich also fragen, ob es denn überhaupt eines solchen immer wiederkehrenden Rituals bedarf, oder ob das Verhältnis zwischen Christen und Juden nicht inzwischen so gut ist, dass wir auf diese Woche auch verzichten könnten?

Ich denke, es ist sehr wichtig diese Woche der Brüderlichkeit und ganz besonders diese Gemeinschaftsfeier weiterhin pflegen und miteinander zu begehen.

Zum einen, weil wir, Christen und Juden, sehr viel voneinander lernen können aus der jeweiligen Tradition und der jeweiligen Schriftauslegung und mit unserem gegenseitigen Lernen noch lange nicht am ende angekommen sind.

Zum zweiten, weil es leider immer noch - trotz aller enormen Fortschritte der letzten Jahre und Jahrzehnte - gegenseitige Berührungsängste, Vorurteile und Ressentiments auf beiden Seiten gibt.

Und zum dritten, weil wir aufgefordert sind, als Menschen, die an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, glauben, gemeinsam den Herausforderungen unserer immer a-religiöser werdenden Gesellschaft zu begegnen.

Die Woche der Brüderlichkeit trägt in diesem Jahr den Titel "Verlorene Maßstäbe".

Landauf, landab wird geklagt über Werteverlust, über mangelnde Moral, über zunehmende Rücksichtslosigkeit und steigende Kriminalität. Vertreter verschiedenster gesellschaftlicher und politischer Organisationen melden sich zu Wort, wenn es darum geht, aus der Misere wieder herauszukommen.

Doch oft sind die Lösungsansätze, die vorgeschlagen werden, aus meiner Sicht viel zu kurz angesetzt. Häufig wird nur an der Oberfläche gekratzt und nicht nach den Ursachen des Problems gesucht. Symptome werden behandelt, nicht aber der Kern der Problematik.

Die Ursache für Werte- und Moralverlust liegt sicherlich nicht zuletzt darin, dass unsere Gesellschaft die Maßstäbe und Werte, die wir in der jüdisch-christliche Tradition überliefert haben und auf denen unsere Gesellschaft im Wesentlichen basiert, immer mehr außer Acht lässt. Oder um es konkret zu sagen: Weil wir die Gebote Gottes missachten.

Das ist kein neues Phänomen. Die Bibel ist voller Erzählungen darüber, wie Menschen Gottes Gebote missachtet und seine Weisungen aus dem Blick verloren haben, und wie Menschen versucht haben ihre eigenen Maßstäbe und ihren eigenen Weg zu meistern – ohne Gott.

Und jedes Mal ging ein solches Unternehmen schief.

Menschen, die sich einen Namen machen und einen Turm bauen wollten, dessen Spitze bis an den Himmel reichen sollte – das Unternehmen scheiterte und die Menschen, jeder mit einer anderen Sprache, zerstreuten sich in alle Lande.

Abraham, der nicht auf Gott vertraute, sondern seine Frau Sara gegenüber dem Pharao von Ägypten als seine Schwester ausgab – Krankheit und Plagen für den Pharao und sein Haus waren die Folge.

Das Volk Israel, das nicht auf Gottes Gebot achtete und sich ein goldenes Kalb als Götzen schuf – sie mussten schmerzlich erkennen, dass sie in die Irre liefen.

Doch Gott zeigt sich – trotz aller menschlichen Missachtung seiner Maßstäbe,– als ein barmherziger und gnädiger Gott.

Er hat seinem Volk Israel und in der Folge auch uns den Dekalog, die Zehn Gebote, gegeben, in denen das Miteinander von Gott und Mensch, aber auch das Miteinander von Mensch zu Mensch in den Grundzügen geregelt ist. Eine Richtschnur, an der wir unser Leben ausrichten und orientieren können.

Orientierung, Ausrichtung, Maßstäbe. Ohne sie können wir Menschen nicht leben. Wenn wir es dennoch versuchen, gehen wir in die Irre. Das wird immer wieder in vielen Bereichen des Lebens deutlich.

Einen Maßstab, eine Orientierung haben wir in der Bibel. Der griechische Begriff Kanon, der als Oberbegriff die Zusammenstellung der biblischen Bücher bezeichnet, lautet übersetzt „Richtschnur“. Der biblische Kanon ist also eine Richtschnur für unser Leben.

Die Christen und dabei nicht zuletzt wir Protestanten haben diesen Kanon, diese Richtschnur, die uns bereits im Tanach, der hebräischen Bibel, überliefert ist, vielfach nicht genügend berücksichtigt.

Die reformatorische Erkenntnis, dass wir aus Gnade gerecht geworden sind, hatte oft zur Folge, dass Gesetz und Evangelium gegeneinander ausgespielt anstatt – so wie es Jesus getan hat – ergänzend und erfüllend nebeneinander gestellt wurden.

Gerade in der lutherischen Tradition wurde den Geboten der Hebräischen Bibel mangelnde Wertschätzung entgegengebracht. Durch die Abqualifizierung als Gesetz sind manche "Maßstäbe" verloren gegangen.

Heute bemühen wir uns neu darum, die Hebräische Bibel zu entdecken. So sehe ich beispielsweise den Entwurf der Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) im Bereich der EKD für eine neue Perikopenordnung, in der Tora, Propheten und Schriften gleichberechtigt neben Evangelium und Epistel zu Wort kommen.

Obwohl die Tora dem Volk Israel gegeben wurde, können wir Christen sie als Weisheit und als Maßstab schätzen (vgl. Dtn 5,6!).

Besonders wertvoll ist es für uns Christinnen und Christen, wenn wir gemeinsam mit Jüdinnen und Juden über die Weisungen der Hebräischen Bibel nachdenken und vielleicht neue Maßstäbe entdecken. Das tun wir während der Woche der Brüderlichkeit.

Bei diesem gemeinsamen Nachdenken ist für mich kein anzustrebendes Ergebnis, dass wir anschließend alles gleich sehen und bewerten. Vielmehr ist für mich ein wesentliches Ziel dieser Woche der Brüderlichkeit eine „versöhnte Verschiedenheit“ zwischen Juden und Christen.

Juden und Christen in Deutschland haben einen unterschiedlichen Erfahrungshintergrund, beurteilen manche Situationen unterschiedlich.
Ich muss dies akzeptieren, das müssen wir gegenseitig akzeptieren. Miteinander kommunizieren bedeutet dann nicht, den anderen zu überzeugen versuchen, sondern zu verstehen, warum er oder sie, hier anders denkt, reagiert, empfindet, fühlt.

Andere in ihrer Verschiedenheit zu achten, bedeutet, sie in ihren Stärken und ihren Schwächen zu sehen und sie in beidem zu respektieren und zu achten.

Zur Akzeptanz des Anderen gehört aber auch, dass ich zu meiner eigenen Meinung, meiner Haltung, meinen Gebräuchen stehe und diese auch vertrete. Ich habe in Israel und neulich auch hier in Deutschland Christen getroffen, die der Meinung waren, wir müssten als Christinnen und Christen wie die Juden vom Meschiach sprechen, der erst noch kommt, am Shabbat den Ruhetag halten und ähnliches. Das ist in meinen Augen kein Ernstnehmen des anderen in seiner Verschiedenheit. Denn so wie ich den anderen in seiner Verschiedenheit ernst nehmen möchte, so möchte ich in meinem Anderssein ernst genommen werden.

Es ist ein weites Feld, auf dem wir uns da bewegen, und ich behaupte, wir alle haben in unserem Bekanntenkreis, in unserer Nachbarschaft viel zu tun, um hier die Meinungen und die Einstellungen zu ändern. Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, dass sich zwischen Christen und Juden in unserem Land so etwas wächst wie „versöhnte Verschiedenheit“.

Austausch, Respekt vor der Meinung des anderen und die Bemühung um ein friedliches Miteinander, daran können wir miteinander arbeiten. Dafür können wir uns gemeinsam einsetzen, damit verloren gegangene Maßstäbe wieder ins Zentrum unseres Blickfelds und in das Blickfeld unserer Gesellschaft kommen.

So wünsche ich uns für die Woche der Brüderlichkeit und ganz besonders für unseren heutige gemeinsame Feier Gottes reichen Segen und seine Gegenwart

Gott sei bei uns. Lasst uns IHM unsere Pforten und Türen, unsere Ohren und unsere Herzen öffnen, damit er mitten unter uns sei.