"Ein großes Familientreffen"

Zum ersten Mal hat in Augsburg am Samstagabend die zentrale jüdisch-christliche Gemeinschaftsfeier zur „Woche der Brüderlichkeit“ in einer Synagoge stattgefunden. Nachfolgend dokumentieren wir die dabei gehaltene Ansprache von Bischof Dr. Walter Mixa.


Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde!

Bewusst habe ich diese Anrede gewählt. Denn wir sind heute hier zusammengekommen zu einem großen Familientreffen. Ich freue mich, dass Herr Landesrabbiner Dr. Henry Brandt uns die Türen der Synagoge geöffnet hat, so dass Herr Landesbischof Dr. Johannes Friedrich und ich als Vertreter der „jüngeren Geschwister“ im Haus des Bundesvolkes zu Gast sind und das Wort ergreifen dürfen. Gemeinsam betrachten wir Worte aus den heiligen Büchern und bringen Gott unsere Lobgesänge und Dankgebete dar. Denn Großes hat der Herr an uns getan. Er ist es, der uns Menschen ein Maß setzt und dadurch unserem Leben ein Ziel gibt.

Lassen Sie mich beginnen mit einer Aufschrift, die sich an der Wand eines Kellers in Köln findet, in dem sich während des Zweiten Weltkriegs Juden versteckt hielten. Dort lesen wir:

Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.
Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.

Wenngleich diese Worte immer wieder auf Spruchkarten gedruckt werden und Trost spenden, dürfen wir die Zeilen nicht zähmen. Wir können ihnen nur Respekt zollen. Und mit den Juden von Köln zollen wir auch allen Respekt, die für die Gestaltung der Woche der Brüderlichkeit Verantwortung übernommen haben. Das gilt für den Bereich Augsburg ebenso wie für die nationale Ebene, die in diesem Jahr bei uns zu Gast ist. Die Woche der Brüderlichkeit ist mehr als eine Tradition. Sie ist ein Ausrufezeichen in unserer Zeit, der es mitunter das Maß verzieht. Deshalb ist das Thema hoch aktuell: Verlorene Maßstäbe.

Als vor zehn Jahren, am 26. März 2000, Papst Johannes Paul II. die Klagemauer besuchte, hat er auf ein dunkles Kapitel angespielt, das die Geschichte zwischen Juden und Christen überschattet. Er sprach damals Worte, die sich tief in unsere Herzen einprägten: „Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen: Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“

Diese Worte haben die Herzen berührt. Sie bleiben unvergessen. Hinter diese Worte dürfen wir nicht zurück. Wir erinnern uns an dunkle Zeiten, im Angesicht des sicheren Todes, an Ghetto, Kerker und KZ. Wer hätte gedacht, dass wir einmal beisammen sind in der Synagoge, gemeinsam feiern und miteinander nachdenken, wie wir Zukunft bauen können! Ich möchte in diesem Zusammenhang an Ignaz Bubis erinnern, der sich zeitlebens als Brückenbauer verstand. Er wollte Juden das Leben in Deutschland wieder selbstverständlich machen. Er wollte nicht Jude oder Deutscher sein, sondern Jude und Deutscher: Judentum sei kein nationaler Prägestempel, sondern eine Glaubensfrage, so hat er sich geäußert. Er hat das Gespräch mit Andersdenkenden gesucht, auch wenn er dabei Enttäuschungen und Rückschläge hinnehmen musste. Doch er hat sich nicht aus der Welt hinausgeträumt, er hat sich für eine realistische Versöhnung engagiert. Damit hat er Maßstäbe gesetzt.

Nur wer Realist ist, glaubt an Wunder. Wir dürfen unsere Augen nicht verschließen vor dem, was vor sich geht. Nur wer sich erinnert, was gestern wirklich war, hat Visionen für morgen. Doch wer die Vergangenheit verklärt und die Geschichte verbiegt, läuft Gefahr, sich funktionalisieren und instrumentalisieren zu lassen.

Dass wir alle heute hier sind, zeigt: Jenseits der kulturellen, nationalen, religiösen und konfessionellen Unterschiede, die wir nicht verschweigen, bringen wir uns gemeinsam ein - Christen und Juden – , um unsere Gesellschaft zu formen und zu schützen, dass sie Maßstäbe wahrt und wiedergewinnt, die dem Menschen würdig sind. Unser gemeinsames Maß ist die Würde eines jeden Menschen, weil er Mensch ist.

Als Christ bewundere ich am Judentum die brillante Prägnanz der Auslegung der Tradition, die unauslöschliche Identität der Gemeinschaft - Jahrhunderte lang erprobt und durch das oft harte Schicksal gestärkt - , das Ohr ganz nah an der Geschichte, kurz: die reiche und stolze Kultur der wachen Erinnerung, die durch alle leidvollen Prüfungen hindurch in die Freiheit führt und dem Leben Maß und Ziel gibt. Und nicht selten staune ich über den trockenen Witz, der sich in Selbstdistanz übt und hinter allem Lachen immer auch eine Träne zum Vorschein kommen lässt.

Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam ernst nehmen, was die Stunde geschlagen hat: Wer das Maß verloren hat, dem fehlt auch das Ziel. Papst Benedikt XVI. hat es bei seinem Besuch in Auschwitz am 28. Mai 2006 treffend auf den Punkt gebracht: „Die Machthaber des Dritten Reiches wollten das jüdische Volk als ganzes zertreten. Im tiefsten wollten sie mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maßstäbe des Menschseins aufgerichtet hat.“

Liebe Schwestern und Brüder, wer sich von Gott kein Maß setzen lässt, der läuft Gefahr, maßlos zu werden. Er kennt keine Grenzen mehr. Er spielt sich auf wie ein Titan. Deshalb müssen wir wie in einer guten Familie als Geschwister aufeinander Acht geben. Wir wollen aufeinander aufpassen, damit keinem etwas zustößt. Wir stehen zusammen und halten zusammen. Wir lassen voneinander nicht. Das sind wir einander als Geschwister schuldig. Ich wünsche uns „Schalom“! Dass Friede sei und Wohlergehen, Zusammenhalt und Miteinander. Schalom!