"Angst überwinden - Brücken bauen" - Gebete sind die biblische Brücken

Ansprache von Prof. Dr. Rabbiner Andreas Nachama, jüdischer Präsident des DKR, während der Gemeinschaftsfeier zur Eröffnung der WdB am 10. März 2018 in der Christuskirche in Recklinghausen


Lieber Brüder und Schwestern:

Im Psalm 27,1 lesen wir:

"Der HERR ist mein Licht und mein Heil,
vor wem sollte ich mich fürchten (ir'ah)?
Der HERR ist meines Lebens Zuflucht,
vor wem sollte ich erschreckend (efchad)?"

Der Leitspruch der Wochen der Brüderlichkeit 2017 "Angst überwinden – Brücken bauen" hat biblische Qualitäten, aber er stammt nicht aus dem Buch der Bücher, sondern aus Präsidiums- und Vorstandssitzung des Deutschen Koordinierungsrates der christlich-jüdischen Gesellschaften. Auch hat der Preisträger Peter Maffay hat den KARAT-Titel "Über sieben Brücken musst Du gehen" nicht nur zu einem Hit gemacht, sondern sprichwörtlich werden lassen. Aber nur sehr bedingt lässt beim Songtitel oder dem Leitspruch eine traditionelle jüdische Predigtmeditation im Sinne des "Dwar Tora", eines Wortes aus der Tora, sei es das Fünfbuch, sei es mündliche Tora, also der Talmud, und die diese Kern des Judentums begleitende Traditionsliteratur von Midrasch, über Raschi bis R'Samson Rafael Hirsch, R'Joseph Hermann Hertz oder Gunther Plaut aufbauen. Es eignet sich eher für eine Predigt in der Tradition eines pastoralen Wortes, das assoziativ mit den Worten und der Idee des Leitspruches umgeht.

Was versteht unsere Bibel unter Angst?

Das hebräische Wort Jir'ah ist Angst, Furcht vor den Gewalten der Natur.

Hier ein Beispiel dafür:
Weil Abram fürchtete, die Ägypter könnten ihn um der Schönheit seiner Frau willen, töten, animierte er Sarai sich als seine Schwester auszugeben. (Genesis 12, 10-19)

Wir lesen in Genesis 21,17:
"17 Gott aber hörte die Stimme des Jungen. Da rief der Engel Gottes der Hagar vom Himmel zu und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht(al tri'i)! Denn Gott hat auf die Stimme des Jungen gehört, dort wo er ist."

Furcht wird oft in de Bibel nicht verbalisiert, sondern beschrieben. Die hierfür berühmteste Stelle ist Genesis 50,15 f., wo sich die Brüder Josephs nach dem Tod ihres Vaters Jakob fürchten, Joseph könnte nun Rache an ihnen nehmen.

Bei Jesaja lesen wir:
"25 Und <auf> alle Berge, die mit der Hacke behackt werden, dahin wirst du nicht kommen aus Furcht vor Dornen und Disteln (Jir'at schamir waschjit). Und sie werden ein Ort sein, an den man Rinder treibt und der von Schafen zertreten wird."

5 Moses 4,10 nutzt das gleiche Wort (Jir'ah), führt Furcht weg vor der Angst der natürlichen Gewalten, vielmehr hin in einen anderen Kontext, nämlich nicht mehr der persönlichen Furcht oder Angst, sondern der Gottesfurcht:

"10 An dem Tag, an dem du vor dem HERRN, deinem Gott, am Horeb standest, als der HERR zu mir sprach: »Versammle mir das Volk, dass ich sie meine Worte hören lasse, die sie lernen sollen, um mich zu fürchten (L'jir'ah oti) all die Tage, solange sie auf dem Erdboden leben, und die sie ihre Kinder lehren sollen!"

Eine völlige Fehlanzeige jedoch muss zum Wort Brücke oder Brücken bauen gezogen werden. "… über sieben Brücken musst Du gehen…" Es gibt keine biblischen Brücken. Wohl aber talmudische – nicht in großer Zahl, aber immerhin einige.

In BT Schabbat 32a lesen wir, dass Frauen bei der Geburt eines Kindes also in einer in damaliger Zeit lebensgefährlichen Situation auf mögliche Übertretungen hin von Gott geprüft werden. "Wann findet die Untersuchung bei Männern statt? […] Wenn sie eine Brücke überschreiten. D.h. das Überschreiten einer Brücke wurde genauso gefährlich eingeschätzt, wie die Geburt eines Kindes. In anderen Worten: Brücken zur Zeit des Talmud hatte offenbar ein Einsturzproblem.

Eine andere Geschichte (BT Moed Katan 25b) handelt von einer Brücke, über die die Trauerprozession von Rabbi ben Hona und Rabbi ben Hamnuna, die zur gleichen Zeit verstorben waren, zu passieren hatte. Die Esel blieben vor der Brücke stehen. Dann wurde festgelegt, wer von den beiden Toten zuerst über die Brücke gebracht werden sollte, um zu vermeiden, dass beide im Fall einer Havarie abstürzen würden.

Die biblische Welt denkt gelegentlich in anderen Kategorien als wir. Angst, Furcht und Schrecken wurden von den Betroffenen ausgesprochen und angenommen. Die biblischen Lösungen hießen nicht Brücken bauen, sondern Gebete sprechen für Jakob in Furcht vor Esau (Genesis 32,10, laut klagen wie Hagar in der Wüste, damit Gott sie hört (Genesis 21,17), nicht auf Gottes Hilfe bauen, sondern lügen, wie zu Beispiel Abram (Genesis 12, 10-19), den verstorbenen Jakob mit einer nichtbelegbaren Aussage zitieren, wie die Brüder Josephs,  den Störenfried über Bord werfen wie die Schiffsleute es mit Jona taten (Jona 1,16). Ich würde postulieren:
Gebete das sind auch im übertragenen Sinn die biblischen Brücken.

Dass Brücken nicht nur in biblischer Zeit einstürzen, belegt das schreckliche Unglück vom Juni 2016, als eine Autobahnbrücke in Bayern einstürzte und Menschen zu Tode kamen.

Aber ich gehe davon aus, dass unsere Diskussion im Präsidium und Vorstand des DKR mit seinem Leitspruch den Abbau der Angst vor Fremden und das Brückenbauen zu ihnen im Blick hatte.

Der Umgang mit dem Fremden  wird allein in Tora an 53 Stellen zitiert. Wie wichtig der Schrift der Umgang mit Fremden ist, wird allein an der großen Zahl der Zitate deutlich: 53 Textstellen in den fünf Büchern Moses!

Schabbat hingegen, Abschluss und Höhepunkt der göttlichen Schöpfungsgeschichte und der das Leben frommer Juden prägenden Woche, wird nur an 24 Stellen behandelt.

Nun wird in unserem Land von Grenzen gesprochen.
D i e  Mauer ist weg, aber wir wollen Grenzen stärken, um Frieden zu haben. Frieden!
Auf Hebräisch ist das Schalom! Kommt vom schönen hebräischen Wort Schalem – das Ganze. Schalom hat man der biblischen Tradition gemäß nur, wenn man auch bedenkt was auf der  anderen Seite der Grenze passiert, wenn man das Ganze im Blick hat.
Frieden – kommt vom einfrieden – einzäunen. Der Friedhof ist ein eingezäunter Platz.

Nicht der Nationalstaat mit seinen scharfen Grenzen hat Europa Frieden gebracht, wenn man so will, lag am 8. Mai 1945 ganz Europa in Schutt und Asche, das war das Ende der Nationalstaaten – heute fahren wir durch ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural nicht durch Germania oder das Gebiet einer Andren Hegemonialmacht, sondern durch ein Europa der Vaterländer, wie Helmut Kohl gesagt hätte oder ein Europa der Regionen.

Was war das Erfolgskonzept?  
Die Gründer des modernen Europa haben Angst überwunden!

Als vor 69 Jahren die ersten Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit als erste Bürgerinitiative Deutschlands gegründet wurden, war die angestrebte Geschwisterlichkeit zwischen Juden und Christen angesichts des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden von im wesentlichen christlich geprägten Deutschen eine Utopie, die eben genau den diesjährigen Leitspruch zur Grundlage gehabt haben könnte: Angst überwinden, Brücken bauen. Rückblickend kann man sagen, es ist damals gelungen, und so sollte es auch wieder gelingen, egal wie fragil die Brücken auch sein mögen, wir sollen es wagen sie zu bauen und zu betreten.

Oder wie unser Psalm 27 in seinen Schlussversen betend unsere gemeinsame christliche jüdische Brücke formuliert:

13 Ich glaube aber doch,  
dass ich sehen werde die Güte des HERRN im Lande der Lebendigen.
14 Harre des HERRN!
Sei getrost und unverzagt und harre des HERRN!

AMEN!