"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Gemeinschaftsfeier

Ansprache zum Thema von Rabbiner Prof. Dr. Andreas Nachama bei der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier zur Woche der Brüderlichkeit am 9.3.2019 im Historischen Rathaus-Saal, Nürnberg



Moses Mendelssohn übersetzt:
"Das ewige Wesen, Gott, rief Adam
und sprach zu ihm 'Wo bis du?'"

Martin Buber übersetzt:
"ER, Gott, rief den Menschen an
und sprach zu ihm
Wo bist du?"

Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt:
"Da rief Adonaj, also Gott, den männlichen Menschen herbei
und sagte zu ihm 'Wo warst du?"

Mensch, wo bist Du,
ist die rhetorische Frage Gottes, nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen haben und sich im Paradies verstecken, so als könnte Gott, der Allmächtige sie nicht sehen. Die Übersetzung in gerechter Sprache geht von der Vorstellung aus, dass das Verstecken nur solange währen konnte, bis Gott ihn anrief, denn Gott weiß, wo er ist – also es ging nur um die Bestimmung der Vergangenheit bis zu dem Augenblick, wo Gott ihn rief. Wie sang Hilde Knef – „Doch wenn im Fall des Falles, er sich im Dunkeln versteckt, der liebe Gott sieht alles und hat ihn längst entdeckt…“

Warum ruft Gott nicht die Frau, sondern den Mann?  fragt die jüdische Tradition und gibt darauf eine Antwort, die vielleicht auch feministische Theologen überzeugen könnte: Die Rabbiner sagen nämlich, Gott hat Adam instruiert nicht von dem Baum zu essen, die Frau weiß es in diesem Fall nur mittelbar.

Schöner noch ist jene Erklärung, die aus diesem Anruf eine Regel macht: Die Rabbiner sagen, auch wenn man in das Haus eines Freundes ohne dessen Aufforderung eintritt, macht man sich vorher durch einen Anruf oder durch ein Klopfen bemerkbar. So sagen die Rabbiner, Gott, der Allgegenwärtige, stand am Eingang des Garten Eden, und rief Adam an, damit er sich nicht durch Gottes plötzliche Präsenz erschrecke.

Martin Buber erzählt hierzu eine wunderbare Geschichte:
Wo bist du?
"Als Rabbi Schnur Salman, der Raw von Reußen, weil seine Einsicht und sein Weg von einem Anführer seiner Gegner (der Mitnagdim) bei der Regierung verleumdet worden waren, in Petersburg gefangen saß und dem Verhör entgegensah, kam der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle. Das mächtige und stille Antlitz des Raw, der ihn zuerst, in sich versunken, nicht bemerkte, ließ den nachdenklichen Mann ahnen, welcher Art sein Gefangener war.

Er kam mit ihm ins Gespräch und brachte bald manche Frage vor, die ihm beim Lesen der Schrift aufgetaucht war. Zuletzt fragte er: 'Wie ist es zu verstehen, dass Gott der Allwissende zu Adam spricht: 'Wo bist du?' – 'Glaubt Ihr daran', entgegnete der Raw, 'dass die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr beschlossen sind?' – 'Ich glaube daran', sagte er. 'Nun wohl', sprach der Zaddik, 'in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: 'Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?' So etwa spricht Gott: 'Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?' Als der Oberste die Zahl seiner Lebensjahre nennen hörte, raffte er sich zusammen, legte dem Raw die Hand auf die Schulter und rief: 'Bravo!' Aber sein Herz flatterte."  Wir wissen, der Raw kam mit Hilfe dieses Mannes bald frei.

Rabbi Obadja Sforno, (Cesena, Italien 1470 – Bologna, 1550)
versteht die Textstelle so:
"Warum versteckst Du Dich, Das hast Du doch noch nie gemacht…"

Raschi, das ist Rabbi Schlomo Yizchaki Troyes 1040 – 1105 – dazwischen lebte er einige Zeit in Worms – Raschi, der große mittelalterliche Exeget, der den Text gerne im gemeinen Wortsinn verstehen wollte, erklärt das unter Hinzuziehung ähnlicher Textstellen so:

"Wo bist du?"
Gott kannte seinen Aufenthalt und wollte nur mit ihm ein Gespräch beginnen, dass er nicht zu bestürzt sei, zu antworten, wenn Gott ihm plötzlich seine Strafe verkündete.

Dann erklärt Raschi weiter:
Ebenso sagte Gott zu Kain, (nachdem er seinen Bruder ermordet hatte) 'wo ist dein Bruder Abel', aber Gott hatte längst gewusst, dass er ihn ermordet hat.

Ebenso sprach Gott zu Bileam, dem nichtisraelitischen Weissager  (4 Mos 22,9), wer sind diese Männer bei dir, um mit ihnen ein Gespräch zu beginnen, und wusste doch ganz genau, dass sie Abgesandte des Moabiterkönigs Balak waren.

Ebenso sprach Jesaja, der von Gott ins Bild gesetzte Prophet, zu König Chiskia wegen der Gesandten von Merodach Baladan, die Kundschafter zum Ausrauben der Schätze des Königs waren. (Jes. 39, 3).

Was bedeutet das für unser Motto:

Mensch, wo bist du?

Es könnte bedeuten, dass man wissen könnte, wer der wirkliche Mensch ist.

Samson Rafael Hirsch hätte gesagt, der „Jisroel Mensch“ ist der, der die 613 Ge- und Verbote hält, der ein gottgefälliges leben führt.

Und wir? Können wir wissen, Mensch, wo bist du?

Vielleicht sind es jene „Gerechte unter den Völkern“, die in Yad Vaschem mit ihrem Namen und einem Lebensbaum geehrt werden, weil sie ihr eigenes Leben eingesetzt haben, um ein bedrohtes jüdisches Leben in der Zeit der Schoa zu retten?

Vielleicht  sind es aber jene, die heute einschreiten, wenn Juden bedroht werden: Wir haben gerade wieder gelesen, wie kritisch die Situation der Juden in Frankreich ist, jenem Land, das durch seinen Ruf, Liberté, Égalité, Fraternité - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, der auf den Losungen der Französischen Revolution von 1789 fußt, Europa, uns allen die bürgerliche Freiheit eröffnet hat.

Nach der Schoa war es eigentlich mehr eine rhetorische Frage, Mensch, wo bist Du – denn man wusste sehr wohl, dass nicht die Frage, wo Gott in Auschwitz war, zu stellen ist, sondern die Frage: Mensch, wo warst du! Der Weg in die entgrenzte Gewalttätigkeit begann da, wo Juden als Nachbarn angefeindet, misshandelt, ausgegrenzt wurden und es niemanden außer den Opfern und den ihnen Nahestehenden wirklich störte. Es war eine Gesellschaft, die achselzuckend Freiräume für Gewalttaten entstehen ließ: der Weg der Opfer begann in der Nachbarschaft. Mensch, wo warst Du?

Achselzuckend wurde der NS-Terror hingenommen, es trifft ja nicht mich. So nimmt die Welt seit Jahrzehnten völlig entgrenzte antiisraelische Gewalttätigkeit gegen jüdische Einrichtungen achselzuckend zu Kenntnis und wundert sich, dass dieser geduldete Hass jetzt auch in Paris, in Nizza, in Berlin auf dem Breitscheidplatz sich gegen alle richtet.

Gemeinsam gegen Judenfeindschaft – ja, nur gemeinsam werden wir etwas ausrichten können gegen Hass und Sadismus, gegen alles, was unmenschlich ist. Der Mensch wurde im Abbild Gottes geschaffen, in jedem Menschen steckt ein Stück Göttlichkeit – jeder Mord ist ein Anschlag auch auf IHN, den Immerwährenden.

Der leider viel zu früh verstorbene Rabbiner Steven Schwarzschild hat bei einer Predigt in der Synagoge Pestalozzistraße anlässlich des 300. Jubiläums der jüdischen Gemeinde zu Berlin 1971 den damals achselzuckend zur Kenntnis genommenen antiisraelischen Terrorismus gegen jüdische Einrichtungen weltweit angesprochen und festgestellt, dass es in arabischen Staaten nur noch extrem wenig Juden gibt, aber eine sichtbare große Zahl von Christen. "Wir Juden blasen das Schofar des Nahenden und sich wieder nähernden Unheils." Und dann hat er geschlussfolgert: Heute wird der Terror gegen jüdische Einrichtungen hingenommen, wird die Delegitimierung des Staates Israel mit menschenrechtlichen Positionen begründet, aber dass zwischen Bosporus und Straße von Gibraltar Menschenrechte für Andersgläubige nicht einmal als Silberstreif am Horizont erkennbar sind, wird klaglos hingenommen. Als Zeitungsleser würde ich sagen: Der Hass, der in den letzten Jahrzehnten aus der arabischen Welt in die  Welt getragen wurde, zerfetzt längst seine eigenen Protagonisten: Wie viele Staaten in diesem Teil der Welt haben keine Regierung mehr, an die Stelle von Nationalismus ist Tribalismus getreten, oft sind die Ministerpräsidenten gerade noch die Bürgermeister der ehemaligen Hauptstadt.

Hass ist keine Option, sondern immer ein die Hassenden selbstzerstörendes Gift. Wer heute Juden befeindet, wird morgen auch andere ausgrenzen und befeinden. Mit Rabbiner Schwarzschild (S"L) könnte man sagen: Morgen wird es die treffen, die heute achselzuckend teilnahmslos gewähren lassen.

Mensch, wo bist Du?
Wir sollen uns nicht verstecken! Wir sollen gemeinsam gegen Judenfeindschaft handeln.

Abraham Joshua Heschel, der große jüdische Religionsphilosoph der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts sagt zu dieser Textstelle: "Schwerwiegender als Adams Essen von der verbotenen Furcht war, dass er sich anschließend vor Gott versteckte, nachdem er gegessen hatte. So ist der Mensch. Er versteckt sich, er flieht, er hat ein Alibi. Gott ist weniger entfernt, als wir denken. Wenn wir uns nach Gott sehnen, schwindet seine Ferne."

Lasst uns gemeinsam handeln!
z.B. gegen Judenfeindschaft

Dann braucht niemand zu fragen: „Mensch, wo bist Du?“