"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Laudatio

Laudatio auf die Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2019 von Sawsan Chebli, Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement



Herr Bundespräsident,
meine Damen und Herren,

ich gebe zu, ich stehe hier mit gemischten Gefühlen: Einerseits ist es mir eine große Ehre, anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille zum Auftakt der Woche der Brüderlichkeit zu Ihnen zu sprechen. Andererseits empfinde ich Trauer und auch Scham, dass wir heute – im Jahr 2019 – in einem Land, in dem das größte Menschheitsverbrechen an Jüdinnen und Juden begangen wurde, darüber sprechen müssen, wie wir den wachsenden Antisemitismus bekämpfen können.

Dann schaue ich wiederum auf die beiden Preisträger, auf die ich die Laudatio halten darf, und muss sagen: Ich bin zuversichtlich.

Einen der beiden Preisträger kenne ich aus vielen Jahren engster Zusammenarbeit in Berlin sehr gut: die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, kurz KIgA.

Dass KIgA diesen renommierten Preis in diesem besonderen Rahmen bekommt, das rührt mich zutiefst. Wie oft habe ich mich bei all dem Hass, den wir in letzter Zeit spüren und der sich auch in enthemmtem Antisemitismus entlädt, gefragt: Bringt die ganze Arbeit überhaupt etwas? Und nicht selten habe ich dann zum Hörer gegriffen und mit Dervis Hizarci, dem Vorsitzenden von KIgA, gesprochen. Dieser hat dann nicht nur die richtigen Worte gefunden, sondern hatte auch noch tausende Ideen, was wir alles tun können, um Hass, Hetze und Antisemitismus die Stirn zu bieten.

Lieber Dervis, liebe Engagierte, vielen Dank für die unglaublich wertvolle Arbeit, die Ihr jeden Tag auch ehrenamtlich leistet. 

Es ist schön zu erleben, wie KIgA mitten im bunten Berlin-Kreuzberg, ohne Scheuklappen und mit Neugier aufeinander, für eine Gesellschaft kämpft, in der alle ihren Platz haben, ganz gleich an welchen Gott sie glauben, woher sie stammen, wie sie sich kleiden. Nur einer Haltung bieten sie keinen Raum: nämlich Antisemitismus und der Ausgrenzung von Minderheiten.

Was mich als jemanden, die sich auch aus persönlichem Antrieb mit dem Antisemitismus unter Muslimen befasst, an Eurer Arbeit ganz besonders fasziniert, ist, dass es Euch immer um das Schaffen von Verständnis füreinander geht, um das Hineinversetzen in die Lage des Anderen, den anderen Blickwinkel, die andere Perspektive. Nicht mit erhobenem Zeigefinder, nicht durch Stigmatisierung, sondern über Empathie, Verständnis und Beteiligung wirkt Ihr gegen Antisemitismus. Dieser Ansatz ist das Elixier Eurer Arbeit.

„Anders Denken“, so lautet exemplarisch auch der Titel eines Eurer Projekte, das Materialien für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit an Schulen bereitstellt, um bereits in der Schule die Schülerinnen und Schüler für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren. Hieraus hat sich die zentrale Anlaufstelle „Praxisstelle Bildung und Beratung“ entwickelt – ein enorm wichtiger Knotenpunkt in der Antisemitismusarbeit an Schulen, der vom Berliner Senat seit 2018 gefördert wird.

Doch die KIgA blickt noch weiter, denn neben den Schulen sind auch die Quartiere im Kiez wichtige Sozialisationsräume. Um den Gefahren einer Radikalisierung in verschiedenen Richtungen, so in Richtung Islamfeindlichkeit, Antisemitismus oder auch religiösem Fanatismus zu begegnen, begleitet KIgA lokale Akteure und entwickelt Präventionskonzepte, um im Sozialraum selber zu schulen. Ihr arbeitet eben nicht mit der Gießkanne und allgemeingültigen Konzepten, sondern bemüht Euch um den Dialog mit den Menschen, die vor Ort Kompetenzen haben.

Ich danke KIgA von Herzen auch für den Einsatz in dem Arbeitskreis gegen Antisemitismus, den ich Ende 2017 ins Leben gerufen habe. Eure Kreuzberger Erfahrungen, vor allem was Antisemitismus unter Muslimen angeht, sind wertvolle Impulse für Berlin als Ganzes. Vieles von dem, was wir im Arbeitskreis erarbeitet haben, wird sich nächste Woche im neuen Berliner Landeskonzept zur Antisemitismus-Prävention wiederfinden. Und ich freue mich, lieber Dervis, auf das nächste gemeinsame Projekt, unsere gemeinsame Veranstaltungsreihe „Tu was gegen Antisemitismus“, in der es darum geht, die Zivilgesellschaft, vor allem junge Menschen mit und ohne Migrationserfahrung, noch stärker für den Kampf gegen Antisemitismus zu sensibilisieren.

KIgA, eine Initiative, die 2003 eher klein in einem Kreuzberger Kiez begonnen hat, um dann eine unglaubliche Reichweite zu entfalten und ein Renommee zu erlangen, das heute weit über Berlin und Deutschland hinausstrahlt, ist heute ein unverzichtbarer Partner für uns im Kampf gegen Antisemitismus. Die vielen Auszeichnungen sprechen eine deutliche Sprache. Heute kommt eine wichtige hinzu, um Euch zu sagen: Bitte macht weiter! Wir brauchen Euch!

Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, ich freue mich jetzt, die Arbeit des zweiten Preisträgers würdigen zu dürfen. Es ist das Netzwerk für Demokratie und Courage.

Auch Sie, liebe Aktive in diesem Netzwerk, sind schon sehr lange aktiv – in diesem Jahr feiern Sie das 20jährige Jubiläum. Und Sie tun es zu Recht. Sie machen sich für Demokratie und Courage in zwölf Bundesländern und in Frankreich für eine demokratische Kultur stark und engagieren sich gegen menschenverachtendes Denken. Jugendverbände, zivilgesellschaftliche, staatliche Organisationen und auch Einzelpersonen haben sich hier zusammengeschlossen, um „für Demokratie Courage zu zeigen“. Wann wenn nicht jetzt ist die Stunde, in der wir genau solche Initiativen brauchen, meine Damen und Herren!

Und Sie überzeugen, indem sie für die gute Sache auf Menschenfang gehen und das meine ich ganz praktisch. Auf Projekttagen, Seminaren, Fortbildungen bilden sie junge Menschen zu Themen wie Diskriminierung, Rassismus, Flucht, Asyl, Sexismus und Antisemitismus aus, um sie als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu gewinnen. Sie beraten Schulen, Bildungseinrichtungen, Vereine und Verbände bei der Demokratiearbeit, beim Umgang mit Hatespeech im Internet und bei der Sensibilisierung der Menschen gegenüber Rassismus und menschenverachtende Einstellungen. Sie haben über die Zeit ihren Radius enorm erweitert. Auch Einrichtungen, die inklusiv lernen und lehren, gehören zu ihren Anlaufstellen. Sie schaffen mit ihrer Arbeit so ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Demokratiestrukturen, deren Knoten immer weiter zunehmen und so immer dichter werden und an Kraft gewinnen. 

Das ist großartig und um es mal in Zahlen zu sagen: Seit seiner Gründung hat das Netzwerk für Demokratie und Courage sage und schreibe rund 4.200 Teamerinnen und Teamer ausgebildet, die in diesem Zeitraum Hundertausende Projekttage ehrenamtlich umgesetzt haben. Dadurch konnten seit der Entstehung des Netzwerks mehr als 450.000 Schülerinnen und Schüler erreicht werden. Was für unglaubliche Zahlen. Alle diese Menschen sind Hoffnungsträger und Vorbilder für unsere Gesellschaft. Sie können wahrlich stolz darauf sein, liebe Aktive vom Netzwerk für Demokratie und Courage, was Sie in den knapp 20 Jahren geschaffen haben.

Beide Initiativen, die heute ausgezeichnet werden, machen es uns auf großartige Weise vor: Der Kampf und der Einsatz lohnen sich, es lohnt sich, sich Menschen zuzuwenden und trotz unterschiedlicher Meinungen mit ihnen in den Dialog zu kommen und zu bleiben, um sie für den Blick des Gemeinsamen zu gewinnen. Meine tiefste Überzeugung ist: Wenn wir erkennen, was uns verbindet, wird das Trennende schwächer.

Und lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken formulieren, zu dem mich auch die Arbeit unseres heutigen Preisträgers KIgA inspiriert hat: Wenn wir uns heute fragen, wie wir Antisemitismus wirksam bekämpfen können, kreisen unsere Gedanken um die Frage, wie wir die Lehren aus unserer Geschichte noch besser vermitteln können. Ich will diesem Gedanken nicht widersprechen – im Gegenteil: Historisch-politische Bildung ist wichtig, dafür kann man nicht genug tun und alle, die sich dafür engagieren – in Schulen, Jugendclubs und vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen – verdienen unsere volle Unterstützung. Ich werbe darüber hinaus aber auch dafür, dass junge Menschen unabhängig von der Herkunft ihrer Eltern und Großeltern die Chance bekommen, ihren eigenen Zugang zu der NS-Geschichte dieses Landes finden, und zwar durch den Besuch von Gedenkstätten. Wer einmal an einem dieser Orte des Schreckens war, in Auschwitz, Bergen-Belsen oder auch Sachsenhausen ganz in der Nähe Berlins, sich darauf vorbereitet und eingelassen hat, der wird mir zustimmen: Eine solche Begegnung mit der grauenvollen Geschichte der Shoa an einem der authentischen Orte des Geschehens verändert etwas in einem. Man denkt über das Menschsein nach. Über die Würde. Die eigene Identität, die eigene Verantwortung dafür, dass es nie wieder geschieht, und zwar auch dann, wenn man Kind palästinensischer Flüchtlinge, türkischer Gastarbeiter oder selbst Opfer von Kriegsverbrechen ist.

Ich finde – und damit schließe ich: Alle sollten ein Recht haben, diesem wichtigen Kapitel unserer Geschichte auf möglichst eindringliche Weise zu begegnen. Nicht nur die Kinder der bildungsbürgerlich sozialisierten Mittelschicht, sondern auch diejenigen, die mit ihren Eltern erst vor kurzem zu uns geflohen sind oder auch diejenigen, denen die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht familiär in die Wiege gelegt wurde. Das hat etwas mit Teilhabe zu tun. Teilhabe an unserer Gesellschaft, Teilhabe an einem Fundament unserer Demokratie, die ja die historische Antwort auf die Katastrophe des Nationalsozialismus ist. Um meinen Beitrag zu leisten, besuche ich im Mai dieses Jahres mit einer Schulklasse die Topographie des Terrors und fahre anschließend gemeinsam mit ihnen nach Auschwitz. Alle haben ein Recht auf Teilhabe an der Erinnerungskultur.

„Mensch, wo bist Du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft“ – mit dieser Frage, mit diesem Apell eröffnet die Woche der Brüderlichkeit: Mit Blick auf die beiden Preisträger – die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus und das Netzwerk für Demokratie und Courage – und wenn ich mich hier im Raum umschaue, können wir heute sagen: Hier sind wir – hier sind viele, die sich engagieren. Sie sind die Hoffnungsträger unserer Gesellschaft und sie werden noch viele anstecken. Diese Zuversicht brauchen wir ALLE für unsere Arbeit. Sie und wir gemeinsam mit ganzer Kraft. Ich danke Ihnen. 

Es gilt das gesprochene Wort.