"Angst überwinden - Brücken bauen" - Erinnerung ist die Brücke, die Ängste abbaut und Neues aufbaut

Predigt von Bischof Dr. Felix Genn während der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier zur Eröffnung der WdB am 10. März 2018 in der Christuskirche in Recklinghausen



Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

auch über 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des furchtbaren Holocaust, müssen wir zu Recht darauf hinweisen, dass es antisemitische Strömungen gibt, dass auch heute noch das Wort „Jude“ ein Schimpfwort ist, dass es Menschen in einer bestimmten Partei gibt, die sich schwer tun, eine innere Zustimmung zu einer Gedenkfeier des Holocaust des Deutschen Bundestags zu bekunden. Umso wichtiger ist es, dass wir ein Zeichen setzen, wie es Jahr für Jahr die „Woche der Brüderlichkeit“ tut, und wie wir es in diesem Jahr in unserem Bistum Münster in der Stadt Recklinghausen erfahren dürfen. Es ist ein Gegengewicht und eine öffentliche Stimme zur Wachsamkeit und Sensibilität nicht nur im Umgang miteinander, sondern besonders mit unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

In einer solchen geschichtlichen Stunde dürfen wir gerade auf das Erbe, das uns der jüdische Glaube und das jüdische Volk übermittelt haben, zurückgreifen. Zu diesem Erbe gehört die Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit der Erinnerung.

Wenn wir etwas von Israel lernen können, so ist es die Tatsache, dass Erinnerung nicht einfach bloß eine rationale Größe ist, ein Nachdenken über Vergangenes, bisweilen verklärt und nostalgisch gefärbt, sondern ein „Zurückgehen mit dem Herzen“, wie es Papst Franziskus jüngst ausgedrückt hat(1).  Die Erinnerung ist notwendig für die Zukunft, weil sie uns an die Wurzeln unseres Glaubens und unserer Kultur führt, und weil sie uns hilft, allen Kräften zu wehren, die eine so unsagbare Schandtat wie die Schoah möglich machten.

Erinnerung führt uns zusammen an die tiefen Wurzeln, aus denen das christliche Abendland entstanden ist, das bisweilen in unseren Tagen in einer Weise beschworen wird, die genau diesem Erbe entgegensteht.

Erinnerung zeigt uns, dass unsere Kultur aus einem Glauben entstanden ist, der nicht bloß ein Begriff ist, „den man aus einem Buch lernt, sondern die Kunst, mit Gott zu leben. Man erlernt sie aus der Erfahrung dessen, der uns auf dem Weg vorangegangen ist“(2),  um es mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen.

Und gerade die Erinnerung, die uns mit dem Volk Israel verbindet, zeigt uns die Verheißung, die dieses Volk im tiefsten seines Herzens prägt: Sie ist eben nicht bloß individuell, sondern sie stiftet Gemeinschaft, sie ist eine Verheißung, die sich aber auch nicht auf einen Schlag verwirklicht, sondern sich im Laufe der Geschichte enthüllt und erfüllt.

Welch eine Kraft liegt darin in einer Zeit, die sich immer mehr individualisiert und zugleich in sich die Sehnsucht trägt, nicht zu vereinsamen. In einer Zeit, die sich so sehr von der Oberfläche des Augenblicks bestimmen lässt, dass sie die Wurzel, aus denen allein Leben wachsen kann, zu vergessen droht. Mit Recht hat Papst Johannes Paul II. davon gesprochen, dass die Erinnerung „nicht nur eine Frage des Rückgriffs auf Vergangenes ist, sondern dass die gemeinsame Zukunft von Juden und Christen verlangt, sich zu erinnern, weil es keine Zukunft ohne Erinnerung gibt. Die Geschichte selbst ist jetzt memoria futuri“(3).

Liebe Schwestern und Brüder, zwei Texte geben uns heute in besonderer Weise die Möglichkeit, diese Erinnerung aktuell in unserem Herzen lebendig werden zu lassen.

a)
Da ist einmal der Psalm 27, den wir eben in hebräischer und deutscher Sprache gehört haben. Unmittelbar werden wir daran erinnert, dass Millionen von Menschen dieses Gebet gesprochen haben, Generation um Generation, seit unvordenklichen Zeiten. Welche Kraft haben diese Worte für unzählige Menschen gehabt – bis zur Stunde. Ich als Christ darf dabei sagen: Auch Jesus hat diese Worte gesprochen, hat diesen Psalm gebetet. Er hat daraus gelebt, dass der Herr die Zuflucht Seines Lebens ist, Sein Licht und Sein Heil. „Vor wem sollte ich mich fürchten? Vor wem sollte mir bangen?“ (Ps 27, 1). Er konnte die Grundfragen seines Lebens beantworten aus dem tiefen Zutrauen darauf, dass diese Worte für Ihn im Blick auf Seinen Vater Gott wahr sind: „Der Herr ist die Zuflucht meines Lebens, er ist mein Licht und mein Heil“. Für mich ist Jesus der exemplarische Israelit, und ich bin dankbar, dass ich durch Ihn verwurzelt bin mit dem jüdischen Volk und allen Schwestern und Brüdern, die aus diesem Volk stammen und aus dieser Gebetstradition gelebt haben und leben. In diesem Gebet hat jeder gläubige Israelit realisiert, was Mose dem Volk aufgetragen hatte: „Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4). In diesem, wie in vielen anderen Psalmen, wird die Antwort auf diese Aufforderung gegeben: Der Herr und niemand anderes ist mein Licht und mein Heil. Der Herr und niemand anderes ist die Zuflucht meines Lebens. Ja, selbst „wenn mich auch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt mich auf“ (Ps 27,10).

Wenn ich diese Psalmworte spreche, erinnere ich mich daran, dass Jesus diese Worte von seiner Mutter Maria, und von Josef, dem Zimmermann und Gerechten aus dem Volk Israel, gelernt hat. Sie haben gelebt, und sie haben es vorgelebt, wie dieses Volk seit Abraham auf den einzigen Gott, der retten und heilen kann, vertraut hat. Selbst wenn ein Heer sie belagert, das Herz braucht nicht zu verzagen (vgl. ebd. 3).

Das war die Grundlage ihres Lebens, ihres Glaubens, ihrer Kultur. Das hat diese Menschen als ein Volk zusammengeführt. Es ist ein Erbe, aus dessen Erinnerung wir lebendig bis zur Stunde - gerade auch als Christinnen und Christen – schöpfen, zusammen mit allen, die als Juden daraus leben.

Und ich erinnere mich an die Schwestern und Brüder, die durch das Feuer des Holocaust gegangen sind. Wie viele, deren Namen ausgelöscht sind, haben genau diese Worte auch im Warschauer Ghetto, in den Konzentrationslagern, in der äußersten Not und Verzweiflung gesprochen z. B. in Auschwitz! Sie haben darauf vertraut, selbst im Dunkel, wo sie die Erfahrung machen mussten, dass Gott Sein Angesicht verbirgt, dass Er dennoch da ist, und wenn es nur in der Weise der Hoffnung geschah: „Ich aber bin gewiss, zu schauen die Güte des Herrn im Land der Lebenden“ (ebd. 13). Sie sind für mich Zeugen, dass das Wort durchträgt: „Hoffe auf den Herrn, sei stark und fest sei dein Herz! Und hoffe auf den Herrn!“ (ebd. 14).

Wie beschämend ist es, was unser Volk und viele andere dem jüdischen Volk im Laufe der sich christlich nennenden Geschichte angetan haben! Umso mehr braucht es diese „Woche der Brüderlichkeit“ und des Zusammenwirkens derer, die aus diesem Erbe schöpfen, selbst wenn sie es nicht bewusst wahrhaben oder sogar wahrhaben wollen.

b)
Im Bistum Münster bereiten wir uns auf den Katholikentag vor. Das Leitwort haben wir aus dem Erbe unseres jüdisch-christlichen Glaubens genommen. Es ist die Antwort auf die Frage des Beters im Psalm 34, wie der Mensch das Leben lieben und gute Tage finden kann. Der Beter gibt dort die Antwort: „Er bewahre seine Zunge vor Bösem und seine Lippen vor falscher Rede. Er meide das Böse und tue das Gute, er suche Frieden und jage ihm nach“ (Ps 34,13-15;1 Petr 3,10b.11). Daraus aber ergibt sich, was der Verfasser des 1. Petrusbriefes als Mahnung an alle Christen gibt, eine Mahnung, die wir durchaus in unserer heutigen Zeit zur besonderen Wachsamkeit und Sensibilität hören sollten, eine Mahnung, die auch allen Menschen guten Willens gelten darf, selbst wenn sie weder als Juden noch als Christen glauben: „Seid alle eines Sinnes, von Mitgefühl und Liebe zueinander, seid barmherzig und demütig! Vergeltet Böses nicht mit Bösem oder Schmähung mit Schmähung!“ (1 Petr 3,8-9a)

Liebe Schwestern und Brüder, verehrte, liebe Gäste, ich wünsche mir von diesem Abend und von der Festfeier morgen früh sowie von der ganzen „Woche der Brüderlichkeit“, dass dieser Impuls aus dem reichen Erbe Israels alle Menschen guten Willens im Herzen berührt und ergreift, um all denen zu wehren, die mit bewusstem oder unbewusstem, oder oberflächlichem Antisemitismus neue Samenkörner legen, die nur in Gewalt und Verachtung enden können. Ihnen halten wir entgegen: Erinnerung an den großen Schatz des jüdischen Glaubens hilft uns, die Zukunft aufzubauen, die zum Segen aller werden kann. Erinnerung ist die Brücke, die Ängste abbaut und Neues aufbaut.

Amen.


ANMERKUNGEN:

(1) OR 23.02.2018, Seite 12.
(2) Ebd. 09.02.2018, Seite 3.
(3) Johannes Paul II., Eine Reflexion über die Schoah, 16. März 1998 in: OR 03.04.1998, S. 7.