"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Eröffnung der WdB 2019

Begrüßung und Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit 2019 durch den jüdischen Präsidenten des DKR, Prof. Dr. Rabbiner Andreas Nachama



Sehr geehrte Festgäste,
hochverehrter Herr Bundespräsident,
liebe Preisträger!

Mensch, wo bist Du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft.

Einerseits kann man sich freuen:

Wer hätte vor 70 Jahren als der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-jüdische Zusammenarbeit gegründet wurde zu hoffen gedacht, das aus der Handvoll Gesellschaften, die sich da zusammenschlossen, sieben Jahrzehnte später über 80 Gesellschaften bundesweit entwickeln würden, die mehr als 2000 Veranstaltungen pro Jahr durchführen. Die erste Bürgerinitiative der Bundesrepublik ist auch im vereinten Deutschland eine feste Bank gegen Antisemitismus und für solidarisches Zusammenhalten für Grund- und Menschenrechte.

Andererseits bin ich betroffen:

Sieben Jahrzehnte gemeinsamer Kampf gegen Antisemitismus und noch immer ist unsere Gesellschaft nicht frei von antisemitischen Vorfällen – verlassen antisemitisch bedrohte jüdische Schüler öffentliche Schulen um in jüdischen oder anderen privaten Bildungseinrichtungen in geschützter Atmosphäre lernen zu können oder , werden Kippatragende Männer verbal und physisch auf offener Straße bedroht, um nur zwei Beispiele zu nennen. Dass kopftuchtragende Frauen ähnliche Erfahrungen machen müssen, belegt die Dringlichkeit unseres Mottos:

Mensch, wo bist Du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft und dann kann man an dieser Stelle gerne auch Vervollständigen: für unsere im Grundgesetz verankerten Grundrechte.

Judenfeindschaft hat eine lange Tradition – gerade auch im Verhältnis von Christen und Juden. Mit Freunde und Genugtuung hat die jüdische Gemeinschaft im Jahr des 500. Jahrestages der Reformation zur Kenntnis genommen, dass die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) auf die Mission von Juden verzichtet und auf Augenhöhe mit Juden umgehen will und dass jetzt die katholische Bischofskonferenz theologisch die bleibende Erwählung Israels bekräftigt, den Staates Israel anerkennt und jede Form von Antisemitismus verurteilt.

Aber damit ist es nicht getan, denn in unserem Land wohnen auch Menschen, die weder der evangelischen noch der katholischen Kirche zuzurechnen sind.

Es gibt eine säkulare Judenfeindschaft z. B. in der Tradition der NS-Volksgemeinschaft, es gibt die es gibt antiisraelischen Terrorismus gegen jüdische Einrichtungen und es gibt auch einen aus dem Nahen Osten importierten Antisemitismus. Es geht hier nicht um die Unterdrückung von Kritik an der israelischen Politik. Wer eine israelische Tageszeitung aufmacht, der weiß, wie grundsätzlich und umfassend diese seien kann. Nein, es geht darum, dass im Nahostkonflikt mit zweierlei Maß geurteilt wird, dass unangenehme Wahrheiten, wenn sie nicht ins eigene Weltbild passen, geleugnet werden, aber alte Vorurteile gerne umfassend auf den Staat Israel angewendet werden, um ihn in Gänze zu delegitimieren.

Dass ein Mitglied des Deutschen Bundestages die Verbrechen der Wehrmacht im 2. Weltkrieg einen [Zitat] "Vogelschiss" nennt oder ein Landtagsabgeordneter eine [Zitat] "180 Grad Wendung der Erinnerungskultur" fordert, zeigt, wie brüchig die Eisdecke ist, die in den letzten Jahrzehnten jenen braunen See bedeckt, der ganz Europa geflutet hatte.

Dass es junge Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land gibt, die die Errungenschaften unserer Grundrechte gerne für sich in Anspruch nehmen und auch nehmen sollen, aber nicht begreifen wollen, auf welcher historischen Erfahrung sie entstanden sind, ist eine Herausforderung. Dieser Herausforderung stellen sich unsere Preisträger. Und mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Sie - wir alle.

An dieser Stelle sollen wir doch fragen:

Gibt es denn eine allgemeingültige Konsequenz, die man aus dem Antisemitismus ziehen kann? Gibt es nicht Erkenntnisse, die auch Geflüchteten nahezubringen sind? Aus der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 könnte man ja ableiten, was in einem Staat passiert, in dem polizeiliches Handeln nicht von unabhängigen Gerichten beurteilt wird – ich erinnere an das Verfahren aus dem Jahr 2015 wo Polizisten, die einen Wasserwerfer unverhältnismäßig eingesetzt haben, verurteilt wurden. Die jetzt mit uns hier leben, sollten sich Fragen, ob ein solches Verfahren auch in der Gesellschaft möglich wäre aus der sie, oder ihre Eltern und Großeltern kommen. Aus der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 kann man auch lernen, was in einem Land passiert, wo nicht alle vor dem Gesetz gleich sind. Das könnte ja auch für junge Menschen mit Migrationshintergrund einleuchtend  sein, denn unsere Gesellschaftsordnung bietet ihnen einen umfassenden Schutz auch ihrer Freiheiten.

Wo bist Du Mensch?

Dieser erste Satz unseres diesjährigen Mottos soll jedem Einzelnen ins Bewusstsein bringen, dass jeder Mensch Verantwortung für sein Tun trägt. Aber das "Gemeinsam" soll verdeutlichen, dass alle in dieser Gesellschaft dazu aufgerufen sind, Judenfeindschaft zu bekämpfen. Und es bleibt die Erkenntnis: Jeder Mensch wird in dieser Gesellschaft nur die Freiheit haben, die er anderen zubilligt. Schon eingangs habe ich gesagt, dass z.B. kopftuchtragende Frauen zuweilen auch einen schweren Stand in dieser Gesellschaft haben. Und dass es auch eine bodenständige völlig inakzeptable Anti-Muslimen-Stimmung gibt. Das ist genauso zu beurteilen wie Judenfeindschaft. Lasst uns, jeder Mensch für sich und wir alle gemeinsam für die Grundrechte aller eintreten:

Mensch, wo bist Du?  Gemeinsam gegen Judenfeindschaft.

Herr Bundespräsident, liebe Preisträger, werte Festgäste, hiermit eröffne ich die Woche der Brüderlichkeit 2019.

Es gilt das gesprochene Wort