"Angst überwinden - Brücken bauen" - Begrüßung und Hinführung zum Thema

Ansprache von Landeskirchenrat Dr. Vicco von Bülow während der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier zur Eröffnung der WdB am 10. März 2018 in der Christuskirche in Recklinghausen



Liebe Schwestern und Brüder,

„Begrüßung und Hinführung zum Thema“ – das steht im Ablaufplan dieser Gemeinschaftsfeier jetzt an. Nun, dann will ich Sie begrüßen. Herzlich willkommen in der Christuskirche Recklinghausen! Auch im Namen von Annette Kurschus, der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. Die Sie gerne selber hier begrüßt hätte, aber sich derzeit auf einer dienstlichen Auslandsreise befindet. Vor allem aber im Namen der christlichen und der jüdischen Geschwister, mit denen wir heute abend die christlich-jüdische Gemeinschaft feiern.

Denn ja, wir haben etwas zu feiern. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass Christen und Juden ihre Gemeinschaft feiern. 1952 fand die erste Woche der Brüderlichkeit statt. Sieben Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft, die ein besonderer Tiefpunkt in der Geschichte der Gemeinschaft von Christen und Juden war. Im Dritten Reich waren Christen an der Verfolgung und Ermordung von Juden beteiligt, auch in Westfalen, auch in Recklinghausen. Und so haben wir auch 66 Jahre später, 2018, die eine Seite, die Freude, das Feiern, nie ohne die andere, die Trauer, und für uns Christen: die Scham.

In diesem Jahr 2018 werden wir in der evangelischen Kirche eine neue Ordnung der gottesdienstlichen Lese- und Predigttexte einführen. Mit der neuen Perikopenordnung kommen beide Facetten des Verhältnisses von Christen und Juden auch im liturgischen Kalender des Kirchenjahrs zum Ausdruck. Das zeigt sich an den liturgischen Farben. Am Israelsonntag, dem 10. Sonntag nach Trinitatis,
sind zwei liturgische Farben möglich: nämlich entweder grün oder violett.

Grün ist eigentlich die Farbe der gesamten Trinitatiszeit.  Grün ist die Farbe des sich erneuernden Lebens und der Hoffnung. Zum grünen Proprium passt das Evangelium des Sonntags (Mk 12). Jesus wird gefragt, was das höchste Gebot ist. Und er zitiert als erstes das Schema Jisrael aus dem fünften Buch Mose, das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis: „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist Gott allein…“
Die enge Zusammengehörigkeit von Christen und Juden, die hier deutlich wird, ist die Grundlage für die Änderung unserer Kirchenordnung, die wir in Westfalen 1999 auf den Weg gebracht haben. Jetzt heißt es in Artikel 1, dass die Kirche handelt „im Vertrauen auf den dreieinigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der Israel zu seinem Volk erwählt hat und ihm die Treue hält, der in dem Juden Jesus, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, Menschen zu sich ruft und durch den Heiligen Geist Kirche und Israel gemeinsam zu seinen Zeugen und zu Erben seiner Verheißung macht.“
Es ist wahrlich ein Zeichen der Hoffnung, dass christliche Kirchen diese Verbundenheit zu Israel in ihren grundlegenden Texten so deutlich machen. Denn das war ja nicht immer so.

Und hier kommt die andere liturgische Farbe ins Spiel: Violett hat als Farbe des Israelsonntags ebenso eine Berechtigung. Violett ist die Farbe der Buße, Sie kennen sie aus den Bußzeiten im Advent und in der Passionszeit. Und tatsächlich gibt es auch Grund zur Buße – schließlich haben wir in unseren Kirchen eine schlimme Tradition des Antijudaismus. Und diese Abwertung des Judentums hat dazu beigetragen, dass jüdische Menschen immer wieder auch mit Unterstützung der Kirchen ausgegrenzt und diskriminiert wurden, bis hin zum schrecklichen Höhepunkt der Verfolgung und Vernichtung in der Schoah. Dafür Buße zu tun, steht uns Christen wahrlich gut an.
Violett und Grün, Buße und Freude, beides gibt es jeweils nicht ohne das andere, das gehört ganz eng zusammen.

Und so ist es auch mit dem Jahresthema der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit: Angst überwinden – Brücken bauen. Das gehört beides auch ganz eng zusammen.

Die „Angst“ taucht in der Bibel mehrfach auf und sie betrifft immer den ganzen Menschen – die Angst der Seele (1. Mose 42,21), die Angst des Herzens (Hi 7,11, Ps 25,17), der Geist in Ängsten (Ps 142,4). Und auch heute noch gibt es Grund zur Angst. Ob wir nun auf unser privates Leben blicken oder auf die gesellschaftliche Lage. Letzte Woche fand in Wien eine Konferenz zum Antisemitismus in Europa statt. Die Abschlusserklärung hat festgestellt, dass der wachsende Antisemitismus nicht nur die Sicherheit jüdischer Bürger in Europa bedrohe, sondern auch die Demokratie in den europäischen Staaten gefährde.

Der Begriff „Brücke“ dagegen fehlt in meiner Konkordanz zur Lutherbibel zwischen „Brot“ und „Bruder bzw. Brüderlichkeit“. Ein biblisch-hebräisches Wort für Brücke gibt es nicht. Neuhebräisch nimmt man Gäschär. Im großen Langenscheidt Hebräisch-Deutsch  kommt nach Gäschär - Brücke und Brücke bauen etc... als nächste Wurzel Gaschasch:... - betasten, leicht berühren. Was für eine Nachbarschaft: Nur wenn ich die Brücke zum Anderen überschreite, kommt es zur Berührung, zum vorsichtigem Kontakt.

Im Programm der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit gibt es eine erfreuliche Vielzahl von solchen Kontaktveranstaltungen – von der Verleihung des Dr. Selig S. Auerbach-Preises an ausgezeichnete Brückenbauer-Schulen über die Vorführung des Kinofilms „Die Verleugnung“ im Rahmen des - ökumenischen - Kirchlichen Filmfestivals bis hin zu einem Erinnerungsgottesdienst mit Gang zu den Stolpersteinen in der Steinstraße. Und natürlich eine Vielzahl von Vorträgen und Ausstellungen. Die Ihren Besuch lohnen.

Vielleicht kennen Sie das hebräische Lied „Kol haolam kulo“ nach einem Spruch von Rabbi Nachman von Bratslav, dem chassidischen Zaddik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: „Die ganze Welt ist eine sehr schmale Brücke, und die Hauptsache ist, sich gar nicht zu fürchten.“ Die Hauptsache ist, sich gar nicht zu fürchten. Ganz wichtig, aber gar nicht einfach.

Gleich werden wir aus dem Evangelischen Gesangbuch ein Lied aus dem 20. Jahrhundert singen: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich.“
Und damit sind wir nach der Begrüßung mitten im Thema.