Identitäten, Werte, und was uns zusammenhält

Rabbiner-Brandt-Vorlesung 2010

Dr. Ayyub Axel Köhler
 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Es gibt immer wieder Phasen in der Geschichte der Völker und Kulturen, in denen sich große kulturelle und gesellschaftliche Umwälzungen, verbunden mit der Umwertung von Werten ereignen. Das sind Zeiten, wie man sie mit Ausbrüchen von Vulkanen vergleichen kann, bei denen sich eine lange aufgestaute Energie explosionsartig entlädt (z.B. Französischen Revolution). Meist geben verlorene Kriege den Anlass für grundsätzliche Umwälzungen, wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Was sich heute vollzieht ist anders: Wir leben in einer Zeit einer evolutionären, prozesshaften Entwicklung, die aber nicht minder einschneidend auf das Leben der Menschen wirkt. Ich spreche von der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und der Globalisierung, die Veränderungsprozesse ausgelöst haben, die sich auch noch unter einem nie dagewesenen Zeitdruck vollziehen. Die meisten Menschen können diesen Entwicklungsprozessen nicht mehr folgen. Eine allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit sind die Folgen.

Zeiten der Orientierungslosigkeit bergen immer Gefahren in sich. Sie werden von Kräften genutzt werden, die ihre politischen, religiösen und/oder ideologischen Ziele zu ihrem Vorteil durchsetzen wollen. Die Stunde der politischen Geschäftemacher und Demagogen hat geschlagen. Denen dürfen wir das Feld nicht überlassen. Der Prozess der Neuorientierung ist eine der wichtigsten gesamtgesellschaftlich relevanten Querschnittsaufgaben. Sie ist grundlegend für die Zukunft unseres Landes. Sie muss parteiübergreifend und im herrschaftsfreien Diskurs mit und unter allen Gruppen der Gesellschaft bewältigt werden – wohl wissend, dass sich dieser Prozess ergebnisoffen und über Generationen hinziehen kann.

In Deutschland stehen wir mit dieser Aufgabe nicht alleine da. Die Globalisierung berührt alle Länder der Erde. Die Globalisierung ist nahezu in jedem Land der Erde auch in den entlegensten Dörfern angekommen. Weltweite Wanderungsbewegungen im Zusammenhang mit der Globalisierung üben einen erlebbaren ökonomischen Einfluss auf die Menschheit aus, ziehen wegen der medialen Vernetzung schwerwiegende, vielleicht sogar die schwerwiegendsten kulturellen Umbrüche unter den Völkern dieser Welt nach sich. So ist aufgrund heutiger Erfahrungen und Entwicklungen abzusehen, dass sich in den Ballungsräumen aller Länder mit hoher Entwicklungsintensität eine ethnische und religiöse Vielfalt einstellen wird. Damit müssen wir uns abfinden. Die Welt um uns herum wird bunter.

Deutschland ist in einem sehr hohen Maße von der Globalisierung betroffen. Das Ausland ist nicht nur mit seinen Produkten, den Wirtschaftsbeziehungen, im Internet und auf den Bildschirmen bei uns. Nun sind die Ausländer selbst schon unter uns und wollen hier sogar bleiben. Was kommt da auf uns zu? Werden wir Deutschen nun eine Minderheit im eigenen Land? Werden wir überfremdet? Wie werden unser Land und unsere Gesellschaft damit fertig? Angst ist dabei der schlechteste Ratgeber. Aber solche Ängste, wenn man die Umfragen analysiert, sind schon heute ein ernstzunehmender Faktor im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung. Diese Ängste werden außerdem noch geschürt durch Teile unserer Politik. In einem Appell an die niederen Instinkte der Menschen gehen Parteien auf Stimmenfang. Der verführerische Kampfbegriff dafür lautet „deutsche Leitkultur“.

Da werden nun die Mauern einer deutschen Kulturfestung errichtet, hinter denen das geeinte deutsche Volk nun zur Abwehr mobilisiert werden soll. Aber gegen wen? Gegen die Portugiesen, die in unserem Land leben, die Italiener oder gar die Griechen? Nein, gemeint sind doch die türkisch und die arabisch sprechenden Mitbürger. Stehen die Türken, Araber und Nordafrikaner zum Sturm auf die deutsche Kulturfestung bereit? Was kann es also sein, vor dem die Deutschen geschützt werden sollen? Wäre eine „deutsche Leitkultur“, wenn überhaupt, Mittel und Argument für unsere Rettung?

Was ist die deutsche Leitkultur, die so selbstverliebt, selbstgefällig und selbstgerecht propagiert wird und an der wir genesen oder mit der wir immunisiert werden sollen, die uns Selbstbewusstsein, Identität und Nestwärme geben soll - jenes Wesen also, das den Boden bildet, auf dem das deutsche Gemeinwesen blühen soll? Was ist denn nun das Deutsche, was ist denn diese deutsche Kultur und wen und wie kann man damit leiten? Ist es die süddeutsche, ostdeutsche oder die norddeutsche? Die friesische oder die bayrische oder die vergangene preußische? Dazwischen liegen doch Welten. Da muss man doch zweifeln, ob es so etwas wie eine Einheitskultur in Deutschland überhaupt gibt! Deswegen haben die Initiatoren der Kampagne auch nichts Konkretes zu ihrer Leitkultur zu sagen. Die Protagonisten der Leitkultur können sich nicht mehr verständlich machen, sie können nicht mehr zuhören und sich niemandem mehr zuwenden. Verwerflich an der Kampagne ist, dass sie die Bevölkerung mit ihren Ängsten allein lässt und dass sie ihnen keine positive Perspektive zeigt. Wie wirkt sich das auf das Ausland, die Außenstehenden und die zu Integrierenden aus? Sie können die Leitkulturkampagne nur als selbstgerechte Ausgrenzung anderer Kulturen und Menschen empfinden. Die Beschwörung einer Leitkultur wird zum Kultus schlechthin.

Die Gefahr dieses Kults liegt auch darin, dass sie sich schließlich gegen sich selbst und die eigene Gesellschaft richtet. Sie schädigt den Ruf Deutschlands als Kulturnation, sie führt zur Spaltung der Gesellschaft und hindert die Zukunftsfähigkeit. Wer nicht mehr zuhören kann und in Selbstverliebtheit und vor allem selbstgerecht die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und den eigenen Werten verliert, verschwindet irgendwann im Dunst der Geschichte – es sei denn, dass ein kultureller Artenschutz noch Reste davon zur Besichtigung bewahrt.

Kurz, Leitkultur ist eine Negativdefinition. Ein vermeintlich kulturfremdes Element im christlichen Abendland soll ausgeschlossen werden. "Deutsche Identität und sonst keine!", „Ihr seid zwar hier aber ihr gehört nicht dazu“. Verstärkt wird diese Argumentation noch mit der Betonung der religiösen Orientierung. Ausschlussargument wird zunehmend der christlich-jüdische Anteil an der so genannten deutschen Leitkultur.

Richtig ist zwar, dass Identitäten in erster Linie durch Religionen, Weltanschauungen, Sprache und Geschichte geprägt werden. Wahr ist auch, dass Deutschland und Europa zutiefst (im Positiven, wie auch im Negativen) christlich geprägt sind. Das brauchen wir auch nicht verleugnen. Im Zusammenhang mit unseren neuzeitlichen Problemen, also die Integration von Menschen mit vermeintlich fremdem kulturellen und/oder religiösem Hintergrund ist die Betonung auf eine religiöse Differenzierung ein Rückgriff auf vormoderne Zeiten. Wir wollen aber nicht zurück ins Mittelalter – und auch nicht in einen neuen Kreuzzug.

Wir leben in einem säkular verfassten Land, in dem sich der Staat den Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber neutral zu verhalten hat. Unser Land definiert sich nicht mehr über die Religionszugehörigkeit. Unsere Verfassung gibt dem Pluralismus der Gruppen der Gesellschaft und der Freiheit Raum. Wir leben in einem Land, dass sich als eine pluralistische Wertegemeinschaft versteht (oder verstehen sollte).

Die Betonung des christlich-jüdischen Erbes in der heutigen Integrationsdebatte steht im Widerspruch zu Buchstaben und Geist unserer Verfassung. Sie leistet der Spaltung unserer Gesellschaft Vorschub.

Als Muslim in Deutschland muss man sich schon darüber freuen, dass man neben dem Christentum auch eine andere Religion, hier die Juden, neben sich anerkennt. In diesem Zusammenhang hat man dennoch ein ungutes Gefühl. Die Bezeichnung christlich-jüdisch blendet dabei doch aus, dass dieses historische Erbe über tausend Jahre von Ausgrenzung, Verfolgung, Pogromen und schließlich vom Holocaust geprägt ist. Darauf wollen wir uns doch nicht gründen. Dieser Teil der europäischen und deutschen Geschichte ist ein Schandfleck, den wir in der Menschheitsgeschichte hinterlassen haben. Dieser Teil unserer Geschichte sollte uns eine bittere Lehre sein. Jetzt müssen wir uns im Hinblick auf unser Verhältnis im Umgang dem Fremden bzw. Nichtchristen erst einmal beweisen, bevor wir damit werben.

Ich habe die Bedenken unserer jüdischen Mitbürger gegen die Überhöhung des Anteils des jüdischen Erbes an der deutschen Kultur sorgfältig verfolgt. Rafael Seligmann brachte es mit dem Wort „Heuchelei“ auf den Punkt; und die meisten Muslime werden ihm zustimmen, wenn er den Verdacht äußert, dass nämlich „die jüdische Überlieferung gegen die Muslime ins Feld geführt“ wird. Allenfalls könne man noch eine theologische Begründung für das jüdische Erbe heranziehen, meint der ehemalige Botschafter Israels in Deutschland . Viele andere haben es ebenso empfunden. Auf keinen Fall ist dieser Teil unseres Erbes ein Ruhmesblatt und Zeugnis für die deutsche Leitkultur. Ich möchte jetzt nicht differenzierter auf unser jüdisches Erbe eingehen. Auch das würde uns beschämen, wenn wir nur an die Mendelssohns, Albert Einstein und die vielen anderen denken.

Meine Damen und Herren, Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich sehe, wie wenig sensibel selbst Regierungspolitiker mit den Muslimen umgehen. Man muss sich einmal vorstellen, wie den Muslimen zumute ist, wenn sie nun auch noch als kultureller Fremdkörper und auf Bewährung behandeln werden. Auf keinen Fall trägt dieses Verhalten zur Integration bei.

In diesem politischen Klima müssen sich nun die Muslime und ihre Religion in der europäischen bzw. deutschen Kultur und Kulturgeschichte verorten. Wie können sie sich auch als Teil Europas und Deutschlands integrieren, wo doch die Muslime und/oder der Islam als Religion und machtpolitisches Gebilde vom christlichen Abendland immer als der Feind (Erbfeind) angesehen wurden? Viel Gutes und vor allen Dingen Objektives wird man deswegen im Geschichtsbild des Abendlandes nicht finden. Die deutschen Schulbücher geben Zeugnis davon.

Kultur steht nicht für sich alleine da. Kultur ist vor allen Dingen vor ihrem historischen Hintergrund zu sehen. Kulturen sind von ihrer Geschichte geprägt. Die eigentlichen prägenden Kräfte der Völker sind neben den gemeinsamen Schicksalserfahrungen, das historische Gedächtnis und die großen Geschichtsbilder. Geschichte bildet die Identitäten. Jede nationale Geschichte ist auch immer mit der seiner Nachbarn verbunden. Besonders Deutschland ist im europäischen Zusammenhang zu beurteilen und umgekehrt. Die deutsche Geschichte und Kultur ist immer eine europäische gewesen, wie auch die europäische von der deutschen geprägt ist.

Es fällt auf, dass im Geschichtsbewusstsein der Deutschen, wenn überhaupt, die fast 800jährige europäisch-islamische Geschichte (Sizilien, Süditalien, Balearen, Balkan, Spanien) verdrängt und/oder überhaupt nicht vorhanden ist. Zu erinnern ist, dass trotz der Feindschaft und der Kriege und vielleicht auch wegen dieser Kriege (Kreuzzüge) der Westen in wesentlichen Bereichen auf dem islamischen Kulturkreis aufbaut (z.B. die Normannen, Friedrich II, der Stauffer). Johann Gottfried Herder bezeichnet die Araber als die Lehrer Europas. Das ist erklärlich, schon weil es keine andere greifbare und überlegene Kultur in ihrer Nachbarschaft gab. Selbst das byzantinische Reich war fremd geworden.

Die systematische Erforschung der Wirkungsgeschichte und Wirkungszusammenhänge mit dem islamischen Kulturkreis liegen noch im Argen. Ansätze für objektive Erforschung dieses Kulturaustauschs haben aber schon Bemerkenswertes hervorgebracht: Meister Eckart wäre wohl ohne die islamische bzw. arabische Philosophie nicht möglich gewesen . Ein besonders reizvolles Thema wäre auch die sich entwickelnde jüdische Philosophie im islamischen Spanien und ihr fruchtbarer Austausch mit den islamischen Philosophen. Vom Beitrag der islamischen Philosophie auf die europäische Aufklärung wäre eigentlich auch zu berichten. Dazu ist hier kein Raum.

Zu erinnern wäre auch an die entsprechenden Beeinflussungen des Reichs der Literatur bzw. Poesie (Beispiele: Troubadoure bis Goethe und der Islam) der Musik, der Naturwissenschaften, der Mathematik (die Muslime haben immerhin den Europäern die Mathematik und das Rechnen gelehrt), wie auch der Architektur, Medizin und Technik; und auch die Vorbilder des islamischen Kulturkreises und ihre Einflüsse auf die sich entwickelnde abendländische Lebensart (z. B. Ritterlichkeit, Minnedienst, Lebensqualität) sind nachweisbar. Im deutschen Wortschatz finden sich davon noch unzählige Nachklänge (es gibt dazu sogar ein Lexikon). 800 Jahre Islam in Europa – europäischer Islam - sind eben nicht spurlos vorüber gegangen.

Gegen den verklärenden abendländischen Mythos können sich die Muslime heute kaum zur Wehr setzen. Einfacher war es in den 70er Jahren zur Zeit der ersten Ölkrise, als – ich zitiere aus dem Buch von Sigrid Hunke „Kamele auf dem Kaisermantel, Deutsch-arabische Begegnungen seit Karl dem Großen“ – als es „kein deutscher Bundespräsident (ich betone: unwidersprochen) und kein Politiker versäumte, seine hohen Gäste in seinen Tischreden mit den Hinweisen auf die Gaben zu ehren, die Allahs Sonne uns gebracht hat. Das Auswärtige Amt stellte fest, dass dieses Buch während des Beziehungsunterbruchs oft die einzige Brücke zu den Arabern gebildet habe. In Schulen, in der öffentlichen Meinung, in Büchern setzt sich, sich zu ihrer Quelle bekennend … die Erkenntnis der großen selbständigen Leistungen der Araber durch, die man früher nur als Laufboten der Griechen hatte gelten lassen.“ Diese Einsichten scheinen vergessen zu sein. Die Aktualisierung unseres historischen Bewusstseins tut not. Stattdessen werden nun Ausschlussargumente entwickelt, die nachhaltige Folgen im Hinblick auf die Spaltung unsere Gesellschaft haben werden. Es geht nun um die Stellung des Islam und der Muslime in Staat und Gesellschaft.

Nur fünf Prozent der Bevölkerung sind Muslime (in den Ballungsgebieten können es wie in Köln schon mal 10 Prozent sein). Die Muslime stehen in Deutschland einem Bevölkerungsanteil von 50 Prozent Christen zur Seite. Ich betone ausdrücklich „die Muslime stehen den Christen zur Seite“. Das trifft auch für die Juden zu. Der jüdische Anteil an der Wohnbevölkerung ist noch gering, wird aber in seiner vielfältigen Wirkung zunehmend bedeutungsvoller. Der interreligiöse Dialog als Teil unserer politischen Kultur ist zu einem Wert an sich geworden. Wir haben gesamtgesellschaftliche Verpflichtungen, die wir einzeln nicht mehr bewältigen können. Wir müssen dabei im “Trialog der Tat“ zusammenarbeiten. Steht dem nicht der exklusive Wahrheitsanspruch jeder Religionsgemeinschaft im Wege?´

Sollen diese Wahrheiten nun relativiert werden? Ich bin der Auffassung, dass es zum Merkmal des Glaubens gehört, sie für sich für wahr zu halten und daran festzuhalten, wenn man als Religionsgemeinschaft überhaupt ernstgenommen werden will. Warum soll nicht jemand seinen Glauben für den einzig wahren halten? Wichtig ist dabei nur, wie er mit dieser Ansicht seinen Mitmenschen gegenüber, die anderen Glaubens sind, umgeht. Ich schließe damit Gewalt, und selbst die Mission aus. Und ich werbe für die gesellschaftliche Verpflichtung, die den Religionsgemeinschaften durch unsere Verfassung auferlegt ist: als Religionsgemeinschaften sind sie zur Friedensgemeinschaft verpflichtet. Dazu gehört auch, dass sie in jedem Fall verhindern müssen, dass Konflikte aus dem Ausland in unser Land importiert werden oder gar hier in irgendeiner Form ausgetragen werden. Im Falle des jüngsten Gaza-Krieges ist es den drei Religionsgemeinschaften gelungen, durch eine in Europa einmalige gemeinsame Erklärung in Deutschland ein Beispiel für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Religionen und ein Zeichen für eine gemeinsame Friedensinitiative zu setzen. Auf diese Beispiele gründet sich mein Optimismus, wenn es um den Frieden unter den Religionen und in der Gesellschaft geht. Alle Religionsgemeinschaften alle haben darüber hinaus mehr oder weniger eine Bringschuld, was die Verbesserung ihres Rufes als Verursacher von Kriegen angeht. Die Religionsgemeinschaften sollten Vorbild sein und Maßstäbe setzen für den Umgang mit den Gefühlen der Menschen, die ihr tiefstes Inneres berühren, denen ihre Religion herabgewürdigt und ihre Würde verletzt wird.

Unsere Gesellschaft zeigt in allen Lebensbereichen deutliche Anzeichen von Verrohung im Umgang untereinander. Das hat sich in der öffentlichen Auseinandersetzung über Rushdie und den Karikaturenstreit gezeigt. In der Diskussion darüber ging es um Meinungsfreiheit. Religionsfreiheit und Menschenwürde kamen dabei zu kurz. In der Tat ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Die islamischen Verbände haben denn auch immer die Meinungsfreiheit (und die Freiheit der Wissenschaft) verteidigt. Die Meinungsfreiheit darf auch nicht geschmälert werden. Es darf aber auch nicht aus dem Bewusstsein verdrängt werden, dass Freiheit immer auch zusammen mit Verantwortung zu gebrauchen ist. Das Problem des Austarierens von Freiheit und Verantwortung ist eine ständige Aufgabe, der man sich immer bewusst sein muss.

Die Religionsgemeinschaften sind ein wesentlicher Teil des Wertepotenzials unserer pluralen Gesellschaft. In einer sich rasend schnell entwickelnde Gesellschaft sind die Religionsgemeinschaften noch am ehesten Garanten von Werten jenseits des Zeitgeistes. In Zeiten der Verunsicherung und der Bedrohungsgefühle sind sie gefordert, Orientierung zu geben. Das insbesondere in einer Zeit wertvergessenen Rationalismus, in der beispielsweise die Ökonomie das Zentralgebiet der Politik geworden ist und ein quasi autonom gewordenes Finanzsystem nicht mehr vom Menschen beherrscht werden kann.

Jede Gruppe der Gesellschaft vertritt im Rahmen der Ordnung unseres Grundgesetzes seine Werte. Über die Werte wird auch gestritten. Dafür haben wir in jüngster Zeit einige Beispiele. Manche Auseinandersetzungen um Werte können sich auch zu gesellschaftlichen Konfliktfällen entwickeln (ausgelöst durch den Kopftuchstreit). Aber auch in diesem Fall geht es m.E. nicht um einzelne Werte, „sondern auch weil unterschiedliche Ansichten über die Geltung und Reichweite der Maßstäbe für das Handeln bestehen.“ Das Problem der Auseinandersetzung bleibt. Mit der Forderung, Konflikte unbedingt auszuhalten, macht man es sich zu leicht. Auch in diesem Fall müssen wir Wege finden, mit Konflikten sensibel und zivilisiert umzugehen.

Erst in Krisenzeiten werden wir an Werte, Tugenden, Ethos und Verantwortungen erinnert. Insofern haben Krisen auch etwas Heilsames an sich. Wir kommen mal wieder zum Nachdenken über Maßstäbe des sozialen Handelns und die Grundlagen für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Insofern ist die Diskussion um das Deutsche einmal als Chance zur Selbstvergewisserung zu sehen. Nur, mit der Exklusivität, mit der sie geführt wird, ist sie kontraproduktiv. Wo sie gegen etwas gerichtet ist, wird die eigentliche Werte-Krise verdrängt.

„Die herrschende Kultur des Westens ist ganz ersichtlich an immanente Grenzen gestoßen, sie erschöpft wie nach einer durchtanzten Nacht, ihr Make-up rissig“, konstatiert Udo Di Fabio und er rät zur selbstbewussten, ernsthaften Selbstkritik und Neujustierung aus sich selbst heraus, in dem man sich der „Schatzkammern des Wissens vergangener Epochen und ihrer Institutionen bedient“. Ich gehe über die Forderung der Korrektur aus sich selbst heraus noch hinaus: der Westen bedarf zusätzlich konkreter Alternativen, braucht die Vielfalt von Angeboten und Möglichkeiten, aus der Deutschland schöpfen sollte.

Der Islam und die Muslime könnten da Ideen zur Diskussion stellen. Ich denke da an islamische Banken und Investitionsgesellschaften, an muslimische Familien mit ihren spezifischen sozialpsychologischen und ökonomischen Implikationen u.v.a.m. Unter den heutigen Umständen, wo sich die Muslime immer in einer Verteidigungssituation befinden und längst noch nicht auf gleicher Augenhöhe diskutieren, ist ein derartiger Austausch wohl kaum zu erwarten.

Es gibt eine Sorge um die die Loyalität der Migranten (insbesondere die Muslime) und ob sie sich denn wirklich in das Deutsche integrieren. Nun gehören zur Integration immer zwei. Dazu brauchen wir eine Anerkennungskultur der Anerkennung des Anderen in seinem Anderssein. Im Augenblick sieht es so aus, dass insbesondere die Muslime gar nicht willkommen geheißen werden. Dieser Widerspruch in der Integrationspolitik sollte also aufgehoben werden. Wie es aussieht, kann man wohl die Muslime, die hier schon in mehreren Generationen leben, nicht mehr ausweisen. Aber: Was tut die Politik, was tut die Mehrheitsgesellschaft, um die Loyalität dieser Mitbürger zu bekommen?

Das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen sehe ich insgesamt positiv. Die Vielfalt ist in den Augen der Muslime gottgewollt, denn Allah, so der Koran, hat die Vielfalt der Völker erschaffen, damit sie sich kennenlernen. Martin Buber bezeichnet diesen Prozess mit „dem Du zum Ich“. D. h., dass das Zusammenleben oder die Begegnung von Menschen mit verschiedenen kulturellen (oder religiösen) Hintergründen der eigenen Identität, also zum beiderseitigen Vorteil, nur förderlich ist.

Das naheliegende Problem der Muslime ist aber immer noch, ihre Werte nicht herabwürdigen zu lassen und direkte oder indirekte (Zwangs-)Maßnahmen zur Anpassung an die vorherrschende Werthaltung abzuwehren (Assimilation). Die Muslime müssen in der Hinsicht ihre Identität bewahren und sich den Freiraum schaffen, um ihre Identität als Muslime in Deutschland, muslimische Deutsche oder deutsche Muslime zu entwickeln. Diese Entwicklung fällt ihnen umso schwerer, je intensiver jeder ihrer Schritte von jedem unserer Sicherheitsdienst, den Medien und jedem, der glaubt, dass es ihn angeht misstrauisch verfolgt wird. Ohne Freiheit keine Entwicklung!

Die Muslime sind zwar eine Realität in Deutschland aber als Gruppe der Gesellschaft sind sie offiziell und als Gruppe nicht fassbar. Die Muslime sind als Muslime so wie sie sind von der Politik nicht integriert worden. Es wird ihnen keine klare Perspektive gezeigt. Die Muslime wollen wissen, woran sie in Deutschland sind. Dazu gehört, dass die Muslime und ihre legitimierten Organisationen als Religionsgemeinschaften anerkannt werden und einen definierten Platz in Staat und Gesellschaft erhalten.

Nach allen Bemühungen um die Integration bleiben immer noch die Fragen nach der deutschen Identität und das, was uns zusammenhält offen. Sie lassen sich auch nicht für alle und endgültig beantworten. Diese Fragen müssen wir uns zur Selbstvergewisserung von Zeit zu Zeit stellen.

Zum Trost für unsere Landsleute: Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich Deutschland neu orientieren musste. Das bringt allein schon seine geopolitische Lage mit sich. Deutschland liegt nun einmal in der Mitte Europas, wo sich alle Wege kreuzen – auch die Wege der Ideen. Diese Lage hat sich immer als günstig erwiesen. Deutschland hat gerade von der Lage als Kreuzung des historischen Geschehens und der geistigen Strömungen profitiert. Kultur ist nun einmal etwas Dynamisches. Eine Kultur stirbt ab, wenn sie nicht neue Impulse insbesondere von außen aufnimmt und sie wieder zu etwas Neuem, Eigenen umwandeln kann. Diese Fähigkeit zeichnet eine vitale Kultur aus. Wie vital sind wir noch? - Es wird sich zeigen, wie wir den Herausforderungen begegnen. Jedenfalls ist es ein schlechtes Zeichen, wenn wir Deutschen wegen eines gesteigerten Ausländeranteils in Ballungsgebieten gleich um unsere Kultur bangen müssen.

Uns verbindet selbstverständlich die gemeinsame, reiche deutsche Sprache. Mehrsprachigkeit würde unser Land aber ebenso bereichern. Schauen wir auf unser reiches und noch gar nicht mal ausgeschöpftes geistiges Erbe, das uns alle mit den Kulturen der Welt verbindet. Auch unsere integrativen Leistungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs müssten uns eigentlich zuversichtlich stimmen, die vergleichsweise geringen Integrationsprobleme der Gegenwart zu lösen. Damals wurden Millionen vertriebene und geflüchtete Deutsche aus den damaligen Ostgebieten in dem zusammengeschrumpften Deutschland integriert. Später ist sogar die Wiedervereinigung des geteilten Deutschland und auch noch gewaltfrei gelungen. Deutschland war und ist Motor der europäischen Einigung. Deutschland ist es zusammen mit Frankreich gelungen die alte Erbfeindschaft abzubauen und endlich Frieden mit Polen zu machen. Sollte es da nicht gelingen auch die Erbfeindschaft mit dem islamischen Kulturkreis zu beenden? Erinnern wir uns doch an die Bilder des fast völlig zerstörten Nachkriegsdeutschlands und den Wiederaufbau an dem die Millionen Gastarbeiter einen großen Anteil hatten. Die und deren Kinder sind heute Teil unserer Schicksalsgemeinschaft, wie auch der Wertegemeinschaft unseres Landes.

Und dann unsere Verfassung, die über allem steht, die die Maßstäbe für unsere Werteordnung setzt, die uns die Freiheit der Entfaltung in der Vielfalt der Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten ermöglicht. Die föderale Struktur unseres Staates beruht darauf. Unsere Verfassung bietet nicht nur Freiheit sondern auch Rechtsstaatlichkeit. Sie ist zu einem Exportschlager Deutschlands geworden. Wer möchte in Deutschland daran nicht teilhaben? Als Zeitzeuge kann ich über die 50er und 60er Jahre berichten, in denen die Muslime nach Deutschland strebten, dem Land, in dem man frei atmen kann und seinen Glauben ohne Repressalien oder Diskriminierungen ausüben konnte. Deutschland war für sie wie das verheißende Land. Unterdessen sind sie ernüchtert und enttäuscht. Das sollte uns zu denken geben.

Meine Damen und Herren, Eine Politik, die das gegenseitige Misstrauen und Belauern fördert, kann nicht zu einem friedlichen und gedeihlichen Zusammenleben führen. Politik sollte mit Menschenliebe aus dem Vorhandenen das Beste für das Ganze machen. Man sollte selbstbewusst auf den sich schon jetzt schon organisch vollziehenden Prozess der Integration vertrauen.

Sie kann uns, so Gott will, gelingen, wenn die geistige Neuorientierung unseres Landes, die Identitätsfrage sowie die Integration scheinbar fremder, nichtchristlicher Religionen mit aristotelischer Klugheit, viel Geduld und viel Menschenliebe gelöst wird. Dazu benötigen wir aber weise Politiker.