Festakt: 70 Jahre Deutscher Koordinierungsrat

Grußwort von Bischof Dr. Ulrich Neymeyr (Erfurt)

27. Oktober 2019

Römer / Kaisersaal
Frankfurt/M.


Grußwort von Bischof Dr. Ulrich Neymeyr, Vorsitzender der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz, am Sonntag, 27. Oktober 2019, im Kaisersaal des Römers, Frankfurt/M.


Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Präsident Dr. Schuster,
sehr geehrte Frau Präses Kurschus,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Feldmann,
sehr geehrte Frau Dr. Hackermeier,
sehr geehrter Herr Rabbiner Nachama,
sehr geehrter Herr Pfarrer Pieper,
verehrter Herr Professor Stöhr,
sehr geehrte Damen und Herrn!

„Der Dialog und die Freundschaft mit den Kindern Israels gehören zum Leben der Jünger Jesu.“ Dieser Satz stammt von Papst Franziskus aus seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013). Dass einmal ein Papst einen solchen Satz formulieren würde, hätten vor 70 Jahren die meisten wohl für utopisch gehalten. Die Last eines jahrhundertealten christlichen Antijudaismus und der zwölfjährigen nationalsozialistischen Propaganda wog schwer und ließ sich nicht in wenigen Jahren abschütteln. Diese Erfahrung mussten auch die Mitglieder der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit machen, die sich 1949 im Deutschen Koordinierungsrat zusammenschlossen. Der Mut, die Ausdauer und die Beharrlichkeit, mit der sie sich trotz aller Schwierigkeiten für die christlich-jüdische Zusammenarbeit einsetzten und weiterhin einsetzen, sind bewundernswert. Das gilt insbesondere für die jüdischen Mitglieder, die nur wenige Jahre nach der Shoah den Dialog und die Zusammenarbeit mit Christen suchten. Dass sie trotz der Erfahrungen in den Lagern oder in unsicheren Verstecken die Hand zur Zusammenarbeit gereicht haben, empfinde ich als ein Geschenk, für das wir Christen dankbar sein können.

Die Arbeit der Gesellschaften hat in den vergangenen 70 Jahren reiche Früchte getragen. Sie haben immer wieder die Verantwortlichen in den Kirchen ermahnt, sich mit dem antijüdischen Erbe christlicher Verkündigung auseinanderzusetzen, und Sie haben die Personen und Gruppen in den Kirchen unterstützt, die sich für ein neues Verhältnis zum Judentum eingesetzt haben. So ist es auch Ihrem Engagement zu verdanken, dass die Kirchen ihr Verhältnis zum Judentum in den vergangenen Jahrzehnten sehr grundsätzlich überdacht haben. Die katholische Kirche hat dies in der Konzilserklärung Nostra aetate im Jahr 1965 getan und damit die theologischen Grundlagen für ein neues Verhältnis zum Judentum gelegt, das von gegenseitigem Respekt und von Dialog geprägt ist. Eine starke Stütze hat diese Kultur des Dialogs in den 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Ich beziehe mich hier bewusst auf die einzelnen Gesellschaften und ihr Engagement. Natürlich finden die zentrale Eröffnungsfeier der Woche der Brüderlichkeit und die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille größere öffentliche Aufmerksamkeit, aber es ist die alltägliche Zusammenarbeit vor Ort, die das gegenseitige Verständnis und Vertrauen fördert. Deshalb ist es ein Glücksfall, dass die christlich-jüdische Zusammenarbeit auch in den Regionen und Kommunen verankert ist und eine entsprechende gesellschaftliche Breitenwirkung entfaltet.

Der Deutsche Koordinierungsrat hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Initiativen ergriffen, um die christlich-jüdische Zusammenarbeit zu fördern. Eine dieser Initiativen möchte ich hier eigens erwähnen. Auf Einladung des Koordinierungsrates haben sich im Jahr 2005 erstmals hochrangige Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche mit Rabbinern der Allgemeinen und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz zu einem mehrstündigen internen Gespräch getroffen. Aus dieser Initiative ist mittlerweile eine Tradition geworden. Seit 2005 treffen sich Rabbiner und Bischöfe jährlich zu einem intensiven Austausch über theologische, ethische und politische Themen. In diesen Gesprächen, die auch kontroverse Themen nicht aussparen, ist über die Jahre viel Vertrauen und gegenseitiges Verstehen gewachsen. Für seine damalige Initiative möchte ich dem Deutschen Koordinierungsrat an dieser Stelle herzlich danken.

Die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Deutsche Koordinierungsrat haben die politische Kultur in diesem Land mitgeprägt durch die Kultur der Erinnerung an den kulturellen Reichtum jüdischen Lebens, aber auch an Judenpogrome und die Shoah. Mit Entsetzen müssen wir feststellen, dass heute die Erinnerung an die NS-Diktatur in des Wortes wörtliche Bedeutung pervertiert, nämlich völlig umgedreht wird, und dass der Weg von der Verharmlosung über die Gutheißung bis zur Nachahmung erschreckend kurz ist. Die Bedeutung und die Früchte der Erinnerungskultur werden besonders deutlich im Blick auf den Teil Deutschlands, in dem 40 Jahre lang keine Aufarbeitung der NS-Diktatur stattgefunden hat, nämlich die DDR. Die Staatsdoktrin der SED-Diktatur hieß: Die Nazis sind im Westen, obwohl es etliche Politiker gab, die direkt von der NSdAP in die SED gewechselt waren und obwohl es Verherrlichung der Nazi-Zeit und ihrer Symbole auch in der DDR gab. So fahre ich heute Abend mit Sorge über den Ausgang der Landtagswahl in Thüringen nach Erfurt zurück.

Erinnerung und Aufarbeitung muss es weiter geben. Ein Schlussstrich kann nicht gezogen werden. Auch deshalb bin ich dankbar, dass Papst Franziskus für März 2020 die Öffnung der Vatikanischen Archive aus der Zeit von Papst Pius XII. angekündigt hat. Er kommt damit auch einem mehrfach geäußerten Wunsch der deutschen Bischöfe nach. Ich erhoffe mir von der wissenschaftlichen Auswertung der Archivbestände Antworten auf Fragen, die das katholisch-jüdische Verhältnis bis heute belasten. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage nach dem Schweigen von Papst Pius XII. zur Shoah während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach. Was die Öffnung der Archive für die historische Forschung, für die Kirche und die jüdische Gemeinschaft bedeutet, werden wir im nächsten Jahr in einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Zentralrat und mit Ihnen, Herr Dr. Schuster, erörtern. Dass eine gemeinsame Veranstaltung zu diesem Thema möglich ist, ist für mich sehr ermutigend.

Erinnerung, Aufklärung und Aufarbeitung sind ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen Antisemitismus und Judenhass. Antisemitismus ist keine Meinung, deren Äußerung durch die Meinungsfreiheit geschützt ist, sondern ein Angriff auf die Würde von Menschen und damit ein Angriff auf den grundlegenden Wert unserer Demokratie. Hier sind wir gemeinsam zum Widerspruch verpflichtet. Hier hat sich der christlich-jüdische Dialog zu bewähren. Einen Freund lässt man nicht im Stich. Der Kampf gegen Antisemitismus wird leider auch weiterhin eine Aufgabe der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und des Deutschen Koordinierungsrates bleiben. Aber auch Gott sei Dank, dass es diese Gesellschaften gibt. Für Ihr Engagement möchte ich Ihnen auch im Namen der Deutschen Bischofskonferenz aufrichtig danken. Zu Ihrem Jubiläum und für Ihre Arbeit in den kommenden Jahren wünsche ich Ihnen Gottes reichen Segen.