Festakt: 70 Jahre Deutscher Koordinierungsrat

Grußwort von Dr. h.c. Annette Kurschus,
stellvertretende Vorsitzende des Rates der EKD

27. Oktober 2019

Kaisersaal / Römer
Frankfurt/M.


Grußwort von Dr. h.c. Annette Kurschus, stellvertretende Vorsitzende des Rates der EKD, am Sonntag, 27. Oktober 2019, im Kaisersaal des Römers, Frankfurt/M.


[Anreden]

70 Jahre Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-jüdische Zusammenarbeit: Das ist Anlass zu großer Dankbarkeit.
Ich überbringe die herzlichen Grüße und Glückwünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Rates der EKD!

70 ist eine besondere Zahl. In der Bibel kommt sie häufig vor.
Die 7 ist von der Schöpfung her die Zahl der Vollendung.  
Und in der Zahl 70 – zehn mal sieben - wird diese Bedeutung potenziert: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn´s hoch kommt, so sind´s achtzig Jahre“, heißt es im 90. Psalm. Mose wird beauftragt, 70 Älteste auszuwählen, die mit ihm die „Last des Volkes“ tragen sollen.

70 ist die Zahl der Gnade und die Zahl des Gerichts: 70 Jahre lang dauerte das Babylonische Exil, und der Prophet Daniel gliedert den Heilsplan Gottes in 70 Jahrwochen.

Im Buch Exodus wird erzählt, wie Mose mit Gottes Hilfe zunächst in Mara das bittere und ungenießbare Wasser in trinkbares Süßwasser verwandelt. Nach dem quälenden Marsch durch die Wüste findet das Volk schließlich in Elim einen Ort zum Ausruhen und Lagern. Dort, in Elim, so heißt es, gab es 12 Wasserquellen und 70 schattenspendende Palmen. Ein wunderbarer Ort für die Menschen nach all den bitteren Erfahrungen in Ägypten und in der Wüste! Die biblische Geschichte von Mara und Elim ist eine Geschichte der Heilung nach Knechtschaft und Dürre und Not.

Auch die Geschichte des Deutschen Koordinierungsrates ist so eine Heilungsgeschichte. Und jedes einzelne der vergangenen 70 Jahre ist wie eine der Palmen in Elim, in deren Schatten sich Christen und Juden lagern konnten nach der Katastrophe der Shoah. Hier machen sie seitdem die gemeinsame Erfahrung, wie durch Begegnung und Dialog das Bitterwasser der Geschichte allmählich verwandelt wird in genießbares Trinkwasser, von dem wir leben können.

Die 70 Jahrwochen der Brüderlichkeit reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Kette. Und die beeindruckende Reihe derer, die seit 1968 die Buber-Rosenzweig-Medaille empfangen haben, führt vor Augen, wie weit der Deutsche Koordinierungsrat hineinwirkt in die Breite von Kirche und Gesellschaft, wie stark er in Wissenschaft, Kultur und Politik die Verständigung zwischen Juden und Christen befördert hat und immer wieder befördert. Dabei geschieht die kontinuierliche Hauptarbeit an der Basis, auf lokaler und regionaler Ebene, in den vielen Einzelgesellschaften vor Ort, über ganz Deutschland verteilt. Da wird echte Gemeinschaft im Alltag gelebt zwischen jüdischen Menschen und evangelischen und katholischen Christinnen und Christen.

Die Evangelische Kirche ist dem Deutschen Koordinierungsrat zutiefst dankbar. Nicht nur, weil zu den Preisträgern der Buber-Rosenzweig-Medaille auch etliche evangelische Persönlichkeiten und Institutionen gehören. Sondern vor allem, weil nach 1945 gerade für uns evangelische Christen die Erkenntnis der bleibenden Verbundenheit von Juden und Christen, von Israel und Kirche zu einer grundlegenden Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum geführt hat. Und damit zu einem grundlegend neuen Selbstverständnis unseres christlichen Glaubens. Das ist für uns ein kostbares Geschenk.

Im Jahr 2009 kam es auf Initiative des Deutschen Koordinierungsrates zu einem ersten Begegnungstreffen zwischen Mitgliedern des Rates der EKD, der Deutschen Bischofskonferenz und den beiden Rabbinerkonferenzen. Seither finden diese Begegnungen regelmäßig statt und haben jedes Jahr ihren festen Platz im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit. Inzwischen ist dort eine Atmosphäre des Vertrauens gewachsen, in der auch schwierige Fragen und kontroverse Themen offen besprochen werden können.

Immer wieder gehen vom Koordinierungsrat starke Impulse aus; gerade auch in der kritischen Begleitung und in pointierten Stellungnahmen – sei es in der Diskussion um die Stellung der Hebräischen Bibel (unseres Alten Testaments) im christlichen Kanon [Slenczka-Debatte], sei es in den jüngsten Debatten zum Israel-Palästina-Konflikt oder zum höchst beunruhigenden Phänomen des gesellschaftlichen Antisemitismus.

Im Vorfeld des 500. Jubiläumsjahrs der Reformation hatte der Deutsche Koordinierungsrat schon früh eine kritische Auseinandersetzung eingefordert mit der Judenfeindschaft der Reformatoren, allen voran Martin Luthers. Und nicht von ungefähr entstand die Idee einer kirchlichen Stiftungsprofessur zum christlich-jüdischen Dialog als Zeichen der Versöhnung im Rahmen der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit 2016 in Hannover.

Der Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, hat die Einrichtung dieser Stiftungsprofessur vor zwei Jahren in der Frankfurter Paulskirche öffentlich angekündigt. Mit der Stiftungsprofessur setzen die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen ein Zeichen der Buße und der Abkehr von ihrem schuldbeladenen Weg. Ausdrücklich wollen wir den Weg des Dialogs und der Verbundenheit mit dem Judentum gemeinsam weitergehen – im Vertrauen auf Gottes große Barmherzigkeit und seine unverbrüchliche Treue zu seinem auserwählten biblischen Gottesvolk Israel.

Heute kann ich Ihnen mit Freude verkünden, dass vor wenigen Tagen eine junge jüdische Wissenschaftlerin den Ruf auf die besagte Professur an der Berliner Humboldt-Universität angenommen hat.

Auch in Zukunft werden wir nicht auf den Koordinierungsrat verzichten können! Im Gegenteil. Womöglich werden wir ihn nötiger brauchen denn je. Denn, verehrte Festgemeinde, wenn es um Dialog und Verständigung geht, um Versöhnung und Vergebung, dann reichen 70 Jahre nicht aus. „Wie oft muss ich meinem Nächsten, der an mir sündigt, vergeben?“ fragt der Jünger Petrus seinen Herrn. Und Jesus antwortet: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ (Matthäus 18,22)

Antisemitismus und Judenhass sind mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und dem Ende der NS-Diktatur nicht verschwunden. Wir beobachten, wie rechtspopulistische Stimmen und judenfeindliche Ressentiments nicht nur in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, sondern auch bei uns, auch in der Kirche, wieder Resonanz und Gehör finden. Jüdische Menschen werden auf offener Straße tätlich angegriffen und bespuckt und trauen sich kaum mehr, öffentlich als Jüdinnen und Juden sichtbar und erkennbar zu sein. Eine rechtsextreme Partei plakatierte im Wahlkampf unverhohlen: „Israel ist unser Unglück“. Der menschenverachtende Anschlag auf die Synagoge in Halle liegt nur wenige Tage zurück. Diese schockierenden Entwicklungen betreffen uns alle im Innersten. Sie machen deutlich, wie unverzichtbar der Deutsche Koordinierungsrat nach wie vor ist. Im Kampf gegen Hass und Judenfeindschaft ebenso wie im Eintreten für Versöhnung und Verständigung.

Gott segne Ihre Arbeit – für die nächsten siebenmal siebzig Jahre!