Themenheft online 2020: "Tu deinen Mund auf für die Anderen"

Die Arbeit der Kinder- und Jugendparlamente.
Wie motiviert man die junge Generation, sich zu engagieren und für ihre Interessen einzustehen?

Katharina Welslau*

„Fridays for Future“-Demonstrationen, 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention und der politische Diskurs über neue Parteien: Noch nie war die Jugend in der deutschen Geschichte präsenter und engagierter als jetzt. Kinder und Jugendliche, die während und außerhalb der Schulzeit auf die Straße gehen, um für das Klima zu demonstrieren, sich über die Köpfe der Erwachsenen hinwegsetzen um für ihre Rechte einzutreten, laut zu werden und ihren Standpunkt deutlich machen! Das hat es zuvor in dieser Form noch nicht gegeben. Wie aber motiviert man junge Menschen dazu, sich zu engagieren, sich stark zu machen und ihre Meinungen und Wünsche zu äußern?

Das Kinder- und Jugendparlament (KiJuPa) in Recklinghausen ist ein Gremium, das gewählt wurde, um Kinder und Jugendliche am Stadtgeschehen zu beteiligen. Es besteht aus 59 Mitgliedern im Alter von zehn bis 21 Jahren. Es behandelt Themen wie Spielflächen, Gedenkveranstaltungen, politische Weiterbildung und das allgemeine Stadtgeschehen.

Die Hauptaufgabe des KiJuPas ist die Partizipation und die Interessenvertretung von Kindern und Jugendlichen in der Politik. So hat das Parlament im Ausschuss Kinder, Jugend und Familie zwei feste Sitze, Rede- und Antragsrechte, ebenso im Koordinierungskreis für Toleranz und Zivilcourage, im Kinder- und Jugendrat NRW und in der AG-Spielflächen. Darüber hinaus hat es zwei Gästeplätze im Schulausschuss und beteiligt sich am Kreisgremium.

Alle drei Jahre finden im September an den weiterführenden Schulen der Stadt Recklinghausen und in den Jugendzentren die Wahlen zum Kinder- und Jugendparlament statt. In den Schulen sowie in den Jugendeinrichtungen stellen die aktuellen Mitglieder des KiJuPas ihre Arbeit vor und werben für die Wahl. Mit einem Steckbrief kann jedes Kind und jeder Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahren für sich werben und sich aufstellen lassen. Gewählt werden kann jedes Kind, das einen festen Wohnsitz in Recklinghausen hat oder dort eine weiterführende Schule besucht. So soll die Zielgruppe der jungen Menschen, die sich in Recklinghausen aufhalten, erreicht werden. Die Anzahl der Mandate, die eine Schule erhält, ist abhängig von ihrer Größe. Eine Schule hat mindestens zwei, maximal vier Sitze im Parlament. Jugendzentren erhalten zwei Mandate und Jugendtreffs ein Mandat.

Die 59 gewählten Mitglieder des Parlaments schließen sich in ihrer dreijährigen Legislaturperiode zu verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen und arbeiten an neuen Konzepten, Aktio-nen und Kampagnen. Hierbei sind sie frei in Gestaltung und Themenwahl. Eine Sozialarbeiterin steht ihnen beratend zur Seite. Durch die Angliederung an den Fachbereich Kinder, Jugend und Familie in Recklinghausen ist es den Mitgliedern des KiJuPas ohne großen Aufwand möglich, sich in speziellen Fragen direkt an zuständige Mitarbeiter zu wenden. Das Parlament wählt in der konstituierenden Sitzung einen Vorsitz, Leitungsgremium genannt. Dieses vertritt das KiJuPa in der Öffentlichkeit, ist für die Pressearbeit zuständig und hat den Überblick über die laufenden Geschäfte.

Ein besonders wichtiges Anliegen ist den jungen Parlamentariern und Parlamentarierinnen das gemeinsame Miteinander. Nicht nur in der Stadt Recklinghausen, sondern auch in Deutschland, in Europa und über dessen Grenzen hinaus. Als im Frühjahr 2015 vermehrt politisch und religiös motivierte Anschläge verübt wurden, rief das KiJuPa zum „Toleranztag“ auf. Gemeinsam mit 250 Menschen setzten die Jugendlichen ein deutliches Zeichen gegen Fremdenhass. Es wurde eine Menschenkette gebildet, eine Kerze als Symbol des Miteinanders herumgereicht und Statements der jungen Engagierten verlesen. Recklinghausen ist eine Stadt mit vielen Kulturen und Religionen, das Stadtbild ist bunt und freundlich. Daher war es den Mitgliedern des KiJuPas ein großes Anliegen in der Öffentlichkeit aufzutreten und sich für ein gemeinsames Miteinander, unabhängig von Religion, Geburtsort oder Hautfarbe, auszusprechen.

Ein weiteres vom KiJuPa durchgeführtes Projekt war die Gestaltung eines Karnevalswagens für den Rosenmontagsumzug der Stadt. Der Umzug ist hoch frequentiert von allen Jugendlichen der Stadt und ein großes Event für alle Bürgerinnen und Bürger. Das KiJuPa machte es sich zur Aufgabe, Themen zu verwenden, die alle Jugendlichen betreffen. So gab es 2014 einen Karnevalswagen, der das Thema Social Media (Facebook und Co.) in den Fokus stellte und die Frage aufwarf, was man von seinem Leben tatsächlich auf einer Internetplattform teilen sollte. 2015 beteiligte sich das KiJuPa am Rosenmontagszug mit einem Wagen zum Thema „Ich bin anders – was soll’s? Gegen Trans- und Homophobie“. Obgleich nicht jedes Mitglied Berührungspunkte mit dem Thema hatte, konnte gemeinsam daran gearbeitet werden. Sich für andere stark zu machen und dies auch nach außen zu vermitteln, ist dem KiJuPa ein großes Anliegen.

So rief eine AG des KiJuPas im Dezember 2016 zu einer Spendenaktion auf. Zum einen gab es auf dem Weihnachtsmarkt einen Verkauf von selbstentworfenen, professionell hergestellten Weihnachtskugeln mit dem Slogan „Liebevoll füreinander, miteinander“, um mit dem Erlös neue Sportschuhe für geflüchtete Kinder kaufen zu können, die sonst nicht am Sportunterricht hätten teilnehmen können. Zum anderen sammelten die Mitglieder Spenden in Form von Spielen und Unterhaltungsmaterial für die Kinderklinik in Datteln, um den Langzeitpatienten einen abwechslungsreichen Alltag zu ermöglichen. Auch hier zeigt sich, dass den jungen Menschen ein gutes und respektvolles Miteinander ohne jede Einschränkung am Herzen liegt.
Zwei Jahre später, 2018, hatte die AfD eine Kundgebung auf dem Rathausplatz angemeldet. Um dieser möglichst wenig Raum zu geben, stellte die Stadt Recklinghausen ein buntes und fröhliches Friedensfest auf die Beine, an dessen Vorbereitungen sich das KiJuPa beteiligte und das Fest mit einem eigenen Informationsstand, einer Luftballonaktion und einem Tanzflashmob unterstützte. Auch hier war es den Jugendlichen ein persönliches Anliegen deutlich zu zeigen: Wir sind offen, wir sind bunt, wir sind eins!

Im November 2018 erreichte das KiJuPa eine Anfrage der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, ob es sich an der Vorbereitung des Holocaustgedenktages beteiligen möchte. Die Jugendlichen waren höchst interessiert und engagiert, Reden und kleine Aktionen für diesen Tag und die Gedenkstunde vorzubereiten. Dieses Engagement rührt nicht zuletzt daher, dass einige der Mitglieder über die Zusammenarbeit des Fachbereichs Kinder, Jugend und Familie und dem Institut für interkulturelle Begegnung und Zusammenarbeit „Die Brücke“ die Möglichkeit hatten an Jugendbegegnungsreisen nach Israel und Polen teilzunehmen. In Israel besuchten sie unter anderem Yad Vashem, Kapernaum, den See Genezareth, die Grabeskirche, die Klagemauer und die Al Aqsa Moschee. In Polen stand der Besuch des Deportationszentrums der Oberschlesier in die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg (Radzienkow) sowie die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und das Stammlager Auschwitz auf dem Programm. Diese tiefprägenden, historischen Orte berührten die Jugendlichen enorm und brachten Gespräche und Gedanken hervor, die wir ihnen zunächst nicht zuschreiben würden: reflektiert und bestürzt über die deutsche Geschichte und über aktuelle politische Geschehen in Deutschland und in der Welt. Die Jugendlichen besuchten Vorträge in der Volkshochschule zum Thema Antisemitismus, Workshops zu Argumentationsstrukturen gegen Stammtischparolen und wohnten Stolpersteinverlegungen bei. Bei einem Besuch des Holocaust-Überlebenden Sally Perel führten sie mit ihm intensive Gespräche, die alle sehr berührten. 2018 wurde Recklinghausen Austragungsort für die Verleihung der Buber-Rosenzweig Medaille. Das KiJuPa wurde zu diesem Festakt eingeladen und durfte an allen Veranstaltungen teilnehmen.

Seit diesem Jahr arbeitet das KiJuPa gemeinsam mit dem Kinderschutzbund Recklinghausen zusammen in einer Kinderrechte-AG. 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention sind die Kinderrechte noch lange nicht jedem ein Begriff. In der AG schreiben Jugendliche Kolumnen über die einzelnen Kinderrechte, die einmal im Monat in der lokalen Presse veröffentlicht werden. Dies geschieht, um allen Menschen in Recklinghausen die Kinderrechte näher zu bringen und all jene, die nichts oder wenig darüber wissen, über die unterschiedlichen Aspekte der Konvention zu informieren. Die Kolumne wird sehr gut angenommen und die Jugendlichen denken darüber nach, eine Sammlung der Texte als Heft zu veröffentlichen.  

Auch bei den „Fridays for Future“-Demonstrationen nehmen die Mitglieder des KiJuPas regelmäßig teil. Der Zwiespalt zwischen Schulpflicht und das Recht auf Meinungsäußerung beschäftigt die jungen Menschen sehr. Die Klarheit darüber, dass sie erst dann gehört werden, wenn die Politik genug Druck zu spüren bekommt, verunsichert viele. Für etwas wie den Klimawandel auf die Straße zu gehen, ein globales Problem anzuprangern und um schnelle und effektive Abhilfe zu bitten gelingt offenbar nur, wenn die jungen Menschen während der Schulzeit an Demonstrationen teilnehmen. Denn hierbei gerät das Bildungssystem in Gefahr, was einer baldigen Konfliktlösung bedarf. Bereits 2011 hat es sich ein junger Deutscher zur Aufgabe gemacht, den Klimawandel in den Fokus der Öffentlichkeit zu stellen und auf seine Folgen aufmerksam zu machen. Das Ziel des damals 14-jährigen Felix Finkbeiner war, eine Millionen Bäume zu pflanzen. Er gründete die Kinder- und Jugendinitiative Plant for the Planet und bereits nach drei Jahren hatte er sein Ziel erreicht. 2018 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Allerdings hatte sich in der Politik nichts verändert. Erst mit Greta Thunberg und dem weltweiten Schulstreik geschah etwas.

Was also braucht es, um Jugendliche dazu zu bringen sich zu engagieren? Sich für Minderheiten und andere Menschen stark zu machen?

Die Antwort könnte nicht einfacher sein. Wir Erwachsene müssen den Kindern und Jugendlichen zuhören. Und nicht nur das. Wir müssen sie hören. Kinder und Jugendliche wissen besser als wir alle, was sie benötigen. Wonach sie sich sehnen, was ihre Sorgen und Ängste sind, was sie sich wünschen. Die Erwachsenen müssen lernen den Kindern und Jugendlichen gut zuzuhören. Nehmen wir an, in einer Stadt X soll ein neuer Spielplatz gebaut werden. Groß, pompös, bunt. Alle Erwachsenen finden die Pläne hervorragend und sie liegen im Budget. In dem Viertel, in dem der Spielplatz entstehen soll, treffen sich die Kinder allerdings jeden Tag auf dem Parkplatz des Supermarktes, um Fußball zu spielen. Wäre es nicht ein großer Gewinn diese Kinder zu befragen, was sie sich wünschen? Ist es ein Fußballplatz? Gibt es eventuell in der näheren Umgebung schon einen Fußballplatz, den die Kinder zuvor nicht wahrgenommen haben? Man kann nicht immer allen Wünschen gerecht werden. Man kann nicht alles nach den Wünschen einzelner ausrichten. Aber man kann Kompromisse eingehen. Man kann Dialoge führen. Und man kann einander verständlich machen, warum einige Dinge gehen und andere nicht. Was brauchen unsere Kinder und Jugendlichen also, um sich zu engagieren? Wir müssen sie hören und wir müssen sie wertschätzen. Sie haben großartige Ideen. Wer sich als Teil der Gemeinschaft fühlt, wird sich um sie sorgen, seine Ideen zur Verbesserung einbringen und für sie einstehen. Kinder und Jugendliche sind ein großer Teil unserer Gesellschaft, sie sollten ebenso einbezogen werden, wie alle anderen auch. Erwachsene sollten ihnen das passende Werkzeug an die Hand geben. Politische Bildung und Aufklärung können eine Radikalisierung, Rassismus und falsche Menschenbilder verhindern. Wir sollten alles daransetzen, die nächste Generation bestmöglich geschult in die Erwachsenenwelt zu entlassen. Ebenso wichtig ist es flexibel zu sein. Oft haben wir als Erwachsene eine genaue Vorstellung, wie etwas auszusehen hat, wie etwas ablaufen soll oder wie etwas werden soll. Ein wenig Mut zur Veränderbarkeit könnte uns allen guttun.

Die Arbeit mit Kinder-und Jugendlichen kann nur gelingen, wenn wir all das ernst nehmen: Zuhören, Wertschätzen, Flexibilität. Themen, die Kinder und Jugendliche betreffen und beschäftigen, müssen im Fokus stehen. Sie sind die Experten für ihr Lebensumfeld und wir können die Unterstützer sein.

(*Katharina Welslau ist Koordinatorin des
Kinder- und Jugendparlaments in Recklinghausen
)


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