Themenheft online 2020: "Tu deinen Mund auf für die Anderen"

Dass Auschwitz nie wieder sei.
Die Gewerkschaftsjugend im Kampf gegen das Vergessen

Christin Siebel*

Die Vorkommnisse in Halle am Jom Kippur 2019 haben schmerzhaft deutlich gemacht, dass Antisemitismus und Rassismus inzwischen ganz offen ausgelebt werden und daher gesamtgesellschaftlich dagegen angeganen werden muss. Die Gewerkschaftsjugend ist nicht nur der Bereich für alle Mitglieder unter 27 Jahre, sie ist auch ein eigenständiger Jugendverband, dem die besondere Aufgabe zukommt, junge und heranwachsende Menschen abzuholen und zu sprachfähigen Teilen unserer Gesellschaft zu machen, die Missstände eigenständig erkennen und für ein gutes Leben zu kämpfen. Viele Gewerkschaftsjugenden sind auf kommunaler Ebene in Bündnissen aktiv. Ob als Organisator*innen, zur Mobilisierung einer breiten Masse oder einfach, um gemeinsam Flagge gegen Rechts zu zeigen. All das ist wichtig, gerade wenn man als Organisation eine entsprechende Geschichte hat.

Geschichte, die verpflichtet

Am 2. Mai 1933 wurden Gewerkschafter*innen von den Nazis in KZs deportiert oder auf offener Straße erschossen. Die Nazis überfielen die Gewerkschaftshäuser, beschlagnahmen ihr Vermögen und überführen es in die neugegründete Deutsche Arbeitsfront. Freie Interessenvertretung und Mitbestimmung für Arbeitnehmer gab es ab diesem Moment nicht mehr. Am 2. Mai 1933 wurden die freien Gewerkschaften zerschlagen.

Als Gewerkschaftsjugend kämpfen wir Tag für Tag für Gerechtigkeit. Sei es im Betrieb, in der Berufsschule oder auf der Straße. Alle vier Jahre findet eine Bundesjugendkonferenz statt. 2013 hat dort die Gewerkschaftsjugend mit ihren acht Mitgliedsgewerkschaften auf Grundlage ihrer Gedenkarbeit und ihrer tiefen antifaschistischen Wurzeln einen Antrages formuliert. So heißt es unter anderem:

„Für viele Menschen weltweit wurde das KZ in Auschwitz zum sichtbaren Symbol der Shoa und des nationalsozialistischen Terrors, der Mitte des 20. Jahrhunderts von Deutschland ausging. Die Erinnerung an diese Verbrechen und Unmenschlichkeit ist unvergleichbar und darf nicht relativiert oder vergessen werden. Es ist die Verantwortung der heutigen Generationen die Erinnerung wach zu halten. […] Als Gewerkschaftsjugend stehen wir für eine Antifaschistische Gesellschaft und wollen all den verfolgten, gequälten und ermordeten Menschen –seien es Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Gewerkschafter/-innen, politisch Andersdenkende, Widerständler/-innen oder Angehörigen weiterer verfolgter Gruppen –gedenken und an die nationalsozialistische Herrschaft mahnen. Aus der Erinnerung an die Verbrechen entsteht für die heutigen Generationen aber auch die Verantwortung dafür zu sorgen, dass sich Auschwitz nie wieder wiederholen kann. Nach wie vor sind antisemitische, rassistische und andere menschenverachtende Einstellungen in der Gesellschaft weit verbreitet. […] Die Gewerkschaftsjugend ist sich ihrer Verantwortung bewusst und engagiert sich aktiv gegen menschenverachtende Einstellungen und setzt sich aktiv für eine Erinnerungs-, Verständigungs- und Versöhnungsarbeit ein.“

Darüber hinaus hat die Bundesjugendkonferenz 2013 entschieden, eine große Gedenkstättenfahrt durchzuführen. So heißt es weitergehend in der Beschlusslage „Der 70. Jahrestag der Befreiung ist ein wichtiger Anlass, dieses Gedenken aktiv zu begehen“.

Die Ziele unserer offenen Jugendarbeit sind u.a.: Die Unterscheidung von berechtigter Kritik und Antisemitismus, das Erkennen von Verschwörungstheorien; ein wachsamer Umgang mit Antisemitismus und Hetze im Netz. In der Umsetzung arbeiten wir oft mit niedrigschwelligen Aktionen wie Graffiti, Beteiligung an Demonstrationen und Kundgebungen sowie aktiver Mitarbeit in Bündnissen vor Ort.

Strukturierte Bündnisarbeit als politisches Signal

Im Jahr 2015 jährte sich die Befreiung von Auschwitz zum 70. Mal. Für uns bedeutet dieser Tag Erinnerung, Mahnung und Verantwortung zugleich. Die DGB-Jugend initiierte eine Fahrt mit 1000 Jugendlichen; Unterstützung kam von der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), den Jusos in der SPD, der Naturfreundejugend Deutschlands, SJD – Die Falken, linksjugend ['solid], der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej), Jugendwerk der AWO, der Grünen Jugend, DIDF, der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ), dermisraelischen Gewerkschaftsbund sowie der israelischen Gewerkschaftsjugend (Histadrut und HaNoar HaOved VeHaLomed).

Hier galt es, durch gut strukturierte Bündnisarbeit ein öffentlichkeitswirksames politisches Signal zu bilden, historisches Wissen zu vermitteln, Diskussionen über Erinnerungsarbeit, Gedenkkultur und -politik anzuregen, Verbindungen zur Geschichte der eigenen Organisationen herzustellen und historische Motivation für die Zusammenarbeit in der Zukunft (wieder) zu entdecken.

Dazu gehört, gerade die regionale und lokale Geschichte sichtbar zu machen. Dies geschieht vor allem durch Antifaschistische Stadtrundgänge, Stolpersteinverlegungen, Teilnahme an regionalen Gedenkveranstaltungen (wie 27. Januar oder 9. November) sowie durch das Aufstellen von Gedenktafeln.

Besuch bei der örtlichen Jüdischen Gemeinde und in historischen Instituten helfen, das Erlebte zu vertiefen.

Kooperationen mit Schulen, vor allem den „Schule nohne Rassismus – Schule mit Courage“ ausgezeichneten, ermöglichen jungen Menschen die aktive Beteiligung und Mitgestaltung z.B. bei Gedenkveranstaltungen oder Aktionswochen (wie Woche gegen Rassismus).

Gedenkstättenfahrten

Das Programm der Gedenkstättenfahrt schloss die Erkundung der Städte Krakau und Oswiecim ein, wo die Teilnehmer*innen auch tiefe Einblicke in das jüdische Leben Krakaus von damals und heute nehmen konnten. Für die inhaltliche Auseinandersetzung wurden Workshops zu unterschiedlichen Themen wie „Shoa“ oder "Umgang mit Antisemitismus heute“ angeboten.

Besonderes Augenmerk lag allerdings auf einem Gespräch mit der Zeitzeugin Esther Bejarano, die von 1941 bis 1945 im KZ in Auschwitz inhaftiert war. Besonders im Gedächtnis ist ihre Mahnung geblieben: „Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber Ihr macht Euch schuldig, wenn es Euch nicht interessiert.“

Bereits 1959 fanden unsere ersten Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz statt. Der Bezirk NRW führt inzwischen jährlich zwei Gedenkstättenfahrten von mindestens einer Woche durch, zu denen ein Vorbereitungswochenende verpflichtend dazugehört. Weitere, kürzere Gedenkstättenfahrten (Wochenende) führen nach Buchenwald, Dachau und Amsterdam.

Um entsprechend zu sensibilisieren, gibt es verpflichtende Vorbereitungswochenenden und ausgiebige Nachbereitung. In einigen Städten finden weitere Gedenkstättenfahrten statt, organisiert durch örtliche Jugendausschüsse (Buchenwald, Dachau, Amsterdam). Interesse und Bedarf sind gegeben und werden so weit wie möglich gedeckt.

Zur Erinnerungsarbeit gehören neben Gedenkstättenfahrten auch Zeitzeug*innengespräche, Jugendbegegnungen mit Israel sowie Ausstellungs- und Veröffentlichungsprojekte.

Jugendaustausch: Politische Geschichte und Gegenwart

Für uns zählt nicht nur die Geschichte: Auch die aktuellen Geschehnisse im Nahen Osten sind fester Bestandteil unserer Arbeit. So stehen wir im engen Kontakt mit dem Israelischen Gewerkschaftsbund Histadrut, es finden regelmäßig Jugendbegegnungen mit Israel statt.

Zwischen dem DGB NRW und der Histadrut Tel Aviv besteht seit 1974 eine formelle Partnerschaftsvereinbarung. Es war die erste bilaterale Vereinbarung des DGB überhaupt, und sie war wegweisend: Ein Jahr später folgte der DGB-Bundesvorstand. Der Jugendaustausch nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Bis heute wird diese Vereinbarung gelebt: Jährlich fünf Fahrten statt, davon drei durch die IG BCE Jugend, Verdi Jugend und IG Metall Jugend.

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Wir gehen die Themen Antisemitismus und Rassismus tagtäglich an. Klar ist, dass diese themtische Arbeit von allen Jugendverbänden gebündelt getragen werden müssen. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gerade in dieser Zeit wird das so deutlich wie nie zuvor. Ausgrenzende Haltungen finden sich leider auch unter Kolleg*innen. So haben bei der letzten Europawahl 13 Prozent der befragten Gewerkschafter*innen die AfD gewählt. Das sind 2 Prozent mehr als alle Wähler*innen. Die aktuelle gesellschaftliche Polarisierung trifft damit auch die Gewerkschaften. Nur mit vereinten Kräften können wir dem entgegenstehen. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften tragen ihr antifaschistisches Grundverständnis in die Betriebe. Im Austausch mit den Kolleg*innen, den Betriebs- und Personalräten und den Auszubildendenvertretungen vor Ort erfahren wir, wo Bedarf bei Unterstützung und Weiterbildung besteht. Durch unser breites Angebot an Weiterbildung sind wir außerdem Fachstelle gesellschaftlicher Arbeit.

Angriffe auf gesellschaftliche Akteure

Inzwischen erleben wir Gewerkschafter*innen viele Angriffe – auf Einzelne, wie auch auf uns als gesellschaftliche Akteure. Hier ist der enge Austausch untereinander enorm wichtig. Die Vernetzung hilft, sich über Erfahrungen und erfolgversprechende Strategien auszutauschen. Wir möchten die Lücke schließen zwischen unserer täglichen Arbeit und einer eventuellen „Politik im Elfenbeinturm“ – mit großem Gewinn für beide Seiten!

Die Alarmglocke läutet nicht nur, es ist inzwischen ein lautes, unüberhörbar gewordenes Signal. Grund genug, die wütenden Fäuste aus der Tasche zu nehmen und den Kampf gegen Rechts endlich konsequent anzugehen.

(*Christin Siebel, Jugendbildungsreferentin beim DGB NRW
mit dem Schwerpunkt Antirassismusarbeit
und stellvertretende Vorsitzende von IDA e.V.
)


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