Themenheft online 2018: "Angst überwinden - Brücken bauen"

Sören Kierkegaard
Der Mensch braucht Angst, sonst lernt er nichts

Christian Möller


Am 17. Juni 1844 erscheint in Kopenhagen ein Buch mit dem merkwürdigen Titel: "Der Begriff Angst”. Noch etwas merkwürdiger ist der Untertitel: "Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung über das dogmatische Problem der Erbsünde". Am aller merkwürdigsten aber ist der lateinische Name des Verfassers: Vigilius Haufniensis, zu Deutsch etwa "Der Nachtwächter Kopenhagens". In Dänemarks Hauptstadt weiß man trotzdem sofort, wer sich hinter dem schrulligen Pseudonym verbirgt. Das kann nur der Magister der Philosophie und freischaffende Schriftsteller Sören Aabye Kierkegaard sein!

Erstens hat er schon mehrere Schriften pseudonym veröffentlicht, zweitens zeichnet sich die Neuerscheinung durch die für ihn charakteristische Mischung aus psychologischem Scharfsinn und theologischer Leidenschaft aus. Doch warum die Verkleidung ausgerechnet als Nachtwächter? Nun, in seinem neuesten Werk will Kierkegaard seinen Landsleuten die Nacht erhellen, sprich: die dunkle Seite ihres Wesens. Als Grundzug des Menschen findet er einen in der Philosophie völlig neuen Grundbegriff: die Angst. Er möchte sie allerdings sofort von der Furcht unterscheiden, die einen Gegenstand hat, während Angst gegenstandslos ist. Man fürchtet sich "vor" etwas, aber man "hat" Angst.

Dabei ist Kierkegaard weit davon entfernt, die Angst nur negativ zu beschreiben. Sie bietet dem Menschen unendlich viele Möglichkeiten, unter denen er wählen kann (und muss). Ja, Angst ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit - damit aber auch von potenzieller Sünde. Kierkegaard zieht als Beispiel die biblische Urgeschichte heran und findet: Schon bei Adam und Eva ist die Angst die Voraussetzung des Sündenfalls. Beide geraten in einen "Schwindel der Freiheit" über die Frage, ob sie vom Baum der Erkenntnis essen sollen oder nicht.

Depressionen als Last des Lebens

Dieser Schwindel ist nichts anderes als die Erbsünde, jenes uralte Problem der christlichen Theologie, mit dem sich schon Kirchenvater Augustinus herumschlug. Kierkegaard hebt die Diskussion auf ein neues Niveau. Die Erbsünde besteht für ihn darin, dass dank der menschlichen Fähigkeit zur Angst jeder einzelne, jede Generation in den "Schwindel der Freiheit" gerät - und notwendigerweise schuldig werden muss.

Was von seinen Lesern im Jahr 1844 kaum einer ahnt: Hinter Kierkegaards vertrackten Überlegungen steckt eine existenzielle Erfahrung. Kurz zuvor hatte er sich, nach nur einem Jahr Verlobungszeit, von seiner Verlobten Regine Olsen getrennt. Der Schritt war für ihn selbst höchst schmerzlich, für die junge Frau aber - und mit ihr für halb Kopenhagen - geradezu skandalös. Kierkegaard hatte eine vom Vater ererbte Schwermut an sich entdeckt, eine Lebensgrundangst, die er Regine nicht zumuten wollte. Er trennte sich und blieb bis zum Ende unverheiratet. Seinen gesamten Nachlass vermachte er testamentarisch seiner "ewig geliebten Regine".

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wenn man Kierkegaards Angstanalyse lediglich als Sublimierung einer unglücklichen Liebesgeschichte abtun würde. Gerade, um solche Klatsch-Missverständnisse zu vermeiden, hat er ja zwischen sich und seine Leser das Pseudonym "Vigilius Haufniensis" geschoben. Der gerade einmal 31-jährige Philosoph und Theologe behauptet selbstbewusst: Seine Lebensangst ist keineswegs ein privates, genetisches Problem, sondern geradezu ein Grundpfeiler der condition humaine.

Angst steckt in jedem Menschen

Die Angst steckt in jedem Menschen, aber die schwere Aufgabe besteht darin, sie zuzulassen und richtig mit ihr umzugehen. Zum Modellfall wird für ihn das Grimmsche Märchen von "Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen": „Dies ist ein Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat: Dass er lerne sich zu ängsten, denn sonst geht er dadurch zugrunde, dass ihm nie angst war, oder dadurch, dass er in der Angst versinkt; wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt".

Seine Schwermut macht Kierkegaard nicht nur unglücklich, sie treibt ihn auch zu rastloser schriftstellerischer Tätigkeit an. Wie es sich für einen Nachtwächter gehört, schreibt er vor allem in den Nächten, übrigens immer im Stehen (in jedem seiner Zimmer lässt er ein Schreibpult aufstellen). In den Stunden, wo er einen Griffel in der Hand hat, kann er der Schwermut enteilen. Tagsüber entflieht er ihr, indem er über Kopenhagens Straßen und Märkte flaniert. Vielen Mitbürgern erscheint er wie der witzigste Mensch Kopenhagens.

Seine Nichte Henriette Lund erinnert sich nach seinem Tod: „Die Straßen Kopenhagens waren für ihn ein Empfangszimmer im Großen, wo er sich früh und spät umhertrieb und mit allen redete, mit denen er Lust hatte. Als er fort war, und ich nicht mehr der bekannten und lieben Gestalt begegnen sollte, kam es mir vor, als sei plötzlich die ganze Stadt leer und fremd geworden."

Der große Kierkegaard

Doch neben dem schwermütigen Philosophen und dem witzigen Flaneur gibt es noch einen dritten Kierkegaard: den Theologen und Prediger. Im Glauben findet Kierkegaard die Aufhebung seiner Widersprüche. In verblüffenden Analysen biblischer Texte interpretiert er das Wesen der Gnade und der göttlichen Vergebung. Dabei ist er alles andere als ein steifer Kanzelmoralist.

Auf eine wohl bei keinem der großen Philosophen antreffbare Weise durchdringen sich bei ihm Schwermut und Humor, Tiefsinn und Ironie. Der Spaßgesellschaft schreibt er ins Stammbuch: Wehe den Leichtfertigen, die nicht wahrhaben wollen, wie brüchig der Boden unter den Füßen des Menschen ist. Als Gegenmittel empfiehlt er: „Das Evangelium ist Trost für Schwermütige und Ernst für Leichtsinnige."

Die Maskeraden des Nachtwächters von Kopenhagen erweisen sich als höchst erfolgreich. Als Kierkegaard 1855 stirbt, mit nicht einmal 43 Jahren, ist er eine lokale Berühmtheit, aber in seiner wahren Bedeutung völlig verkannt. Sein unglaublich umfangreiches Werk wird erst drei Generationen später entdeckt, von Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Franz Kafka, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Karl Barth und Rudolf Bultmann.

An seinem 200. Geburtstag darf man bilanzieren: Unter den zwanzig, dreißig großen Philosophen des Abendlandes ist Sören Kierkegaard ein Tausendsassa wie sonst vielleicht nur noch Blaise Pascal: Philosoph, Schriftsteller, Theologe, Psychologe - und natürlich Nachtwächter.

© WELT ONLINE vom 03.05.2013, Ressort: debatte
Christian Möller ist emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg.
Im April 2013 erschien von ihm und Michael Heymel eine Einführung in das Werk Kierkegaards:

"Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Glaube und Denken bei Sören Kierkegaard",
TVZ Zürich/ EVA Leipzig 2013.


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