Themenheft online 2014: "Freiheit - Vielfalt - Europa"

Drei Phasen des islamischen Kampfes

Seit mehr als eintausend Jahren erlebt der Westen den Konflikt mit der muslimischen Welt. An die Stelle kriegerischer Auseinandersetzung ist heute die Einwanderung getreten

Bernard Lewis

 

Herkömmlicherweise lässt man die moderne Geschichte des Nahen Ostens am Ende des 18. Jahrhunderts beginnen, als es einem kleinen französischen Expeditionskorps, kommandiert von einem jungen General namens Napoleon Bonaparte, gelang, Ägypten zu erobern und ungestraft zu unterwerfen. Es war ein furchtbarer Schock für den Islam, dass eines seiner Zentren praktisch ohne nennenswerten Widerstand erobert, besetzt und kontrolliert werden konnte.

Der zweite Schock folgte ein paar Jahre später, als die Franzosen wieder abzogen, was nicht den Ägyptern zu verdanken war und auch nicht ihren Protektoren, den Türken, sondern einem kleinen Marinegeschwader der Royal Navy, befehligt von dem jungen Admiral Horatio Nelson, der die Franzosen vertrieb und zurück nach Frankreich schickte. Die Begebenheit ist symbolisch bedeutsam, weil von da an die Kernlande des Islam nicht länger zur Gänze von den Herrschern des Islam kontrolliert wurden. Sie standen unter dem direkten oder indirekten Einfluss von außen.

Die dominierenden Kräfte in der islamischen Welt waren fortan Kräfte von außen. Westliche Einflüsse bestimmten das Leben. Westliche Rivalitäten eröffneten die einzigen Alternativen. Die politische Spielräume, die islamische Führer besaßen, bestanden allein darin, von den Rivalitäten der äußeren Mächte zu profitieren und sie gegeneinander auszuspielen. Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich daran wenig geändert. Während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und auch im Kalten Krieg erlebten wir, wie nahöstliche Regierungen dieses Spiel mit wechselndem Erfolg spielten.

Doch nun ist es beendet. Jene Ära, die mit Napoleon und Nelson begann, wurde von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow abgeschlossen. Seither wird der Nahe Osten nicht mehr von äußeren Mächten beherrscht. Die Nationen dort haben Schwierigkeiten, sich auf diese neue Situation einzustellen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und die Konsequenzen zu tragen, aber sie fangen damit an, und diese Veränderung hat – salopp gesagt – durch Osama bin Laden in der ihm eigenen Deutlichkeit Ausdruck gefunden.

Nach dem Ende der Ära äußerer Dominanz erleben wir die Rückkehr bestimmter älterer Tendenzen der nahöstlichen Geschichte, die in den Jahrhunderten westlicher Einflussnahme verschüttet oder doch zumindest nicht ohne weiteres erkennbar waren. Nun sind diese alten Bekannten wieder in den Vordergrund gerückt. Einer von ihnen sind die inneren Kämpfe – die ethnischen, religiösen und regionalen. Natürlich gab es diese Auseinandersetzungen auch in der imperialistischen Ära, doch waren sie damals von geringerer Bedeutung. Nun brechen sie wieder hervor und nehmen an Heftigkeit zu. Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten offenbart es – etwas, dass es Jahrhunderte lang in dieser Form nicht gegeben hat.

Darüber hinaus gibt es unter Muslimen Anzeichen für eine Rückkehr zu dem, was sie als kosmischen Kampf zweier Religionen um die Weltherrschaft begreifen: die Auseinandersetzung zwischen dem Christentum und dem Islam. Es gibt viele Religionen auf der Welt, aber es gibt nur zwei, die für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Wahrheiten nicht nur universal seien – das behaupten alle Religionen –, sondern auch exklusiv; dass sie – die Christen im einen Fall, die Muslime im anderen – die glücklichen Empfänger von Gottes finaler Botschaft an die Menschheit seien, einer Botschaft, die sie nicht – wie die Juden oder die Hindus – selbstsüchtig für sich zu behalten, sondern ohne Rücksicht auf jedwedes Hindernis dem Rest der Menschheit zu überbringen hätten. Dieses der Christenheit und dem Islam gemeinsame Selbstverständnis führte zu jenem langen Kampf, der seit mehr als vierzehn Jahrhunderten währt und nun in eine neue Phase eintritt. In der christlichen Welt ist diese triumphalistische Haltung im 21. Jahrhundert ihrer Zeitrechnung nicht mehr maßgeblich und auf einige wenige Minderheiten beschränkt. In der Welt des Islam hingegen ist der Triumphalismus nach wie vor eine bedeutende Kraft, die in neuen militanten Bewegungen ihren Ausdruck findet.

Es ist interessant, dass sich beide Seiten lange Zeit geweigert haben, diesen Kampf als solchen anzuerkennen. So nannten beide einander beispielsweise bei nicht-religiösen Namen. Die Christen nannten die Muslime Mauren, Sarazenen, Tataren oder Türken. Selbst von einem Konvertiten hieß es, er sei Türke geworden. Die Muslime wiederum sprachen von der christlichen Welt als von den Römern, Franken, Slawen und so fort. Erst zögerlich gab man einander religiöse Bezeichnungen, die dann meistens abwertend oder falsch waren. Im Westen war es üblich, Muslime Mohammedaner zu nennen, was diese selber nie sagten – eine Bezeichnung, die auf den Irrglauben gründete, dass die Muslime Mohammed verehrten wie die Christen Jesus. Der muslimische Begriff für Christen wiederum war Nazarener. Er implizierte die Vorstellung eines lokalen Kults.

Die Kriegserklärung steht gleichwohl am Anfang des Islam. Es gibt angeblich vom Propheten Mohammed an den christlichen Kaiser von Byzanz, den Kaiser von Persien und andere Herrscher gerichtete Briefe. Sie besagen: Ich habe nun Gottes finale Botschaft überbracht. Deine Zeit ist vorbei. Dein Glauben ist verdrängt. Akzeptiere meine Mission und meinen Glauben oder danke ab oder füge dich – du bist erledigt. Die Authentizität dieser Propheten-Briefe ist fraglich, aber die Botschaft ist klar und authentisch insoweit, als sie die für lange Zeit vorherrschende Sicht der islamischen Welt repräsentiert.

Ein wenig später werden die Beweise härter – im buchstäblichen Sinn: in Form von Inschriften. Viele der Leser dieser Zeilen sind bestimmt schon in Jerusalem gewesen. Wahrscheinlich haben Sie dort den Felsendom besucht. Seine Architektur entspricht der der frühesten christlichen Kirchen. Er wurde Ende des siebten Jahrhunderts von einem der frühen Kalifen erbaut und ist das älteste religiöse Gebäude des Islam außerhalb Arabiens. Bezeichnend ist die Botschaft der Inschriften im Innenraum: "Er ist Gott, Er ist eins, Er hat keinen Teilhaber, Er zeugt nicht, Er wurde nicht gezeugt." Dies ist eine Kampfansage an die zentralen Grundsätze des christlichen Glaubens. Interessanterweise wurde das gleiche auf eine Goldmünze geprägt.

Der daraus resultierende Konflikt, der eher aus Ähnlichkeiten denn aus Differenzen erwächst, hat drei Phasen durchlaufen. Die erste beginnt mit den Anfängen des Islam, der sich über die arabische Halbinsel, wo er entstand, verbreitete, Syrien, Palästina, Ägypten und Nord-Afrika eroberte – alles damals Teil der christlichen Welt – und dann Europa erreichte: Spanien, Portugal und Süditalien, die allesamt Teil der islamischen Welt wurden. Der Islam überquerte bekanntlich sogar die Pyrenäen und besetzte für eine Weile Teile Frankreichs.

Nach langem und erbittertem Kampf gelang es den Christen, Teilgebiete zurückzuerobern, jedoch nicht das gesamte verlorene Gebiet. In Europa aber hatten die Christen Erfolg, und in gewisser Weise wurde Europa von den Grenzen dieses Erfolgs definiert. Die christlichen Könige scheiterten in Nord-Afrika und dem Nahen Osten. Vor allem misslang die Rückeroberung des Heiligen Lands in einer Reihe von Feldzügen, die als Kreuzzüge bekannt wurden.

Unterdessen bereitete die islamische Welt, zum ersten Mal besiegt, den zweiten Angriff vor. Dieses Mal wurde er von Türken und Tataren geführt. Mitte des 13. Jahrhunderts waren die mongolischen Eroberer Russlands zum Islam konvertiert. Die Türken, die bereits Anatolien erobert hatten, rückten nach Europa vor und nahmen 1453 das christliche Konstantinopel ein. Sie besetzten große Teile des Balkan und beherrschten eine Zeit lang halb Ungarn. Zweimal stießen sie bis nach Wien vor, das sie zuletzt 1683 belagerten. Korsaren aus den Barbareskenstaaten plünderten Westeuropa. Sie erreichten sogar Island und raubten 1631 (das originale) Baltimore aus. In einem zeitgenössischen Dokument werden 107 Gefangene aufgelistet, die von Baltimore nach Algier verschleppt wurden.

Wieder schlug Europa zurück, diesmal erfolgreicher und schneller. Es gelang, Russland und die Balkan-Halbinsel zurückzuerobern, weiter in die islamischen Länder vorzustoßen und deren Herrscher dahin zurückzutreiben, wo sie hergekommen waren. Für diese Phase des europäischen Gegenangriffs wurde ein neuer Begriff erfunden: Imperialismus. Seltsam, nicht wahr: Als die Völker Asiens und Afrikas nach Europa vordrangen, war das kein Imperialismus. Als Europa Asien und Afrika angriff, war es welcher.

Dieser europäische Gegenangriff läutete eine neue Phase ein, die den europäischen Angriff bis ins Herz des Nahen Ostens trug. In unserer Zeit haben wir das Ende der daraus folgenden Dominanz erlebt. Osama bin Laden hat in Reden und Erklärungen Interessantes über den Krieg in Afghanistan gesagt, der, wie Sie sich erinnern, im Rückzug der Roten Armee und dem Kollaps der Sowjetunion endete. Wir neigen dazu, das als Sieg des Westens zu begreifen, konkreter als amerikanischen Sieg im Kalten Krieg gegen die Sowjets. Für bin Laden war es nichts dergleichen. Es war ein muslimischer Sieg in einem Dschihad. Wenn man sich ansieht, was in Afghanistan geschah und was darauf folgte, ist das keine völlig unplausible Interpretation.

Wie bin Laden es sah, hatte der Islam die schlimmste Demütigung nach dem Ersten Weltkrieg erlitten, als das letzte der großen muslimischen Imperien – das Osmanische Reich – aufgelöst und sein Territorium größtenteils auf die siegreichen Alliierten aufgeteilt und das Kalifat abgeschafft und der letzte Kalif ins Exil getrieben wurde. Das schien der Tiefpunkt der muslimischen Geschichte zu sein. Von da an ging es aufwärts.

In dieser Sicht hat der tausendjährige Kampf zwischen Gläubigen und Ungläubigen verschiedene Phasen durchlaufen, in denen Letztere von verschiedenen europäischen Mächten angeführt wurden, die den Römern als Führer der Welt der Ungläubigen nachgefolgt sein sollen – das christlich-byzantinische Kaiserreich, das Heilige Römische Reich, das britische und französische und russische Imperium. In dieser letzten Phase, so Osama bin Laden, sei die Welt der Ungläubigen geteilt gewesen zwischen zwei rivalisierenden Supermächten, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Der gefährlicheren und todbringenderen dieser beiden Supermächten hätten sich die Muslime gestellt, sie hätten gegen sie gekämpft, sie besiegt und vernichtet. Die weichen, verzärtelten und weibischen Amerikaner wären danach keine große Sache mehr.

Diese Überzeugung wurde in den Neunzigerjahren bestätigt, als wir einen Angriff nach dem anderen auf amerikanische Basen und Anlagen erlebten, die, von bösen Worten und teuren Raketenangriffen auf entlegene und unbewohnte Gebiete abgesehen, praktisch ohne Folgen blieben. Die Lehren aus Vietnam und Beirut wurden in Mogadischu bestätigt: "Schlag sie und sie laufen weg." Das war die Wahrnehmung bis 9/11. Der Angriff vom 11. September 2001 war offenkundig als Schlusspunkt einer ersten Welle und als Beginn einer neuen gedacht. Der Krieg sollte mitten ins Feindeslager getragen werden. In den Augen einer fanatisierten und entschlossenen Minderheit von Muslimen hatte schnell darauf die dritte Welle des Angriffs begonnen: die Angriffe auf Europa. In diesem Zusammenhang sollten wir uns nichts vormachen: Diesmal nehmen die Attacken verschiedene Formen an, genauer – zwei Formen: Terror und Migration.

In früheren Zeiten wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein Muslim freiwillig in ein nicht-muslimisches Land gezogen wäre. In der Literatur zur Scharia wird das Thema breit diskutiert, aber in etwas anderer Form: Ist es für einen Muslim zulässig, ein nicht-muslimisches Land zu besuchen oder dort zu leben? Und wenn ja, was hat ein Muslim dort zu tun? Ein Gefangener hatte offenkundig keine Wahl, doch musste er seinen Glauben bewahren und so schnell wie möglich zurückkehren. Ein anderes Beispiel ist der Fall eines Ungläubigen im Land der Ungläubigen, der das Licht sieht und den wahren Glauben annimmt – mit anderen Worten ein Muslim wird. Er muss das Land so schnell es geht verlassen und in ein muslimisches Land umsiedeln. Kurz, lange Zeit waren Muslime in ungläubigen Ländern nur dann von ihren Mitgläubigen geduldet, wenn sie entführt worden oder – später! – als Diplomaten und Handlungsreisende tätig waren.

Mit Fortschreiten des europäischen Gegenangriffs stellte sich freilich eine neue Frage: Wie verhielt es sich mit einem Muslim, dessen Land von Ungläubigen erobert wurde? Durfte er bleiben? Wir haben interessante Dokumente aus dem 15. Jahrhundert, als die Rückeroberung Spaniens abgeschlossen war. Sie besagen: Nein, er darf nicht bleiben. Daraufhin lautete die Frage: Darf er bleiben, wenn sich die christliche Herrschaft als tolerant erweist? Das war zwar damals eine hypothetische Frage, aber die Antwort lautete dennoch: Nein, denn die Versuchung, vom Glauben abzufallen, wäre nur noch größer. Die Eroberten müssten gehen und hoffen, dass ihre Heimat zurückgewonnen und der wahre Glaube wiederhergestellt würde. Das war die Ansicht der meisten Gelehrten. Andere freilich – zunächst eine Minderheit, dann eine zunehmend gewichtige Gruppe – erklärten, dass es Muslimen erlaubt sei, in den eroberten Gebieten zu bleiben, wenn gewisse Bedingungen erfüllt seien, zuvörderst die Erlaubnis, ihren Glauben zu praktizieren.

Damit stellt sich eine nächste Frage: Was bedeutet, den Glauben zu praktizieren, genau? Ich möchte daran erinnern, dass wir es hier nicht nur mit einer anderen Religion zu tun haben, sondern auch mit einem anderen Verständnis von Religion, insbesondere da, wo es die Scharia betrifft, das heilige Gesetz des Islam, das viele Bereiche abdeckt, die selbst im christlichen Mittelalter, gewiss aber in unserer manchmal post-christlich genannten Epoche als säkular gelten.

Offenkundig gibt es manches in Europa, was auf Muslime anziehend wirkt, angesichts der zunehmenden Verarmung der muslimischen Welt – nicht zuletzt die europäischen Sozialsysteme und der Arbeitsmarkt. Europa bietet zudem Meinungsfreiheit und ein Bildungssystem, das es in den muslimischen Ländern nicht gibt. Das ist ein großer Anreiz für migrierende Terroristen. Terroristen haben es in Europa – und bis zu einem gewissen Grad auch in Amerika – leichter, ihre Taten vorzubereiten, als in islamischen Ländern.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit aber auch auf einige andere bedeutsame Faktoren lenken. Einer davon ist der neue Radikalismus in der islamischen Welt, der in verschiedenen Ausformungen auftritt: bei Sunniten, insbesondere Wahhabiten, und iranischen Schiiten seit der iranischen Revolution. Wir erleben das befremdliche Paradox, dass die Gefahr, die vom islamischen Radikalismus oder einem radikalen Terrorismus ausgeht, in Europa und Amerika weit größer als im Nahen Osten und Nord-Afrika ist, wo man weit besser darin ist, Extremisten unter Kontrolle zu halten.

Der Wahhabismus hat vom Prestige, vom Einfluss und der Macht des Hauses Saud profitiert, das die Heiligen Stätten des Islam und die jährliche Pilgerreise kontrolliert und enorme Einnahmen aus dem Ölgeschäft zur Verfügung hat. Der Fall der iranischen Revolution liegt anders. Der Begriff Revolution wird im Nahen Osten oft gebraucht. Er ist nahezu der einzige allgemein akzeptierte Titel der Legitimation. Doch die iranische Revolution ist eine echte Revolution im Sinn der französischen oder russischen. Wie diese hatte sie enorme Auswirkungen auf die ganze Region, mit der die Iraner im Diskurs stehen – also: auf die islamische Welt.

Lassen Sie mich auf das Thema Assimilation kommen, das heute breit diskutiert wird. Inwieweit ist es für muslimische Migranten, die sich in Europa, Nordamerika oder sonst wo niedergelassen haben, möglich, Teil der dortigen Gesellschaft zu werden? Hier gilt es mehrere Punkte anzusprechen. Einer von ihnen ist der unterschiedliche Begriff von Assimilation und Akzeptanz. Hier gibt es eine Differenz zwischen der Situation in Europa und den USA. Um Amerikaner zu werden, muss ein Einwanderer seine politische Loyalität wechseln. Franzose oder Deutscher zu werden hingegen, meint einen Wechsel der ethnischen Identität. England kennt beides. Wer eingebürgert wurde, war Brite, englisch wurde er deshalb nicht.

Ich habe die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Religion ist, bereits erwähnt. Für Muslime umfasst sie eine Vielzahl von Bereichen – Ehe, Scheidung und Erbe sind nur die naheliegendsten. In der westlichen Welt sind dies seit der Antike säkulare Angelegenheiten. Die Trennung von Kirche und Staat, Spirituellem und Temporärem ist eine christliche Unterscheidung, die in der islamischen Geschichte keinen Platz hat und Muslimen deshalb schwer zu erklären ist – bis heute. Bis vor kurzem hatten sie nicht einmal Worte dafür. Jetzt gibt es sie.

Wie reagiert Europa auf diese Situation? Oft, wie auch in den Vereinigten Staaten, mit Multikulturalismus und politischer Korrektheit. In der muslimischen Welt gibt es solche Gehemmtheiten nicht. Man ist sich seiner Identität sehr bewusst. Man weiß, wer man ist, und was man ist, und was man will, eine Qualität, die wir in hohem Maß verloren zu haben scheinen. Das ist einerseits eine Stärke, andererseits eine Schwäche.

Manchmal wird der Begriff konstruktives Engagement gebraucht: Lasst uns mit ihnen reden, setzen wir uns zusammen, lasst uns sehen, was man tun kann. Das hat eine lange Tradition. Als Saladin Jerusalem und weite Teile des Heiligen Lands zurückeroberte, gestattete er christlichen Kaufleuten, in den Seehäfen zu bleiben. Offenbar glaubte er, sich dafür rechtfertigen zu müssen, und schrieb einen Brief an den Kalifen in Bagdad. Die Kaufleuten seien nützlich, schrieb er, weil "nicht einer unter ihnen ist, der uns keine Waffen bringt und verkauft, zu ihrem Nachteil und zu unserem Vorteil". Das setzte sich während der Kreuzzüge fort. Es ging auch danach so weiter. Es blieb so, als die Osmanen nach Europa vordrangen, wo sie immer Kaufleute fanden, die bereit waren, ihnen die Waffen zu verkaufen, die sie brauchten, und Bankiers, die bereit waren, ihre Einkäufe zu finanzieren. Das konstruktive Engagement hat eine lange Geschichte.

Es hat auch eine verblüffende moderne Gestalt. Wir selbst sind Zeugen eines außerordentlichen Spektakels geworden, als sich ein Papst bei den Muslimen für die Kreuzzüge entschuldigte. Ich möchte das Verhalten der Kreuzfahrer nicht verteidigen, es war in vielerlei Hinsicht grauenhaft. Aber lassen sie uns verhältnismäßig denken. Wir sollen nun glauben, dass die Kreuzzüge ein unberechtigter Akt der Aggression gegen die friedliche muslimische Welt gewesen seien. Wohl kaum! Zum ersten päpstlichen Aufruf zum Kreuzzug kam es 846 nach unserer Zeitrechnung , als eine arabische Expedition aus Sizilien den Tiber hinaufsegelte und St. Peter in Rom plünderte. Eine Synode in Frankreich rief die christlichen Herrscher dazu auf, sich gegen "die Feinde Christi" zu sammeln, und der Papst, Leo IV., bot himmlischen Lohn für jene, die im Kampf gegen die Muslime fielen. Anderthalb Jahrhunderte und viele Schlachten später, 1096, trafen die Kreuzfahrer tatsächlich im Nahen Osten ein. Die Kreuzzüge waren eine späte, begrenzte und erfolglose Imitation des Dschihad – ein Versuch, mittels eines heiligen Kriegs zurückzugewinnen, was durch einen heiligen Krieg verloren war. Er misslang und wurde nicht wiederholt.

Hier ist ein jüngeres Beispiel für Multikulturalismus. Am 8. Oktober 2002 sprach der französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin – ein strammer Katholik, wie ich höre – vor der französischen Nationalversammlung über die Lage im Irak. Über Saddam Hussein sagte er, einer von dessen Helden sei Saladin, der auch aus Tikrit stammte. Für den Fall, dass seine Zuhörer nicht wüssten, wer Saladin sei, erklärte Raffarin, dass es Saladin gelungen sei, "die Kreuzfahrer zu besiegen und Jerusalem zu befreien." Jawohl! Wenn ein französischer Premier Saladins Eroberung des von größtenteils französischen Kreuzfahrern gehaltenen Jerusalem als Akt der Befreiung beschreibt, deutet das auf einen ziemlich extremen Loyalitätswechsel hin.

Den islamischen Radikalen ist es gelungen, in Europa einige Verbündete zu finden. Um sie zu beschreiben, muss ich die Begriffe rechts und links verwenden, die zunehmend in die Irre führen. Sie sind schwer auf die heutigen Verhältnisse im Westen anzuwenden. Und sie sind kompletter Unsinn, wenn man sie auf die unterschiedlichen Zweige des Islam appliziert.

Die islamischen Radikalen haben eine gewisse Anziehungskraft auf die antiamerikanische Linke in Europa, für die sie gewissermaßen an die Stelle der Sowjetunion getreten sind. Die antisemitische Rechte sprechen sie an, weil sie in deren Weltsicht an die Stelle der alten Achsenmächte treten. So haben sie in beiden Gruppen Unterstützer gefunden. Bei manchen Europäern wiegt der Selbsthass schwerer als ihre Loyalität der eigenen Gesellschaft gegenüber.

Eine interessante Ausnahme bilden in diesem Zusammenhang die Türken in Deutschland. Sie haben sich zuweilen mit den Juden verglichen und sich als Opfer des deutschen Rassismus in deren Nachfolge gestellt. Ich entsinne mich an eine Diskussionsrunde mit einigen ihrer Vertreter in Berlin, wobei mir eine Formulierung besonders lebhaft in Erinnerung ist: "In tausend Jahren sind sie (die Deutschen) nicht in der Lage gewesen, 400.000 Juden zu akzeptieren. Gibt es da Hoffnung, dass sie zwei Millionen Türken akzeptieren werden?" So wurde sehr geschickt mit den Schuldgefühlen der Deutschen gespielt, um effektive Maßnahmen zum Schutz einer deutschen Identität zu verhindern, die, so meine ich, wie andere europäische Identitäten auch gefährdet ist.

Doch das soll nur ein kurzer Einwurf sein. Sinnvoller ist es auf die Frage der Toleranz zu kommen. Am Ende der ersten Phase der christlichen Rückeroberung wurden Muslime vor die Wahl gestellt: Taufe, Exil oder Tod. In den ehemals osmanischen Ländern in Südosteuropa ging es ein wenig toleranter zu. Einige muslimische Minderheiten blieben in bestimmten Balkanländern, die Probleme reichen bis in die Gegenwart. Man muss nur an das Kosovo oder an Bosnien denken. Ich erwähne das, weil es in scharfem Gegensatz zu der Behandlung von Christen und anderen Nicht-Muslimen in den islamischen Ländern der damaligen Zeit steht.

Als die Muslime nach Europa kamen, erwarteten sie ein gewisses Maß an Toleranz. Sie hatten das Gefühl, dass ihnen eben das Maß an Toleranz zustünde, das Nicht-Muslimen in den großen muslimischen Imperien der Vergangenheit entgegengebracht worden war. Erwartung und Erfahrung unterschieden sich freilich beträchtlich. Denn in Europa erwartete die Muslime zugleich mehr als auch weniger, als sie sich erhofft hatten: Mehr insofern, als ihnen in Theorie und oft auch in Praxis politische Rechte zugestanden wurden, sie Zugang zum Arbeitsmarkt bekamen, alle Segnungen des Wohlfahrtsstaats, Meinungsfreiheit und so weiter genießen konnten. Doch zugleich bekamen sie signifikant weniger, als sie den Christen einst in den traditionellen islamischen Staaten gegeben hatten. Im Osmanischen Reich hatten die nicht-muslimischen Gemeinden ihre eigene Verwaltung und trieben ihre eigenen Steuern ein. Sie besaßen ihre eigenen Schulen und ihre eigenen Gesetze, was Hochzeit, Ehe, Erbe anbetraf. Die Juden hielten es genauso.

So konnte es also vorkommen, dass drei Männer, die in derselben Straße gelebt hatten, ihren Besitz nach drei verschiedenen Regeln vererbten. Ein Jude konnte vor einem Rabbiner-Gericht für die Missachtung des Sabbats bestraft werden, ein Christ konnte verhaftet werden, weil er sich eine zweite Frau genommen hatte. Bigamie ist ein christliches Vergehen, ein islamisches oder osmanisches Vergehen ist es nicht.

Eine entsprechende Unabhängigkeit gibt es im modernen Staat nicht. Es ist unrealistisch, sie zu erwarten, aber mit dieser Erwartung sind die Muslime gekommen. Wie es ein muslimischer Freund formuliert hat: "Wir haben euch die Monogamie erlaubt, warum solltet ihr uns die Polygamie verbieten?" Solche Fragen werfen andere Fragen auf. Hat ein Immigrant, der nach Europa kommt, nicht das Recht, seine Familie mitzubringen? Aber was genau ist seine Familie?

Wo stehen wir jetzt? Ist die dritte Phase des Kampfes erfolgreich? Die Muslime haben in dieser Auseinandersetzung gewisse Vorteile. Sie sind leidenschaftlich und überzeugt, über Eigenschaften zu verfügen, die in den meisten Ländern des Westens wenig ausgeprägt sind. Sie halten ihre Sache für gerecht, während wir einen Großteil unserer Zeit damit verbringen, uns selbst schlecht zu machen. Sie sind loyal und diszipliniert und – vielleicht am wichtigsten – zahlreich. Die Verbindung von Bevölkerungszuwachs und Migration verändert die Bevölkerungsstrukturen signifikant und könnte künftig zu bedeutsamen Mehrheiten in zumindest einigen europäischen Städten oder sogar Ländern führen.

Aber auch wir im Westen haben Vorteile. Die wichtigsten sind Wissen und Freiheit. Dass modernes Wissen einen Reiz auf eine Gesellschaft ausübt, die auf eine lange Geschichte wissenschaftlicher Errungenschaften zurückblickt, ist offenkundig. Den islamischen Gesellschaften ist ihre Rückständigkeit schmerzlich bewusst. Sie begrüßen die Gelegenheit, aufzuholen.

Weniger offensichtlich ist der Reiz der Freiheit. In der Vergangenheit wurde der Begriff in der islamischen Welt nicht im politischen Sinn verwendet. Freiheit war ein Begriff des Rechts. Man war frei, wenn man kein Sklave war. Anders als im Westen, wurden Freiheit und Sklaverei nicht als Metapher für gute und schlechte Staatsformen gebraucht. Stattdessen wurden gute und schlechte Regierungen mit den Begriffen Recht und Unrecht umschrieben. Eine gute Regierung ist eine gerechte Regierung, eine, in der das heilige Recht einschließlich seiner Einschränkungen von Hoheitsgewalt Anwendung findet. Die islamische Tradition lehnt – in der Theorie und bis zum Anbruch der Moderne oft auch in der Praxis – Despotie emphatisch ab. Unter dem Recht zu leben, kommt dem, was wir Freiheit nennen, am nächsten.

Doch die Idee der Freiheit, wie der Westen sie interpretiert, breitet sich aus. Sie wird besser verstanden, immer mehr geschätzt und immer öfter ersehnt. Auf lange Sicht ist sie unsere größte, vielleicht unsere einzige Hoffnung.

Quelle: Die Welt, 20.04.2013;
Wiederveröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung


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