Themenheft online 2013: "Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis"

Erinnern lernen – Impulse aus biblisch-jüdischen Wurzeln für eine notwendige Zukunftsaufgabe

Astrid Greve


Das Erinnern zu lernen und eine glaubwürdige Gedächtniskultur zu gestalten ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit und nicht zu Unrecht steht sie immer wieder im Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Dabei gehört die Frage, wie die Geschehnisse der Schoa im Gedächtnis der kommenden Generationen verankert werden können, sicherlich ganz oben auf die Tagesordnung des beginnenden 21. Jahrhundert.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Generation der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die noch aus eigener Anschauung von den Ereignissen und Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus erzählen können, geht ihrem Ende zu. Wie wird diese größte Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt werden?

Die Fragen, wie und mit welcher Absicht die biografischen Erinnerungen auch für Nachgeborene festgehalten werden können, wie kommunikative, zurzeit noch lebendige Erinnerung in kulturelle Erinnerung transformiert werden kann, stellen sich mit Nachdruck zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Diese zentrale Fragestellung wird begleitet durch einen ungeheuren Boom neuer Kommunikationstechniken und elektronischer Medien, die ganz neue Formen des künstlichen Gedächtnisses mit sich bringen. Wie werden sie das kulturelle Leben verändern? Ist "speichern" dasselbe wie erinnern? Oder ist es womöglich gleichbedeutend mit "vergessen"?[1]

Wie werden diese neuen Formen die Erinnerungsfähigkeit und das Gedächtnis der Menschen beeinflussen?

Schließlich erscheint heute auf Grund der Informationsüberflutung (Neil Postman) und Beschleunigung (Paul Virilio) das Vergessen häufig geradezu als Selbstschutz. Johann Baptist Metz weist gerade demgegenüber auf die Notwendigkeit einer anamnetischen Kultur hin:

"Das Eingedenken fremden Leids bleibt eine fragile Kategorie in einer Zeit, in der sich die Menschen am Ende nur noch mit der Waffe des Vergessens, mit dem Schild der Amnesie gegen die immer neu hereinstürzenden Leidensgeschichten und Untaten wappnen zu können meinen: Gestern Auschwitz, heute Bosnien und Ruanda und morgen? "[2]

Um das "richtige" Erinnern, um die Einrichtung von Gedenktagen und –orten, um ein Zuviel oder Zuwenig des Erinnerns wird gestritten wie selten zuvor – Stichworte sind Berliner Holocaust-Denkmal, bzw. inzwischen Denkmäler, Wehrmachtsausstellung, Goldhagen, Bubis-Walser-Debatte Entschädigungszahlungen… So wichtig dieser Streit ist, so sehr er das Fragen wachhält, so wenig kann sich darin eine Gedenkkultur erschöpfen und nicht von ungefähr liegt der Verdacht nahe, dass das Erinnern jener Ereignisse, um die es geht, dabei "entsorgt" wird.

"Die biblische Tradition, insbesondere der Kern der hebräischen Bibel, das Deuteronomium, gilt als ein besonderes Beispiel "kultureller Memotechnik"

  • Wie kann es gelingen, den Gefahren des Beschwörens und Ritualisierend einerseits, des Verdrängens und Vergessens andererseits zu entgehen?
  • Wie kann authentisches, unverzwecktes Erinnern gelernt werden? Ein Erinnern, das nicht in fertigen Ritualen festgelegte Verhaltensnormen vorschreibt, ein Erinnern, das uns nicht im Blick auf die Vergangenheit zur Salzsäule erstarren lässt; ein Erinnern, das sich den Opfern verpflichtet weiß – und der sich neu stellenden, schwierigen Aufgabe der Differenzierung dabei nicht ausweicht, ein Erinnern, das für unsere Zukunft wesentliche Impulse der Vergangenheit aufgreift und zum Handeln befreit?

Lernen und Erinnern haben einiges gemeinsam, allemal dieses, dass die nachhaltige Prozesse sind, die Geduld, einen langen Atem, Emotionen und alle Sinne brauchen, aber auch, noch schwerwiegender, dass sie ein anspruchsvolles Ziel haben: Die Veränderung von Menschen hin zu einem befreiten, selbstbestimmteren Leben und die Veränderung unmenschlicher Verhältnisse.

Ich möchte angesichts der gegenwärtigen Fragestellungen bezüglich der Entwicklung einer Gedenkkultur Vergewisserung in den biblisch-jüdischen Wurzeln suchen. Die biblische Tradition, insbesondere der Kern der hebräischen Bibel, das Deuteronomium, gilt als ein besonderes Beispiel "kultureller Memotechnik" (Jan Assmann), und hat sich allen Gesetzen des Wandels zum Trotz über Jahrtausende hinweg lebendig gehalten. Die jüdische Erinnerungskultur lebt von diesen Wurzeln und hat sie kreativ fortentwickelt. In dem jüdischen Jahreszyklus, der sowohl biblische wie auch nachbiblische Geschichte für kommende Generationen festhält, ist vor allem die Entdeckung zu machen, wie sehr das jüdische Erinnern eine im Grunde didaktische Kategorie ist, die Sinne und Emotionen nicht ausspart.[3]  Welche Weisungen, das Erinnern zu lernen, sind hier zu finden? Welche Impulse helfen uns weiter in den Bemühungen um eine glaubwürdige und auch für kommende Generationen tragfähige Erinnerungskultur?

Und schließlich: Welche Kriterien finden wir für jene schwierigste der anstehenden Erinnerungsaufgaben, die Erinnerung an die Geschehnisse der Schoah?

Die jüdische Erinnerungskultur und ihre Wurzeln in der hebräischen Bibel

"Die jüdische Bibel ist die reichste Erinnerungswahrerin, die freigebigste Erinnerungsspenderin der Menschheit; wenn irgendwer, wird sie uns lehren, uns wieder zu erinnern. " (Martin Buber)

Zunächst ist zu entdecken, dass die Bibel selbst sehr nachdrücklich eine Didaktik der Erinnerung verfolgt.

Beim Lesen der hebräischen Bibel, insbesondere des Deuteronomiums, springen die vielen Ermahnungen, sich zu erinnern und nicht zu vergessen, förmlich ins Auge. Geradezu verzweifelt muten die immer wiederkehrenden Beschwörungen an, sich zu erinnern, und immer sind sie im Blick auf die kommenden Generationen formuliert.

"Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nichts vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun den Tag, da du vor dem HERRN, deinem Gott, standest an dem Berge Horeb, als der HERR zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass sie meine Worte hören und so mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren.. " (Dtn. 4,9.10)

Nichts scheint weniger selbstverständlich zu sein als das Erinnern, wenn es solch eines eindringlichen Einschärfens braucht, nichts allgegenwärtiger und zugleich bedrohlicher als das Vergessen.

Was aber soll erinnert werden und warum, was sind die Folgen des Vergessens?

Immer wieder wird an den Auszug aus Ägypten erinnert, die große Befreiungstat, die Gott an seinem Volk getan hat und die zum Urdatum der Geschichte des jüdischen Volkes wird. Die Begegnung Gottes mit dem Menschen beginnt als Befreiung, die "im Medium der Geschichte auf allen Ebenen menschlicher Existenz"[4]   geschieht. Weil geschichtliche Ereignisse nicht anders als durch Erinnerung weitergegeben und bewahrt werden können, steht dies Befreiungsereignis, die Erfahrung der Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes, und die Notwendigkeit der Erinnerung in unmittelbarem Zusammenhang.

Von der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten lebt die Hoffnung, auch in gegenwärtigen und zukünftigen Bedrohungen nicht verlassen zu sein. Und so wird dieses Befreiungsereignis in der hebräischen Bibel immer wieder erinnert. Manchmal entgegen der Angst, von anderen Völkern vernichtet zu werden. Manchmal aber wird sie auch kritisch-mahnend erinnert in Zeit gesättigten Wohlstands, in denen gerade die Befreiungstradition, und damit die eigenen Erfahrungen des Sklave-Seins, verloren zu gehen droht. Auch und gerade wenn der Lebenskontext ein völlig anderer geworden ist, findet Israel in seiner Erinnerung ein Stück "portatives Vaterland" (H. Heine). "Wer es fertig bringt, in Israel an Ägypten, Sinai und der Wüstenwanderung zu denken, der vermag auch in Babylonien an Israel festzuhalten. "[5]  So kann in Zeiten des Exils die Erinnerung zur Heimat und zur Rettung werden. Sie hält die Hoffnung darauf fest, dass es anderes gibt als Exil und Unterdrückung.

Die Folge des Vergessens der eigenen Geschichte als einer Geschichte mit Gott sind schwerwiegend – sie ziehen Unheil und Untergang nach sich, auch Gewöhnung an Ungeheuerliches – nicht als Strafe Gottes, aber als logische Konsequenz des menschlichen Handels.

Ich möchte aus dem bisherigen einige wesentliche Punkte festhalten:

  • Erinnern ist alles andere als selbstverständlich, es muss darum gekämpft und gerungen werden; alltäglich, selbstverständlich ist das Vergessen;
  • Eingeschärft wird vor allem ein Ereignis der Befreiung – befreiende und heilsame Erinnerungen stellen sich offenbar nicht von selbst ein, es ist notwendig, sich sehr bewusst um sie zu mühen;
  • In Erinnerung bleiben sollen aber auch die Erfahrungen des Leids, des Unterdrückt- und Fremdling-Seins: sie werden zu einem ethischen Impuls für die Zukunft; das Erinnern ringt um eine Erkenntnis, die durch die Sinne gegangen ist, weil nur sie auch zum Handeln befähigt.
  • An dem Erinnern hängt die Zukunft, es ist notwendig gerade im Blick auf die kommenden Generationen. Die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft in einem bewohnbaren Land hängt an dieser Erinnerung. Und ohne eine solche Hoffnung ist kein Schritt sinnvollen Tuns möglich.

Die im jüdischen Pessachfest Jahr für Jahr wieder-geholte Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, in welchem Ghetto auch immer gefeiert, mündet in dem Ruf: "Und nächstes Jahr im wieder aufgebauten Jerusalem. "

Zwei Fragen tun sich auf:

- Zum einen: Wie wird angesichts dieser lebenswichtigen Bedeutung des Erinnerns das Erinnern selbst gefördert?
- Zum anderen: Wenn das Erinnern insbesondere für die kommenden Generationen so wichtig ist – wie gelingt es, Erinnerung auch über Generationengrenzen hinweg weiterzugeben?

Erinnern über die Generationengrenzen hinweg

Auch wenn angesichts der hebräischen Bibel geradezu von einem "Imperativ des Erinnern" gesprochen werden kann, lässt sich das Erinnern nicht einfach befehlen. Dazu ist es ein viel zu emotional besetzter Vorgang. Das wussten auch diejenigen, die die biblischen Texte verfasst haben, und so begegnen in den biblischen Texten die verschiedensten Bemühungen, die Erinnerungen in den Köpfen und Herzen zu verankern: Das tägliche Bewusstmachen und "Beherzigen" gehören dazu, so im Sch´ma Israel, wie auch Poesie und Lieder, Denkzeichen und Erinnerungszeichen, das Festhalten wichtiger Texte – die Kanonisierung – sowie Ritus und Feste. Und immer geht es um die mit den Zeichen und Symbolen verbundenen Erinnerungen – etwa wenn Josua beim Übergang über den Jordan ins gelobte Land den Auftrag erhält, Steine aus dem Wasser aufzuheben und sie auf der anderen Seite aufzustellen. (Jos 4,6-7).

Alle diese Formen sind sehr sinnlich-emotionale Erinnerungsstützen, immer wieder im Blick auf kommende Generationen entstanden. Sie zielen darauf, die eigene Geschichte als eine Geschichte mit Gott zu bewahren und Erinnerung so zu prägen, dass ihr die zerstörerische Macht genommen wird und sich Türen zur Zukunft öffnen. Dies ist schwere Arbeit angesichts der zahllosen Leidensgeschichten, der biblischen wie der unserer Zeit. Jede einzelne ist ein Argument gegen Gott und ein Beweis für die Macht des Todes in unserer Welt. Sie auszublenden, um den eigenen Glauben zu retten, ist zynisch, sie wahrzunehmen, kann an den Rand der Verzweiflung bringen.

"Es geht darum, sich die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes zu Eigen zu machen, sie zur eigenen Geschichte werden zu lassen. "

In den biblischen Texten ist eine Sprache zu finden, die die Trauer über Zerstörung, Gewalt und Unmenschlichkeit, die so viel Leben vernichtet, aufnimmt und dennoch den Kampf um Hoffnung und hoffnungsvolles tun in dieser Welt nicht aufgibt.

Ein weiterer Grund für all die didaktischen Bemühungen im Zusammenhang mit dem Erinnern ist eben der, dass die Erinnerung, um die es geht – wie insbesondere der Auszug aus Ägypten – Generationengrenzen überspringen muss, sie muss zu kollektiver und darüber hinaus zu kultureller Erinnerung werden. Dies ist die schwierigste, aber zugleich die ureigenste Aufgabe dieser Erinnerung – und so muss die Didaktik die wichtigste Partnerin des Erinnerns sein. Ob es gelingt, Erfahrungen und Erkenntnisse, im biblischen Sinne sogar einen einmal geschlossenen Bund, so weiterzugeben, als wäre er mit dieser neuen Generation selbst geschlossen, ist zukunftsentscheidend.

"Der Herr, unser Gott, hat einen Bund mit uns geschlossen am Horeb und hat nicht mit unseren Vätern diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben. " (Dtn 5,23).

Es geht darum, sich die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes zu Eigen zu machen, sie zur eigenen Geschichte werden zu lassen.

Die didaktische Struktur jüdischen Erinnerns am Beispiel des Sederabends

An keiner Stelle wird die durch und durch didaktische Struktur jüdischen Erinnerns deutlicher als beim Sederabend, jenem ersten Abend des jüdischen Pessachfestes, an dem der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten erinnert wird. Ich möchte daher auf den Sederabend kurz eingehen.

Der Kern des Pressachfestes ist der Sederabend in der Familie. Er steht ganz und gar im Zeichen jenes biblischen Gebots:

"Ihr sollt euren Kindern sagen an demselben Tage: Das halten wir um dessentwillen, was uns der HERR getan hat, als wir aus Ägypten zogen." (Ex 13,8)

Die Mischna[6] formuliert vier Fragen, die vom jüngsten Kind zu stellen sind, und die der Vater mit der Erzählung vom Auszug aus Ägypten beantwortet. Während dies zunächst ein freies Erzählen war, entstand im Laufe der Jahrhunderte eine formalisierte "Erzählung" - die "Haggada". Die Haggada ist weniger eine konsistente Erzählung als ein Mosaik aus Passagen der Bibel, der Mischna und dem Midrasch,[7]  die mit dem Auszug aus Ägypten zu tun haben, sowie bereits bestehenden Segenssprüchen und Gebeten und später hinzugefügten Liedern. Etwa seit dem Mittelalter gibt es eine schriftgewordene Liturgie, die Basis des Sederabends ist.

Die Haggada ist das populärste und beliebteste jüdische Buch, öfter und an mehr verschiedenen Orten nachgedruckt als jedes andere und das am häufigsten illustrierte Buch. Die vielen Haggadot, die es gibt, mit ihren unterschiedlichen Illustrationen, sind ein Spiegel der Zeiten. Jede Generation konnte in der Geschichte der Sklaverei und der Befreiung aus Ägypten die jeweils eigene Unterdrückung und Gefangenschaft wiedererkennen. Für jede Generation stärkte diese Erzählung die Hoffnung auf Befreiung aus den eigenen Nöten.

"Erinnern hat vornehmlich die Aufgabe, Zeit- und Generationengrenzen zu überspringen und damit didaktischen Charakter."

Alles, was am Sederabend auf dem Tisch steht, ist dazu da, die Fragen der Kindern anzuregen. Die in "merk-würdiger" - und damit auch "merkbarer" - Kombination gegessenen Speisen werden mit Deutungen verbunden, die in die Geschichte vom Auszug aus Ägypten hineinführen und somit Erzählanlässe sind. Mazzen, ungesäuertes Brot wird gegessen: " Dies ist das Brot des Elends" - in Erinnerung an die Armut des Lebens in Gefangenschaft, aber auch an die Eile des Auszugs. Die Symbole sprechen nicht für sich, sondern bedürfen einer Deutung, die Möglichkeit verschiedener Erklärungen ist dabei durchaus vorhanden.

Zwei Gebote sind am Sederabend zentral:

  1. Das Essen von Mazzen
    "Am vierzehnten Tag des ersten Monats am Abend sollt ihr ungesäuertes Brot essen bis zum Abend des 21. Tages des Monats. " (Ex 12,15.17.20);
  2. das Erzählen vom Auszug aus Ägypten mit Hilfe der Haggada und den sinnlichen Elementen.

Der Sinn des Abends ist, die Kinder so in die Geschichte des Volkes hineinzustellen, dass sie sie als ihre eigene Geschichte empfinden: es geht um Identifikation und Identitätsstiftung. Der zentrale Satz aus der Pessach-Haggada bringt dies auf den Punkt:

"In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet, sich vorzustellen, er sei selbst mit aus Ägypten gezogen. "

Eine solche Identifikation lässt sich aber nicht per Belehrung oder Information einfach einfordern, sie lässt sich nicht aufoktryieren auf Grund traditioneller Autorität. Identifikation setzt die Erschließung von innen her voraus: nur wenn jene Erinnerungen, um die es geht, sich als sinnstiftend und heilsam, vielleicht sogar "not-wendig" für jeden Einzelnen erweisen, kann Identifikation erfolgen und Identität gestiftet werden. Eine wichtige Bedingung dafür ist das Erzählen.

Es gibt mittlerweile vielfältige Bemühungen auf jüdischer Seite, auch den Holocaust über die Verankerung als Gedenktag hinaus in die Bahnen der Liturgie zu integrieren. So gibt es z.B. Pessach-Haggadot in Erinnerung an den Holocaust. Entsprechend dem zentralen Satz: "In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet sich vorzustellen, als sei er selbst aus Ägypten gezogen " münden diese Bemühungen in der Vorstellung, dass jeder Jude, jede Jüdin selbst in den Todeslagern gewesen ist.

Was können wir aus der hebräischen Bibel und aus dem Dialog mit dem Judentum in Bezug auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Erinnerns lernen?

  1. Erinnern hat vornehmlich die Aufgabe, Zeit- und Generationengrenzen zu überspringen und damit didaktischen Charakter. Es müssen Formen gefunden werden, wie kommunikative, gegenwärtig noch lebendige Erfahrungen und Erinnerungen in kollektive und kulturelle Erinnerungen übergehen können. Dies ist genau der Punkt, an dem wir heute stehen: die Generation jener Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die von den erschütternsten Ereignissen dieses Jahrhunderts und der Menschheitsgeschichte überhaupt noch aus eigener Anschauung und biografischer Erinnerung erzählen können, geht dem Ende zu. Um ihre Erinnerungen nicht verloren gehen zu lassen, müssen neue Formen gefunden werden.
  2. Erinnern braucht Anlässe in Raum, und, noch wichtiger, in der Zeit. Diese Anlässe müssen bewusst und im Blick auf kommende Generationen geschaffen werden. Es können Steine sein, - Denkmäler, Ruinen – aber auch bestimmte Zeiten, Texte, Bilder, Lieder, Gerüche, Speisen, Symbole aller Art – wichtig ist: dass sie auch in völlig veränderten Kontexten, auch im neuen Jahrhundert oder Jahrtausend Anlass zum Fragen werden können. Die Diskussion um Denkmäler und der Erhalt und die fortgesetzte Erforschung der Gedenkstätten ist notwendig. Die Einrichtung des 27. Januar als Tag der Erinnerung an die Schoa ist eine große Chance.
  3. Von pädagogisch weittragender Bedeutung ist das Fragen der Kinder. Biblisch wird es immer wieder formuliert - "Und wenn dich heute oder morgen dein Kind fragen wird…" (Ex 13,14f.) – und in der Pressachhaggada ist es verankert in dem Ritual, dass das jüngste Kind die entscheiden Fragen stellt. Eigene Fragen zu stellen ist der Ausgangspunkt des Lernens. Nur wenn eigenes Fragen und Suchen – nach Erklärung, nach Orientierung, nach Identifikationsmöglichkeiten, nach Sinn, nach Antworten auf drängende Fragen der Gegenwart – im Spiel ist, können Lernprozesse angebahnt werden, die mehr sind als Wissensspeicherung. Nicht zufällig wird gerade in neueren Konzepten etwa zur Gedenkstättenpädagogik immer wieder die eigene Aktivität und die Selbsttätigkeit der Jugendlichen auf freiwilliger Basis in der Erarbeitung historischer Fakten und ihrer Deutungen betont.
  4. Die vielfältigen Symbole der biblisch-jüdischen Tradition sind allesamt sehr sinnliche, stark emotionale Erinnerungsstützen. Symbole sind Knotenpunkte menschlicher Erfahrungen. Das didaktische Potenzial der Symbole wird bewusst genutzt, um nachfolgenden Generationen wesentliche Erfahrungen ihrer Vorfahren zugänglich zu machen und dabei zugleich jeweils neue und eigene Erfahrungen zu evozieren. Jeder Generation wird damit auch die Möglichkeit gegeben, ihre jeweils eigenen Zugänge zu finden.
  5. Die Vieldeutigkeit von Symbolen verlangt nach einer Erschließung in Verbindung mit authentischen Erfahrungen. Symbole brauchen als Antwort nicht Erklärungen, sondern Erzählungen. Die Mazzen und das Erzählen sind die zwei tragenden Mizwot, Gebote, des Sederabends: Die Symbole werden mit der Notwendigkeit des Erzählens verbunden, erst das Erzählen verbindet sie mit einem deutenden und orientierten Kontext. Auch dies lässt sich auf die NS-Geschichte übertragen: Die bloßen Fakten sind deutungsbedürftig, auch Gedenkstätten erschließen sich nicht von selbst. In der Vergangenheit war es häufig gerade die Begleitung durch Zeitzeugen und ihre Erzählungen, die jungen Menschen eindrückliche Lernerfahrungen ermöglichten.[8]
  6. Der didaktische Charakter biblisch-jüdischen Erinnerns erschöpft sich aber nicht nur in der Kunst der Vermittlung und der Entwicklung vielfältiger Formen dafür. Didaktik ist im entscheidenden immer die Frage: Was ist für die kommenden Generationen notwendig zu lernen?[9] Notwendig ist auf dem Hintergrund der biblischen Geschichte offenbar, wesentliche Erfahrungen der Befreiung nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren, weil sie die Hoffnung auf Zukunft stärken; notwendig ist aber auch – und das ist nirgends so eindrücklich ablesbar wie an den biblischen Texten – die Geschichten der Leidenden nicht zu vergessen. Hoffnung auf eine menschliche Zukunft ist nicht glaubwürdig, wenn die Opfer, wenn der Schmerz und die Trauer um die Zerstörungen übergangen werden.

Elie Wiesel sagt: "Ich will auf keinen Fall die Verzweiflung vermehren, wenn ich die Geschichte der Opfer erzähle. … Wir sollten die Geschichte erinnern, um die Verzweiflung zu bekämpfen."[10]  

Aber auch ein so bewusst gestaltetes Erinnern, wie es in den biblisch-jüdischen Fest- und Gedenktagen zu finden ist, gelingt nicht immer und schon gar nicht "von selbst" . Über die didaktischen Schwierigkeiten dieses Prozesses wird in der Haggada selbst reflektiert. Es gibt eine kleine Erzählung von vier Söhnen. Sie stehen für vier Generationen wachsender Entfremdung von ihrer eigenen Tradition und Geschichte. Erfahrungen mit den Schwierigkeiten der Vermittlung kollektiver Erinnerungen stehen im Hintergrund der folgenden Erzählungen:

"Vier verschieden geartete Kinder sind es, von denen die Tora spricht: einer – ein Verständiger; einer – ein Böser, einer – ein Einfältiger; und einer, der noch nicht zu fragen versteht. Wie spricht der Verständige? ‚Was bedeuten die Zeugnisse, Gesetze und Rechtssatzungen, welche der Ewige, unser Gott, euch befohlen hat"’ (Dtn 6,20). Diesen belehre über die Vorschriften für das Pessachfest bis zu dem Satze: ‚Man beschließe nicht den Genuss des Pessachopfers mit einem Nachtische.’

Wie spricht der Böse? ‚Was soll euch dieser Dienst?’ (Ex 12,26) – E u c h? Nicht auch ihm? Nun, sie mache auch du ihm die Zähne stumpf und sage ihm: Um dieses willen hat es der Ewige mir getan, als ich aus Ägypten zog.’ (Ex 13,8). Mir, nicht ihm. Wäre er dort gewesen, er wäre nicht befreit worden.

Wie spricht der Einfältige? ‚Was ist das?’ Diesem antworte wie es heißt: ‚Mit starker Hand hat uns der Ewige aus Ägypten, aus dem Hause der Knechtschaft geführt.’ (Ex 13,14).

Und mit dem, der noch nicht zu fragen versteht, eröffne Du das Gespräch, wie es heißt (Ex 13,8): ‚Du sollst deinem Kinde an jenem Tage erzählen und ihm sagen: Um dieses willen hat es der Ewige mir getan, als ich aus Ägypten zog.’ "[11]  

Mir kommt es hier vor allem au das vierte Kind an. Es versteht noch nicht – oder auch nicht mehr – zu fragen, weil es so wenig weiß von der Geschichte und der Tradition seines Volkes – oder auch, weil es noch zu klein ist. Dies wird zunehmend die Ausgangslage sein in Bezug auf den Holocaust. - "Eröffne du das Gespräch" , heißt es - es ist die Pflicht der Erwachsenen, das Gespräch zu eröffnen.

Wie schwierig genau dies ist, wird für uns heute nirgendwo so deutlich wie am Umgang mit unserer jüngsten Vergangenheit. Vielfach war die Generation der Zeit des Dritten Reiches noch nicht einmal bereit, sich den Fragen der Kinder zu stellen – geschweige denn, dass sie selbst das Gespräch eröffnet hätte. Sowohl auf Seiten der Täter als auch auf Seiten der Opfer ist gerade das Nicht-Erzählen eine belastende Tatsache. Was für eine große Herausforderung die Pflicht ist, das Gespräch zu eröffnen, lässt sich angesichts der Schmerzhaftigkeit und Scham, die mit diesem Erinnern verbunden ist, kaum überschätzen. Für die Zukunft ist die Herausforderung deutlich: Wie lässt sich das Gespräch mit Kindern eröffnen, für die der Holocaust kein Anlass des Fragens mehr ist?  Welche Erinnerungs- und Erzählanlässe können geschaffen werden? Welche Geschichten werden erzählt?

Kriterien für ein Erinnern-Lernen im Blick auf die Schoa

Nach der Vertiefung in die Bedeutung, Struktur und Didaktik des jüdischen Gedächtnisses soll nun der Blick anhand der entwickelten Kriterien noch einmal auf die Frage der Erinnerung an die Schoa gerichtet werden.

"In der pädagogischen Arbeit ist es wichtig, nicht nur das Grauen, den Abgrunds der Verfolgung und Vernichtung sehen zu lehren. Lernende brauchen auch Ermutigungen, Menschen, die zu positiver Identitätsbildung einladen."

Zu Beginn steht jedoch die Einsicht, dass wir nicht in einer über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsenen Erinnerungskultur leben, wie sie das Judentum darstellt. Der Verlust der anamnetischen Kraft im Lauf der christlichen und der Kirchen-Geschichte hat etwas zu tun mit dem Antijudaismus und dem Antisemitismus, der schließlich auch Auschwitz ermöglichte.[12]

Deutlich ist: Wir sind auf die Anfänge zurückgeworfen. Wie können wir das Erinnern wieder lernen? Wie können wir es im Dialog mit dem Judentum, aber ohne ein weiteres Mal zu enteignen, indem wir jüdische Erinnerungsformen einfach übernehmen? Auf welche vergessenen Elemente der eigenen christlichen Tradition, die wie die jüdische eine "Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft" (J.B. Metz) ist, können wir zurückgreifen?

Das Vorzeichen, unter dem die folgenden Überlegungen stehen, ist mit folgenden Zitat von Elie Wiesel, markiert:

"Die Frage aber lautet: Kann die Geschichte des Holocaust überhaupt vermittelt werden? Ich glaube nicht. Trotzdem, wir müssen es versuchen. Ich weiß, ich bin unfähig dazu, aber ich werde niemals aufgeben, es zu versuchen. " (Elie Wiesel)[13]

Alles notwendige pädagogische Bemühen um die Frage nach der Vermittlung dessen, was das Wort Schoah bedeutet, hat dieses "TROTZDEM" zum Ausgangspunkt.

Nicht um fertige Konzepte kann es gehen, wohl aber um die Suche nach Kriterien und nach Wegen aus diesem Dilemma.

Welche Kriterien haben wir gewonnen im Blick auf das Erinnern an die Schoa?

- Ein sehr wichtiges Kriterium angesichts der biblischen Erinnerungsgeschichte ist, dass es offenbar insbesondere befreiende Erinnerungen sind, die Menschen brauchen. Wie aber ist angesichts der schrecklichen Schuld- und Leidensgeschichte des Holocaust Erinnerung möglich, die befreiend und heilend ist?

Wer in Yad Vashem in Jerusalem, der jüdischen Erinnerungsstätte an die Schoah, war, weiß, dass der Weg zur den Orten der Erinnerung durch die "Allee der Gerechten" führt. Das Wissen, dass es Menschen gegeben hat, die sich der Mordmaschinerie widersetzt haben, die sich geweigert haben, die auch ihr Leben dafür verloren, ist notwendig – um nicht völlig zu verzweifeln.

In der pädagogischen Arbeit ist es wichtig, nicht nur das Grauen, den Abgrund der Verfolgung und Vernichtung sehen zu lehren. Lernende brauchen auch Ermutigungen, Menschen, die zu positiver Identitätsbildung einladen. Die Geschichten von HelferInnen und RetterInnen zu erinnern, zu erzählen, zu rekonstruieren, dem Vergessen abzuringen, ist eine wichtige und bis heute unabgeschlossene Aufgabe. Was waren das für Menschen, was waren ihre Motive, woher nahmen sie Mut, Entschlossenheit, Kraft? Warum wurden sie nicht zu Mitläufern, Zuschauern, Tätern? Was ist an ihrem Verhalten, ihrer Persönlichkeit, den Bedingungen ihres Handelns zu lernen?

Konkrete Zugänge für Unterricht und Projektarbeit werden im Buch "Schoa. Schweigen ist unmöglich" von Albrecht Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt, Jörg Thierfelder 1999 herausgegeben, vorgestellt. Hier finden sich Hintergründe zur jüdischen Tradition der "36 verborgenen Gerechten", auf denen, wenn sie auch unbekannt und verborgen sind, das Schicksal der Welt ruht. Weiter finden sich Literaturvorschläge, Hilfen zu regionalgeschichtlicher Spurensuche, Erarbeitungshilfen zu verschiedenen Filmen, z.B. zum Film "Schindlers Liste" unter dem Titel "Entscheidungen – Probeweise Rollenübernahme"; und andere vielfältige Anregungen für Unterricht und Projektarbeit sowie Materialien.

Natürlich birgt auch dieser Zugang Gefahren: die der Mythisierung von Helden; die der Verharmlosung der Schoa, die der Entlastung von Verantwortung – Gefahren, denen begegnet werden muss. Die anderen Geschichten, die der Täter und Mitläufer, aber auch die der Opfer, die keine Handlungs- und Entscheidungsspielräume mehr hatten, werden darüber nicht vergessen.

Immer aber ist wichtig, nach Wegen des Erinnerns zu suchen, die nicht lähmen, sondern befreien zum verantworteten Umgang mit der Vergangenheit und damit mit der Zukunft, befreien zum Handeln im Hier und Jetzt.

-    Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Notwendigkeit des Erzählens.

Erzählungen sind etwas anderes als historische Berichte und Dokumentationen, Essays und wissenschaftliche Abhandlungen. Sich auch nur auf eine der mittlerweile sehr vielen Geschichten oder Erzählungen, die es gibt, einzulassen – etwa "Die Nacht", von Elie Wiesel – reicht aus, den Keim zum Fragen zu legen, das "Interesse" zu wecken im wahrsten Sinne des Wortes: Wir sind auf einmal mittendrin, mitten in einer Welt, zu der wir sonst keinen Zugang haben; wir müssen uns mit dieser anderen Welt auseinander setzen und werden damit konfrontiert, "dass die Welt, in welcher wir leben und uns wohl fühlen, nicht die einzige Welt sein muss, dass sie vielleicht sogar – ein erschreckender Gedanke – nicht mehr die ‚wirkliche’ Welt ist".[14]  Robert McAfee Brown, Professor für Theologie und Ethik an der Pacific School of Religion, Berkeley, und einer der wichtigsten protestantischen Theologen in den USA, schreibt in Bezug auf Geschichten wie die von Wiesel: "Wenn wir uns nicht auf findige Weise verschließen, werden wir mit den Geschichten konfrontiert; sie machen uns betroffen, verwickeln uns mit dem Erzählten und nehmen uns mit hinein in das Geschehen. Nicht ganz hinein, aber dennoch weit genug, um Auschwitz nicht länger zu ignorieren. Weit genug, um uns vorzustellen, dass wir vielleicht in der gleichen Situation auf der Seite der Henker gestanden hätten…".[15] "Nachdem wir uns auf eine Auseinandersetzung eingelassen haben, bleibt nichts, wie es war."[16] Wer sich auf die Geschichten wirklich einlässt, kommt nicht unverändert daraus hervor, kann nicht mehr gleichgültig bleiben.

Wenn die Zeitzeuginnen und –zeugen, die von ihren Erfahrungen erzählen können, nicht mehr sind, müssen ihre Geschichten und Erzählungen ihre Arbeit übernehmen. M.E. ist die Schule nach wie vor ein Ort, an dem die Chance besteht, sich in der Gemeinschaft intensiv auch mit dieser Literatur auseinander zu setzen.

Innerhalb der Geschichtsdidaktik hat Jörn Rüsen ein Konzept entwickelt, in dem es mit Nachdruck um die "narrative Kompetenz" geht, die für die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins unerlässlich ist. Den Beginn haben die Überlebenden gemacht, indem sie von ihrem Erfahrungen in den Lagern erzählten. Ihr Wunsch, dass auch ihre Adressaten zu Zeugen werden, die die gehörten Lebensgeschichten weitererzählen, verlangt narrative Kompetenz. Ein sehr gelungenes Beispiel für das literarische Weitertragen der uns anvertrauten Zeugnisse ist das Buch von Katharina Hacker: Eine Art Liebe. Die junge deutsche Ich-Erzählerin nimmt die Geschichte Saul Friedländers auf[17]   und flicht sich auf kunstvoll-literarische und zugleich sensible und nachdenkliche Weise in den unabgeschlossenen Erinnerungsprozess hinein.

-    Schließlich halte ich für ein wichtiges Kriterium das der "Aneignung". Von der jüdischen Erinnerung ist zu lernen, dass es darum geht, die Kinder in die Geschichte des Volkes hineinzustellen. Das Geschichtsbewusstsein, um das es hier geht, ist etwas anderes als das Wissen um Fakten und Daten der Geschichte. Die Vergangenheit muss in den entscheidenden Punkten in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Ein öffentliches Gedenken, das persönliche Erinnerungen, Verknüpfungen mit der jeweils eigenen Lebens-Story der Einzelnen nicht einzubinden  schafft, steht in der Gefahr, Erinnerung zu entsorgen. ("In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet sich vorzustellen, er sei selbst mit aus Ägypten gezogen.)

Dies ist natürlich in Bezug auf eine massive Schuldgeschichte wie die der deutschen Vergangenheit unendlich schwer. Und dennoch: Es ist unmöglich, ein gesundes Selbstwertgefühl – und dies gilt auch in Bezug auf eine nationale Identität – aufzubauen, "solange die dunklen und mörderischen Seiten der deutschen Vergangenheit ausgeklammert, also unbewusst oder unbekannt bleiben."[18]

In den pädagogischen Überlegungen bezüglich einer aufklärerischen Erinnerungsarbeit steht nicht zu Unrecht im Vordergrund, den eigenen Lebenskontext der Jugendlichen, ihre ganz eigenen Verstehensbedingungen und Zugänge zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt des Erinnerns zu machen.

Es gibt kreative, vielfältige Formen der Erinnerungsarbeit in allen Bildungsbereichen. Es ist gut und wichtig, dass es sie gibt. Ihre Verknüpfung mit einem Datum, dem 27. Januar, halte ich für eine große Chance, das zu Erinnernde nachhaltiger im Gedächtnis zu verankern, auch im kommenden Jahrtausend. Die Autoren des mehrfach erwähnten Schoa-Bandes schreiben allerdings zu Recht: "Die Zeit scheint noch nicht gekommen, fertige/schlüssige Entwürfe, für viele Menschen nachvollziehbare Sprachhilfen zu präsentieren."[19]

Und warum ist das Erinnern - Lernen an diese Abgründe der Geschichte und der Menschlichkeit so notwendig?

Die Stimmen derer zu vergessen, die sich verzweifelt bemüht haben, uns Nachgeborenen Zeugnisse ihres Leidens zu hinterlassen, hieße, ihren Peinigern Recht zu geben; denen Recht zu geben, die vor allem das jüdische Volk auslöschen wollten aus der Geschichte. Es hieße, der Unmenschlichkeit das letzte Wort zu lassen – das Ende aller Hoffnung auf Zukunft.

Elie Wiesel schreibt:

"Wir müssen Geschichten erzählen, um den Menschen daran zu erinnern, wie verletzlich er ist, wenn er mit dem unbändig Bösen konfrontiert wird. Wir müssen Geschichten erzählen, damit die Henker nicht das letzte Wort haben. Das letzte Wort gehört den Opfern. Die Aufgabe des Zeugen ist es, ihr Wort einzufangen ihm Gestalt zu geben, es weiterzugeben und doch wie ein Geheimnis zu hüten, den andern das Geheimnis weiterzugeben."[20]

Für Elie Wiesel ist Erziehung Erinnerung. Das hält etwas fest, was m.E. für die hier angestrebten Lernprozesse Grundvoraussetzung ist: Es hält etwas von der Unverfügbarkeit und Unverzweckbarkeit des Erinnerns auch für die Erziehung fest.

Zum einen: Die Erinnerung, das Eingedenken, ist in erster Linie den Toten verpflichtet, ihre Leiden lassen sich nicht pädagogisch verzwecken.

Zum anderen: ob Erinnerung gelingt, ist ein vielschichtiger Prozess, in dem Wissen, Willen, Sinne und Emotionen untrennbar miteinander verflochten sind. Erinnerung ist nicht zu "bewerkstelligen", nicht schlicht "machbar" - wohl aber anzustoßen, anzubahnen, etwa durch Sinneswahrnehmungen, durch emotionale Elemente. Eine Erziehung aus Erinnerung muss beides auch in die pädagogischen Lernprozesse einbeziehen – und dies hat damit m.E. durchaus befreiende Aspekte: Wie können gar nicht anders, als junge Menschen in die eigenen, fragmentarischen und unabgeschlossenen Erinnerungsprozesse hineinzunehmen. Weitestmögliche Selbststeuerung des Lernens und Suchens ist Bedingung für die Möglichkeit von Zugängen. Nur dann ist originale Begegnung möglich in dem Sinne, dass die Heutigen die Stimmen der Toten selbst vernehmen. Inwieweit dies gelingt, inwieweit der Keim zur Neugier und zu eigenständigem Weiterfragen gelegt werden kann – muss letztlich unverfügbar bleiben. Lehrende können Lernprozesse anbahnen, aber sie sind nicht jener Igel, der längst schon am Ziel ist, während der Hase rennen muss. Dies kann auch zu mehr Authentizität in der Beziehung von Erziehenden und Jugendlichen führen. Die Lektionen, um die es hier geht, haben wir alle noch nicht gelernt.
 

Dr. Astrid Greve hat evangelische Theologie an der Universität Siegen studiert und dort promoviert. Sie ist Oberstudienrätin mit den Fächern Religion und Deutsch an einem Gymnasium in Siegen. Der hier wiedergegebene Beitrag fußt auf einem Vortrag, den Sie 2004 auf einer Tagung der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Görlitz, Dresden und der Friedrich-Ebert-Stiftung, Dresden, hielt.
 

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu eine Gedichtzeile von Hans Magnus Enzensberger "gespeichert, d.h. vergessen" aus "Gedankenflucht (l)" in: Kiosk. Neue Gedichte, Frankfurt 1995, S. 31ff.

[2] J.B. Metz, Gottesgedächtnis im Zeitalter kultureller Amnesie, S.71-76 in F. Albrecht, A. Greve (Hg.), "Wer diese meine Rede hört und tut sie…". Zur Verantwortung von Theologie, Martin Stöhr zum 65. Geburtstag, Wuppertal 1997, S.75.

[3] Vgl. A. Greve, Erinnern lernen. Didaktische Entdeckungen in der jüdischen Kultur des Einnerns, Neukirchen-Vluyn 1999.

[4] Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, S. 404.

[5] Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 S.213.

[6] Sammlung religionsrechtlicher Bestimmungen und Lehren, ca. 200 n. Chr. Von Jehuda ha-Nasi redigiert; Urbestand des Talmud.

[7] Rabbinische Methode der Bibelauslegung und Sammlung midraschartiger Schriften.

[8] In Auschwitz-Birkenau arbeitete jahrzehntelang Tadeusz Szymanski als Zeitzeuge mit Jugendgruppen; vgl. seine Erfahrungen mit Jugendgruppen in der Gedenkstätte Auschwitz, in: Internationale Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts Braunschweig 2/1984.

[9] Vgl. Ingo Baldermann, Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996, S. 9ff.

[10] E. Wiesel in Reinhold Boschki, Dagmar Mensink (Hg.), Kultur allein ist nicht genug. Das Werk von Elie Wiesel – Herausforderungen für Religion und Gesellschaft, Münster 1998, S.39.

[11] Die Pessach-Haggada. Übersetzt und erklärt von Dr. Philipp Schlesinger und Josef Gäns, Tel-Aviv 1996, S.7ff.

[12] Vgl. z.B. Primo Levi: "Im übrigen kann die gesamte Geschichte des kurzlebigen ‚Tausendjährigen Reiches’ als Krieg gegen das Erinnern neu gelesen werden, als Orwellsche Fälschung der Erinnerung, Fälschung der Wirklichkeit, bis hin zur endgültigen Flucht vor eben dieser Wirklichkeit", zit. Nach C. Münz, a.a.O., S. 417; oder Elie Wiesel: "Die Juden sind Gottes Gedächtnis und das Herz der Menschheit. Wir wissen das nicht immer, aber die anderen wissen es, und es ist aus diesem Grunde, dass sie uns mit Verdächtigungen und Grausamkeiten behandeln. Die Erinnerung ängstigt sie. Durch uns sind sie mit dem Anfang ebenso verbunden wie mit dem Ende. Indem sie uns vernichten, hoffen sie Unsterblichkeit zu erhalten. Aber in Wirklichkeit ist es uns nicht gegeben zu sterben, selbst wenn wir es wollten. Warum? Wir können nicht sterben, weil wir die Frage sind." Zit. Nach C. Münz, a.a.O., S. 401.

[13] E. Wiesel in Reinhold Boschki, Dagmar Mensink (Hg.), Kultur allein ist nicht genug. Das Werk von Elie Wiesel – Herausforderung für Religion und Gesellschaft, Münster 1998, S.39.

[14] Robert McAfee Brown, Elie Wiesel, Zeuge für die Menschheit, Freiburg, Basel, Wien 1990, S.56.

[15] Ebd., S.57.

[16] Ebd. S. 58.

[17] Vgl. Saul Friedländer, Wenn die Erinnerung kommt, 2. Aufl. München 1998.

[18] Barbara Fenner, in: A. Lohrbächer, H. Ruppel, I. Schmidt, J. Tierfelder (Hg.), a.a.O., S.365.

[19] Ebd., S.357.

[20] E. Wiesel, Art and Cultur after the Holocaust, in: E. Fleischner 1997, zit. Nach R. McAfee Brown, a.a.O., S.48.