Themenheft online 2013: "Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis"

Die unverträgliche Erinnerung: Holocaust und kollektive Identitäten in Deutschland und Israel

Daniel Cil Brecher
 

I

Die beiden deutschen Staaten und Israel sind innerhalb weniger Jahre nach Ende der Vernichtungskampagne gegen die Juden entstanden. Alle drei waren gezwungen, sich dem Ereignis sofort zu stellen. Als Staaten, die wegen der Folgen des Holocaust zum Handeln gezwungen waren, als Gesellschaften, deren Identität oder Selbstbilder durch das beispiellose Ereignis herausgefordert waren, und als Verband von Einzelnen, die mit ihren eigenen, sehr unterschiedlichen Erfahrungen zu Rande kommen mussten. Alle drei schulden ihr Entstehen zumindest teilweise den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland. Bei allen drei war die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zum großen Teil unfreiwillig. Alle drei schufen sich Konstruktionen der kollektiven Erinnerung und staatlichen Identität, die der individuellen Erinnerung Gewalt antaten und von vorn herein viel Spannung verursachten. Die Bundesrepublik schuf sich das Konstrukt der Tätergesellschaft, die DDR und Israel eigneten sich, auf unterschiedliche Weise, das Erbe der „Opfer“ an.

In Israel, in Ost- und Westdeutschland entwickelten sich zudem nach 1949 ganz unterschiedliche Geschichtserzählungen über die NS-Vergangenheit.

Das Narrativ der DDR betonte die Identität mit den Opfern aus den Reihen der Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften, und die Identifizierung mit den Helden des antifaschistischen Widerstands. Von den im Westen als Opfer identifizierten Gruppen – vor allem den Juden – war praktisch nicht die Rede. Der Blick auf Krieg und NS-Herrschaft war von der „Perspektive der Arbeiterklasse“ geprägt, eine Perspektive, die sich auf die Kader der Kommunistischen Partei der Dreißiger Jahre beschränkte. Der Sieg der Roten Armee und die Leiden der sowjetischen Zivilbevölkerung standen im Vordergrund. Dieses Narrativ entschuldete das neue Kollektiv und half dem Einzelnen, die Auseinandersetzung über die persönliche und die kollektive Verwicklung in die Judenverfolgung zu vermeiden. Der Holocaust spielte kaum eine Rolle im Prozess der Identitätsstiftungen, die den neuen Staat legitimieren sollten. Die Antifaschismus-Thesen der Zeit waren darauf angelegt, die Unterschiede zur BRD und die moralische Überlegenheit der DDR zu unterstreichen. Ein Gespräch über den Holocaust hätte diese Eindeutigkeiten vermutlich in Frage gestellt. Die Auseinanderset- zung mit der Judenverfolgung wurde in den privaten Bereich verbannt – und möglicherweise auch dort ausgetragen (Wierling 1991, S. 142ff).

In der BRD war die Entwicklung umgekehrt. Hier stilisierte sich, in offiziellen Erklärungen und Bekundungen, das Kollektiv zum Verantwortlichen, zum „Täter“, wie es später hieß. Die Bundesrepublik erklärte sich zum Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches und versuchte, durch diese Übernahme der Konkursmasse – einer sehr großen Schuld, sowohl im materiellen wie im immateriellen Sinne – eine neue Identität zu formen. Dieser Schritt war in vieler Hinsicht ebenso künstlich und von außen auf- gezwungen wie die Entwicklung in der DDR. Das Narrativ der „Tätergesellschaft“ wirkte dabei nicht weniger simplifizierend und bemäntelnd als die Erzählung vom antifaschistischen Staat.

Auch in Israel schufen die kollektiven Sinngebungen von Anfang eine Spannung – gegenüber den Überlebenden, die den Staat als Heimat wählten, aber auch in den entstehenden Selbstbildern und im Narrativ des Staates selbst. Der Staat und die jüdische Gesellschaft des Landes hatten damit begonnen, sich bestimmte Aspekte des Holocaust anzueignen, und andere, unerwünschte, abzuspalten. Die Ursprünge des Staates als Retter des jüdischen Volkes lagen, den eigenen Mythen nach, in der Hinfälligkeit und Unzulänglichkeit der Diaspora-Existenz. Der Holocaust konnte damit sowohl zum Sinnbild nationaler Schwäche und Schmach wie zum Symbol von Gegenwehr und Autarkie werden. Die Erinnerung an den Holocaust wurde zudem mehr und mehr für den Konflikt mit den arabischen Nachbarn mobilisiert. Diese zwei Aspekte spiegelten sich in der Bezeichnung wider, die 1951 dem Holocaust-Gedenktag gegeben wurde: „Tag der Katastrophe und des Heldentums“.

Im Folgenden will ich versuchen, die Ursprünge der kollektiven Sinngebungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland und Israel kurz zu skizzieren und ihre bemerkenswerte Konvergenz in späteren Jahren zu beschreiben.

II

In der Bundesrepublik trugen die kollektiven Erinnerungsmaximen viel dazu bei, eine Kluft zwischen öffentlichen und privaten Identitätskonstruktionen zu schaffen und zu erhalten. In einer Umfrage vom Dezember 1951 kamen diese gegenläufigen Haltun- gen zum Vorschein. Auf die Frage, welche Opfergruppen von der Bundesregierung Hilfe erhalten sollten, wurden von 96% der Befragten Kriegswitwen und -waisen genannt, von 93% die Opfer der Bombardierungen, von 90% die Vertriebenen. Immerhin 73% wollten auch den Familien der Widerständler Hilfe zukommen lassen. Für eine Entschädigung der Juden sprachen sich 68% aus, 21% waren dagegen. Der Bericht fasste die Umfrage-Ergebnisse so zusammen: „Eine Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung lehnt nicht nur eine allgemeine Schuld für die Missetaten des Dritten Reiches ab, sondern auch jegliche Verantwortung der Deutschen, das Unrecht [...] zu vergelten.“ Über die 68% der Befragten, die Juden als mögliche Empfänger von Regierungshilfen nannten, stellte der Bericht fest: „Ihre Begleitkommentare deuten allerdings an, dass ihre Zustimmung mehr als widerwillig ist“ (Stern 1991, S. 329f). Die Bevölkerung der Bundesrepublik sah sich ganz offenbar selbst als das hauptsächliche Opfer der NS-Zeit.

In der Bundesrepublik war das Thema der „Gewaltverbrechen“, wie es damals hieß, äußerst unbeliebt. Offizielle Verlautbarungen zur Schuldfrage waren entsprechend vage gehalten, und die Sprache, mit der über Juden und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, blieb vorsichtig, defensiv und möglichst abstrakt. Ein Mitarbeiter Konrad Adenauers berichtete später, sein Chef habe „jahrelang nichts zum Thema Juden gesagt, weil er das deutsche Volk in seiner Gesamtheit für die Demokratie gewinnen wollte. Hätte Adenauer schon 1949 gesagt, was wir in der Vergangenheit getan haben, dann wäre doch das deutsche Volk gegen ihn gewesen“ (Stern 1991, S. 308). Die erste offizielle Verlautbarung der Bonner Regierung zum Holocaust war dann auch ein Meisterstück vermeidender Formulierungen. Bundeskanzler Adenauer sprach in der Erklärung zur „Haltung der Bundesrepublik Deutschland zu den Juden und dem Staat Israel“ im Bundestag im September 1951 in keinem Wort direkt von Schuld oder Verantwortung, sondern nur indirekt dadurch, dass er die „Nichtbeteiligung“ der „überwiegenden Mehrheit“ an den Verbrechen erwähnte. Über die „unsagbaren“ Verbrechen selbst, die „im Namen des Deutschen Volkes“ begangen worden waren, sagte er nur, dass „die Mehrheit des deutschen Volkes sich des unermesslichen Leides bewusst [ist], das in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und den besetzten Gebieten gebracht wurde“ (Grossmann 1967, S. 191f).

Die Ambivalenz kam auch in der Vermeidung der Worte „Jude“ oder „Jüdin“ zum Ausdruck. Bei der Feierstunde einer Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammen- arbeit sprach Bundespräsident Theodor Heuss Ende 1949 von der „suggestiven Wiederholung“, die es unmöglich mache, das Wort „Jude“ auszusprechen. Der adjektivische Gebrauch des Unworts, zum Beispiel in Zusammenhang mit „Mitbürger“, hatte sich inzwischen eingebürgert (Stern 1991, S. 352, 273).

Die Angst vor der „suggestiven Wiederholung“ nationalsozialistischer Dämonisierungsformeln führte in eine bestimmte Richtung. Die abschätzigen Fantasien, die Juden entmenschlicht und ihren Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft ermöglicht hatten, wurden durch neue, positiv besetzte Fantasien ersetzt. So sprach der Heidelberger Dekan und Widerständler Hermann Maas 1952 vom „jüdischen Menschen als Mysterium“, vom gottnahen Volk, das durch das „geheimnisvolle, unauslöschliche Leid“ zu einer „besonderen Geistigkeit“, einem „feinsinnigen Menschentum“ und zu einem „tiefen Empfinden für Gerechtigkeit, Güte, Gastfreundschaft und Milde“ gelangt sei (Stern 1991, S. 294). Zusammen mit der Idee von Juden als wertvollen Kulturträgern formten diese Vorstellungen jene unpersönlichen, realitätsfernen Abstraktionen, denen sich der Philosemitismus der späteren Jahre verpflichtet fühlte. Die Politologin Eleonore Sterling schuf zehn Jahre später für diese Figuration den Ausdruck „philosemitische Idole“, die das Fremdartige und Andere des Juden unterstrichen und die „Judenfreundschaft“ deutlich als bloßes Ritual kennzeichneten (Sterling 1965).

Auch unter Opfergruppen war dieses für alle Seiten beruhigende und identitätsstiftende Gegenbild willkommen. Der in Düsseldorf ansässige Landesrabbiner Robert Geis, dessen Sohn zusammen mit mir ein erzkonservatives, im 16. Jahrhundert gegründetes Gymnasium an der Düsseldorfer Königsallee besuchte, in dem wir die einzigen Juden unter achthundert nichtjüdischen Mitschülern waren, drückte das 1950 bei der Einweihung eines Gedenksteins für Naziopfer auf dem jüdischen Friedhof so aus: „[Hitler] nahm uns sehr ernst, wahrlich blutig ernst, ernster, als wir uns selbst nehmen wollten. Er sah in seiner vereinfachenden Manier durch alle unsere Existenzformen hindurch bis zum tiefsten Kern unseres Wesens. Der Jude, das war für ihn der Mensch, aus dem in jedem Augenblick die Visionen der Propheten wieder auferstehen konnten, [...] der Mensch, der nicht müde wurde, an eine Welt der Gerechtigkeit und des Völkerfriedens zu glauben“ (Schoeps 1960, S. 319).

Der Sozialdemokrat Ludwig  Rosenberg, der spätere Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, von den Nazis als Gewerkschaftler und Jude verfolgt, schrieb 1957 Ähnliches: „Es war das Schicksal der Juden, stellvertretend für alles Menschliche, die besondere Zielscheibe des Hasses der Unmenschen zu werden.

In den brennenden Synagogen traf man nicht allein die Bethäuser einer Glaubensgemeinschaft, sondern den Glauben an ewige Werte schlechthin“ (Rosenberg 1957, S. 87). Diese Wunschvorstellungen von Juden als „Staatsfeinden des Dritten Reiches“ und als Vertreter der „ewigen Werte“ hatten wenig mit den Überlebenden gemein, unter denen ich aufwuchs.

In Westdeutschland dauerte es bis weit in die Sechziger Jahr hinein, bis die normierte Sprache hinsichtlich des Holocausts Gestalt annahm. In den ersten Jahrzehnten spiegelte sich in der Presse, aber auch in politischen Reden, weiter die große Ambivalenz gegenüber Fragen von Schuld und Verantwortung wider. Das galt besonders gegenüber der „Wiedergutmachung“. Die Wiedergutmachungsdebatte ist eigentlich das letzte Mal, dass in den Mainstream-Medien Argumente und Sentimente geäußert wurden, die stark vom offiziellen Sprachgebrauch abwichen. 1958 schickte ein in Deutschland stationierter Beamter des Jüdischen Weltkongresses, Kurt Grossmann, einen Fragebogen an 50 deutsche Zeitungsredaktionen, um sie über die redaktionelle Praxis hinsichtlich der Wiedergutmachungsdebatte zu befragen. Seine Umfrage belegte, wie weit die Gabelung von öffentlichem und privatem Diskurs gediehen – und akzeptiert – war. Die Redaktionen erkannten eine weit verbreitete Abwehrhaltung in der Bevölkerung, aber räumten ihr im öffentlichen Diskurs keinen Raum mehr ein. Mit dem Ende der „Wiedergutmachungsdebatte“ Anfang der Sechziger Jahre wuchs die Unterstützung für das Konstrukt der kollektiven Verantwortung in Politik und Medien stark an, während unter der Bevölkerung weiter ein großer, meist unsichtbarer Rückhalt für das „Ewig Gestrige“ vermutet wurde.

Mit der Entführung von Adolf Eichmann und dem Gerichtsverfahren, dem sich der Technokrat der „Endlösung“ in Jerusalem 1961 stellen musste, begann dann jener bemerkenswerte Prozess gegenseitiger Identitätsverstärkungen, der die Bundesrepublik und Israel miteinander verband und die Eliten beider Länder einander näher brachte. Auch die staatlichen Narrative begannen sich zu ergänzen und gegenseitig zu verifizieren – das israelische vom Holocaust als Sinnbild der jüdischen Geschichte, aus dessen Griff der Zionismus die Juden zu befreien vorgibt, und der besonderen Rolle, die dem Staat aus dem Holocaust erwachsen war; und das westdeutsche Narrativ von der „Tätergesellschaft“, in der die kollektive Verantwortung und das Bekenntnis dazu im Vordergrund standen, die Frage der Verantwortlichkeit oder Mitverantwortlichkeit Einzelner und der Gesellschaft aber in den Hintergrund trat.

Die Entführung Eichmanns und sein Prozess waren von der Regierung Ben Gurion von Anfang an als geschichtspädagogisches Ereignis angelegt, gegenüber einem inländischen Publikum ebenso wie den Öffentlichkeiten im Ausland. Hunderte Journalisten strömten nach Jerusalem und beschrieben das Land in dem Zusammenhang, in dem die Regierung es präsentieren wollte: als Zufluchtstätte der Holocaust-Überlebenden und als ein jüdisches Gemeinwesen neuen Typs, wehrhaft, selbstbewusst und autark, in dem die Juden ihr Schicksal zum ersten Mal in die eigene Hand nahmen.

In der Bundesrepublik wurden Regierung und Parteien durch die Entführung anfangs vor ein Dilemma gestellt. Warum hatten deutsche Instanzen bisher so wenige NS-Täter verfolgt? Die israelische Tat konfrontierte die Öffentlichkeit mit der Untätigkeit der deutschen Justiz und stellte die äußerst ambivalente Haltung der Bevölkerung selbst heraus. Die Journalistin Inge Deutschkron, die für israelische Zeitungen aus der Bundesrepublik berichtete, vernahm im Mai 1960  „überraschtes Schweigen“ (Deutschkron 1970, S. 139).

In Israel war sich die Regierung der Gefahren wohl bewusst, die von der Inszenierung des Eichmann-Prozesses für das deutsche Geschichtsnarrativ ausgingen. Aus den Anfang 2011 veröffentlichten Regierungsakten des Jahres 1960 lässt sich gut erkennen, in welchem Ausmaß Jerusalem das öffentliche Bild des Prozesses zu formen und die kollektive Identität des Landes zu beeinflussen suchte, auch in Bezug auf die besondere Empfindsamkeit der Bundesrepublik. Ben Gurion selbst half mit, das Eröffnungsplädoyer des Staatsanwaltes Gideon Hausner zu formulieren. „Sagen Sie nicht ‚Deutschland’. Sagen Sie nur ‚Nazi-Deutschland’“ (Segev 2011).
In deutschen Zeitungen wurden die Umstände des Gerichtsverfahrens in einen Zusammenhang gesetzt, der einen anderen wichtigen Aspekt des Prozesses der gemeinsamen Identitätsstiftungen berührte. Entführung und Gerichtsverfahren seien Ausdruck des besonderen Charakters des Holocaust, „eines unvergleichbaren Ausnahmefalles“ der Geschichte (Deutschkron 1979, S. 144). Die „Unvergleichbarkeit“ des Holocaust legitimiere die Ausnahmehandlungen des Staates, ja lege Israel geradezu eine Pflicht dazu auf, argumentierte auch Ben Gurion in einem offenen Brief an Nachum Goldmann, der zu den Befürwortern eines internationalen Gerichtsverfahrens gehörte (Segev 2000, S. 329). Während sich einige Intellektuelle in Israel und in westlichen Ländern gegen die „Selbstjustiz der Opfer“ (Martin Buber) aussprachen, wertete die überwiegende Meinung in der Bundesrepublik, wie in anderen westlichen Ländern, die Eichmann-Episode als Zeichen des israelischen Exzeptionalismus, der sich aus dem Exzeptionalismus der jüdischen Geschichte und des Holocaust ableitete und dem jüdischen Staat und Juden bestimmte Privilegien einräumte. An einer Mystifizierung des Holocaust war allen gelegen. In der Bundesrepublik kam der Vorstellung von der „Unvergleichbarkeit“ vor allem eine exkulpierende Wirkung zu. Die Vorstellung unterstrich noch einmal, dass Juden anders waren und dass der Holocaust irgendwie mit dieser Andersartigkeit verbunden sein musste.

Alle großen deutschen Zeitungen, Rundfunksender und das Erste Deutsche Fernsehen schickten zu Prozessbeginn Vertreter nach Israel. Ihre Berichte halfen jenes Narrativ zu verfestigen, das den Nahostkonflikt aus dem Kontext eines kolonialen Konfliktes über Territorium und Selbstbestimmung in den europäischen Geschichtsraum von Judenhass und Judenverfolgung verpflanzte. Das war eine der Wirkungen, die sich die Regierung Ben Gurion erhofft hatte.

Antisemitismus und Holocaust schienen die Schaffung Israels erzwungen zu haben und die Folgen zu rechtfertigen. Diese Mythen hatten in Deutschland noch eine besondere Bedeutung. Sie stellten in gewisser Weise eine Tröstung dar. Die Opfer des Holocaust schienen nicht umsonst gestorben zu sein, denn ihr Martyrium hatte zur Errichtung des Staates geführt.

Gleichzeitig wurde die deutsche Öffentlichkeit mit Details des Massenmordes konfrontiert, die bisher in den Medien nicht benannt worden waren. Während der Beweisaufnahme, die von April bis August andauerte, berichtete die ARD regelmäßig nach den Abendnachrichten in einer Sondersendung unter dem Titel „Eine Epoche vor Gericht“ über den Prozess. Der Holocaust wurde auf diese Weise zum ersten Mal in der Sprache und aus dem Blickwinkel der Opfer einem breiten deutschen Publikum nahe gebracht.

Das deutsche Publikum reagierte, wie die Journalistin Inge Deutschkron sich erinnert, mit einem „Schock“. „Verzweiflung und Scham [waren] in den ersten Wochen des Eichmann-Prozesses weit verbreitet.“ Auch wenn ein großer Teil der Öffentlichkeit „nicht ungerührt“ blieb, fühlten sich laut einer Umfrage fast 90 Prozent nicht „mit-schuldig“. Deutschkron (1970, S. 155-61) erkannte trotz, oder gerade wegen, der pädagogischen Inszenierung des Eichmann-Prozesses weiterhin eine „weit verbreitete anti-jüdische Einstellung in der deutschen Bevölkerung“.

Die israelische Presse, die über die Resonanz des Prozesses in den deutschen Medien genauestens Buch führte, kam zum gegenteiligen Schluss. Die deutsche Öffentlichkeit habe nicht nur viel Sympathie für Israel, sondern auch Schuldbewusstsein und Reue gezeigt. Dank der israelischen Berichterstattung über die Reaktionen in der Bundesrepublik schwächten sich die anti-deutschen Gefühle in Israel, trotz der „Lektionen“ des Eichmann-Prozesses, gerade ab (Segev 2000, S. 366).

Auch in der Bundesrepublik wurde der Prozess als pädagogisches Ereignis in Szene gesetzt, allerdings nicht von staatlicher Seite, sondern von den Medien, die in einer wohldosierten Präsentation der „Vergangenheit“ eine neue, identitätsstiftende Aufgabe erblickten, für die Eliten, die sie vermittelten, und für jene breiten Schichten der bundesrepublikanischen Bevölkerung, die weiterhin unter dem Verdacht des „kollektiven Versagens“ standen. Karl Holzamer, erster Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), das im April 1963 zu senden begonnen hatte, schrieb über diesen Aspekt der „Tätergesellschaft“ 1964: Das Versagen der Deutschen während des Nationalsozialismus habe aus „Indolenz und allgemeiner Gleichgültigkeit“ bestanden. Diese „beklagenswerte politische Indolenz des deutschen Volkes“ bestehe fort.

„Erst wenn diese überwunden werden kann, dürfte das eintreten, was wir Bewältigung der Vergangenheit nennen. Das Fernsehen wird sich stets seiner Verantwortung bewusst sein, an einem solchen Prozess mitwirken zu können“ (Holzamer 1989, S. 4f).

Mitte der Sechziger Jahre begannen in der Bundesrepublik konkretere Fragen zu Schuld und Verantwortung öffentlich diskutiert zu werden. Gleichzeitig kamen die NS-Strafprozesse in Gang, und es entstand eine Welle von geschichtswissenschaftlichen Forschungen aus der Feder westdeutscher Historiker, die ihren amerikanischen, britischen, französischen und israelischen Kollegen bislang den Vortritt gelassen hatten. Kunst und Kultur nahmen sich des Themas stärker an. Auch die „Hinwendung“ zu Juden und Israel, die bis Anfang der Sechziger Jahre nur von wenigen Christen betrieben wurde, verwandelte sich in ein breiteres Phänomen, das im Juni 1967 in großen Solidaritätskundgebungen mit dem Krieg führenden Israel in allen deutschen Städten mündete. In vieler Hinsicht machte dieses Aufbrechen des bis dahin gepflegten Umgangs mit der Vergangenheit die bis heute gültige Normierung des Holocaust- Diskurses erst notwendig. Die ständige Betonung des Narrativs der kollektiven Verantwortung schuf eine Spannung zur privaten Erinnerung, und es schuf eine soziale Spannung zwischen den Eliten, die sich als Mahner betätigten, und einer Bevölkerung, die weiterhin als mahnungsbedürftig hingestellt wurde.

Diese beiden Aspekte des Konstrukts der „Tätergesellschaft“ sorgten für einen lang anhaltenden Konflikt zwischen öffentlichen und privaten Identitätsbedürfnissen. Für die Bundesrepublik und ihre Eliten war der fein kalibrierte und dosierte Erinnerungsdiskurs Teil des politischen Selbstverständnisses geworden. Im Privaten, wo Fragen der persönlichen oder familiären Schuld und Verantwortung im Vordergrund standen, wurde der Diskurs als ein kollektives Stigma erfahren, das als unverdient galt. Während im öffentlichen Bereich die Vorstellung von der kollektiven Verantwortung vorherrschte, dominierten im privaten – und dominieren immer noch – die Erzählungen von der persönlichen Schuldlosigkeit und von der eigenen Familie als Opfer, als Opfer des Nationalsozialismus wie der Kriegsgewalt. Die Verbrechen an den Juden hatten in diesem Bezirk nicht stattgefunden und waren hier nicht wahrgenommen worden. Diese Unverträglichkeit zwischen familiärer Erinnerung und offiziellem Erinnerungsdiskurs ist ein Phänomen, das sich in die dritte Nachkriegsgeneration vererbt hat, wie eine Reihe von Studien belegt (Brendler 1997, Welzer 2002).

Es war nicht das Konstrukt der „Tätergesellschaft“ allein, das zu einer anhaltenden Abwehr von eigener oder familiärer Verstrickung bei der Verfolgung und Ermordung von Juden führte. Aber die pauschalierende und simplifizierende Vorstellung von der kollektiven Verantwortlichkeit hat viel dazu beigetragen, Fragen nach der individuellen und konkreten Verantwortung zu vermeiden und die der gesellschaftlichen zu bagatellisieren. Der pauschale Schuldvorwurf konnte so leicht pauschal verworfen werden als Angriff auf das Selbstbild des Individuums wie der Nation.

Die Vorstellung von kollektiver Verantwortlichkeit führte auch dazu, dass eine ebenso pauschalierende und simplifizierende Grenze gezogen wurde zwischen denen, die sich als unschuldig betrachteten, und jenen, die als schuldig galten. Weil der Umfang und die Methoden der Vernichtungskampagne und deren systematischer, gigantomanischer Charakter bis zum Schluss das Geheimnis von wenigen blieb, ließ sich hier leicht eine Grenze ziehen. Sie lautete: „Das haben wir nicht gewusst.“ Alles das, was sich jenseits dieser Grenze abspielte – und das war sehr viel – konnte im Nachhinein als Nichtwissen und als subjektive Unbeteiligung und Schuldlosigkeit gelten.

Der unverträgliche Nexus von Selbstbild, nationaler Identität und Holocaust wurde erst durch eine Entwicklung erträglicher gemacht, die von den USA ausging. Dort war im Kontext des Vietnam-Krieges die Vorstellung vom Holocaust als dem Bösen in den Vordergrund getreten, vom Bösen, gegen das sich der Krieg der USA gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtet hatte und gegen das die USA sich auch in Zukunft wehren mussten. Diese Verbindung von Holocaust und amerikanischem Idealismus brachte auch für das Bild des ehemaligen Kriegsgegners eine Veränderung. Das Klischee des ‚Hässlichen Deutschen’, des Täters, trat in den Hintergrund. Im Vordergrund stand nun die Tat. Die amerikanische TV-Serie „Holocaust“, die 1979 auch in der Bundesrepublik gezeigt wurde, übersetzte diesen Perspektive-Wechsel in die universelle Sprache der amerikanischen Massenkultur: Eine Familie, also wir alle, war das Opfer; die Täter waren nicht nur Deutsche; und auch die Helden wurden nicht allein von den Amerikaner vertreten. Diese andere, ungewohnte Erzählweise durchbrach im Empfinden der Zeitgenossen die Sperre der Opfer-Täter- Konstruktion und ließ es zu, dass deutsche Zuschauer sich mit den Opfern identifizierten. Die TV-Serie war, wie der zuständige Fernsehredakteur berichtete, ein „sozialpsychologisches Ereignis“ (Märthesheimer 1979, S. 15).

Wenn wir die Identitätskonstruktion der „Tätergesellschaft“ auch als Manifestation der Anpassung und des Selbstschutzes gegenüber dem Stigma des Deutschseins sehen, wird deutlich, welche Folgen das allmähliche Verblassen dieses Stigmas hat und haben wird. Aber die Veränderung des Holocaust in eine universelle Metapher des Bösen hat auch Folgen für das Erinnern. Nicht mehr die Täter stehen im Mittelpunkt, sonder die Tat und die Opfer. Zu einem gewissen Grad hat diese Entwicklung der deutschen Gesellschaft schon jetzt die Möglichkeit entzogen, weiter auf eigene Bedürfnisse abgestimmte Erinnerungsstrategien zu verfolgen.

III

Die Bedeutungen des Holocaust im Selbstverständnis der jüdischen Gesellschaft Israels, im Wehrgedanken des Staates und nicht zuletzt in den Sinngebungen, die den Konflikt mit der arabischen Umwelt und den Palästinensern begleiten, haben sich in den 60 Jahren der staatlichen Existenz stark verändert. Noch vor der Staatsgründung hatte zwischen 1945 und 1949 die Aufnahme von Überlebenden der Lager eine prominente Rolle im diplomatischen Ringen um Souveränität und in der Darstellung zionistischer Ziele im Ausland gespielt.

Auch bei der Vertreibung arabischer Bewohner im Süden des Landes berief sich der israelische Kommandeur 1948/49 auf die Pflicht des Staates, für die Überlebenden des Holocaust Platz zu schaffen (Brecher 2005, S. 327). Danach verschwand das Thema im öffentlichen Diskurs praktisch über Nacht.

1951 wurde ein Gedenktag eingeführt, der 27 Iyar, der zwischen dem Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto und dem israelischen Unabhängigkeitstag gelegt wurde, um eine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen herzustellen. 1953 regelte Israel die Holocaust-Erinnerung per Gesetz und wurde mit dem „Märtyrer- und Helden-Gedenkgesetz“ zum ersten Staat, der dem Holocaust explizit eine bestimmte Bedeutung zuwies. Erinnert sollte werden „die Katastrophe, die die Nazis und ihre Kollaborateure über das jüdische Volk gebracht hatten und die Akte des Heldentums und der Revolte“ (Knesseth 1959, S. 120f).

Trotzdem war es deutlich, dass der jüdische Staat sich mit der Erinnerung an die Judenverfolgung schwer tat. Der Holocaust und die Überlebenden, die Israel als neue Heimat gewählt hatten, forderten die sich entwickelnden kollektiven Identitäten auf besondere Weise heraus. Die Katastrophe (Schoa) stand in Israel sowohl für nationale Schwäche und die Dekadenz der Galut, von denen sich der Staat zu unterscheiden suchte, wie für die Tugenden der Selbstwehr und Selbstbestimmung, die von der Gesellschaft umarmt wurden. Die prononciert politische Rolle des Holocaust, die das politische und militärische Handeln des Staates umfassend informieren und legitimieren musste, begann erst Anfang der Sechziger Jahre Gestalt anzunehmen – mit der Inszenierung des Eichmann-Prozesses und mit der Darstellung des Juni-Krieges 1967 als „Antithese zur Katastrophe der Galut“ (Kimmerling 2001, S. 94, 113).

In den Anfangsjahren konnte man auch in der jüdischen Gesellschaft Israels eine Zweiteilung feststellen. Die Überlebenden der Lager, die sich in Israel einfanden, stießen unerwartet auf Ablehnung. Ihre besonderen Bedürfnisse, von den finanziellen bis zu den emotionellen, wurden von der Umgebung nur widerwillig beachtet oder ignoriert. Das Narrativ des Leidens war nicht willkommen. „Diese Leute sind hässlich, arm, moralisch fragwürdig und nur schwer zu lieben“, erklärte die Schriftstellerin Leah Goldberg. Sie entsprachen nicht dem Selbstbild der ersten Israelis, den „Göttern“, wie die Schriftstellerin Jehudit Hendel später selbstkritisch feststellte. „Man konnte fast von zwei verschiedenen Rassen sprechen“, sagte Hendel, von denen, die im Land geboren waren und sich für Götter hielten, und von einer „unterlegenen Rasse“, an der etwas nicht stimmte (Segev 2000, S. 179). Die kleine israelische Gesellschaft der Anfangsjahre war ganz mit sich selbst beschäftigt. Dazu passte der Mythos der Überlegenheit gegenüber dem Diaspora-Judentum. In den Augen des israelischen Gesellschaft der Fünfziger Jahre waren die europäischen Juden nicht willkürlich und unfreiwillig zum Opfer einer Wahnidee geworden, sondern hatten sich zum Opfer machen lassen und waren sogar in gewisser Weise zum Opfer vorbestimmt.

Der israelische Politiker Yosef Burg drückte diesen Zusammenhang 1968 auf sehr drastische Weise aus: Die Diaspora musste erst untergehen, um den Weg für die nationale Renaissance freizumachen. „[H]ier im Staat Israel wurde ein neuer Stamm geboren, während die Mutter im europäischen Holocaust starb“ (Burg 1971, S. 15).
Das europäische Territorium von Verfolgung und Todeslagern wirkte wie der Schauplatz eines nationalen Verhängnisses, wie das Schlachtfeld eines verlorenen Krieges.

Die negativen Aspekte der Geschichte des Holocaust, die den positiven Selbstbildern des jungen Staates Abbruch tun konnten, mussten abgespalten werden. Der Holocaust konnte dadurch sowohl zum Vorbild verachtungswürdiger wie nachahmenswerter jüdischer Eigenschaften werden. Diese Teilung des Holocaust in einen idealisierten und einen unerwünschten Aspekt, in akzeptables und inakzeptables Verhalten von Opfern, war für viele Einwanderer nach 1948 schwer zu akzeptieren. Diese Vorstellung der Zeit, wonach sich das Gros der Juden während des Holocaust irgendwie schmählich und schmachvoll verhalten hatte, weil es sich zu Opfern machen ließ und nicht mit der Waffe Widerstand geleistet hatte, kam einer Beleidigung der Opfer gleich.

Die Teilung der Holocaust-Erinnerung ist auch in das Design des Jerusalemer Gedenkzentrums Yad Vashem eingegangen. Dort bildet der „Platz des Warschauer Ghettos“ das zentrale Forum, auf dem die jährlichen Aufmärsche zum „Holocaust und Heldentum“-Gedenktag stattfinden. Der Platz ist von einer symbolischen Ghettomauer gesäumt, an der zwei sehr unterschiedliche Skulpturen angebracht sind. Bei der einen handelte es sich um eine gigantische, den Platz dominierende Figurengruppe, die den Titel „Der Aufstand im Warschauer Ghetto“ trägt und die „bewaffnete Männer, Frau- en und Kinder im heldenhaften Kampf vor dem Hintergrund des brennenden Ghettos“ zeigt. Die zweite, wesentlich bescheidenere Skulptur ist ein kleines, schwarzes Relief am Rande des Platzes. Es trägt den Titel „Der letzte Marsch“ und stellt den Weg der Juden in die Vernichtungslager dar. Die beiden Skulpturen geben gleichsam die Proportionen wieder, in denen die beiden Elemente von „Holocaust und Heldentum“ erscheinen sollten. Auch im Schulunterricht und in den Massenmedien stand in den ersten zwanzig Jahren die Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto und an den Widerstand im Mittelpunkt. Während der Gedenktage wurden ehemalige „Ghettokämpfer“ im Radio interviewt oder hielten Ansprachen. Andere Überlebende kamen nicht zu Wort. Sie sprachen nicht; für sie wurde gesprochen.

In der Öffentlichkeit blieb die Erinnerung an den Holocaust – fast schamvoll – auf die jährlichen Gedenkfeiern und Rituale beschränkt. In der Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien war das Thema tabu. Nur von einer Partei im rechten Teil des Meinungsspektrums wurde der Holocaust für das politische Tagesgeschäft instrumentalisiert – von der Herut, die später zusammen mit den Liberalen in der Likud-Partei aufging.

Eine Wende in den Bedeutungen des Holocaust in den Identitätskonstruktionen des Landes brachten zwei Ereignisse mit sich: der Krieg vom Oktober 1973 und der Machtwechsel von der Arbeitspartei zur Likud im Frühjahr 1977.

Als Israel 1967 in sechs Tagen den Rest Palästinas erobert und die Armeen der arabischen Nachbarstaaten geschlagen hatte, schienen sich die Allmachtsfantasien bewahrheitet zu haben, die sich hinter der Vorstellung von der Erlösung der Galut durch den Zionismus verbargen. Der ägyptische Überraschungsangriff am Jom Kippur 1973 brachte diese Fantasien ins Wanken. Die israelische Bevölkerung fühlte sich gefährdeter denn je.

Oberst Ehud Praver, einer der führenden Offiziere des Erziehungskorps, erinnerte sich 1990 in einem Interview mit Tom Segev (2000, S. 394f) an die Folgen: „Das ganze monolithische Gefüge, das wir in der Schule mitbekommen hatten – Antisemitismus führt zum Zionismus, der Zionismus zu Israel, und die Existenz Israels bringt uns Sicherheit –, war brüchig geworden. Es gab Momente, wo das Ganze einzustürzen drohte.“ „Bis in die 70er Jahre hinein hatten junge Israelis in der Schule und während der Grundausbildung in der Armee wenig wirkliches Wissen über den Holocaust erworben. Hinter „Holocaust und Heldentum“ verbargen sich schematische, stark ideologisch geprägte Vorstellungen über tapferes und feiges Verhalten während der Verfolgung. Die Erinnerung der Überlebenden blieb auf das private Umfeld beschränkt. Praver sagte dazu: „In der Schule hatten wir uns mit dem Widerstand identifiziert, mit den Partisanen und Gettokämpfern. Wir waren die Widerstandskämpfer, und die anderen, das waren die Schafe, die sich zur Schlachtbank führen ließen. Jetzt entdeckten wir plötzlich, dass das eine große Lüge war, eine Lüge, die vom Jom-Kippur-Krieg entlarvt wurde.“

Mit der so genannten politischen „Revolution“ von 1977 kam zum ersten Mal die Likud-Partei unter Menachem Begin an die Macht. Damit begann sich der Holocaust-Diskurs in die Richtung zu entwickeln, die wir heute kennen. Politiker sprachen nun fast täglich von den Lehren oder Maximen, die aus der Judenverfolgung zu ziehen seien. Der Holocaust wurde zur allgegenwärtigen Metapher und zum wichtigsten Legitimationsmittel öffentlichen Handelns gegenüber den arabischen Ländern, den Palästinensern und im Verhältnis zu Europa.

Die Folgen des Oktober-Krieges und der politischen Wende von 1977 für die nationalen Erinnerungsmaximen konnte ich selbst in der ersten Reihe miterleben, als ich 1978 als Historiker in die israelische Armee eintrat und mit der Einführung der Materie „Holocaust-und-Heldentum“ in den Schulungsplan für Rekruten und Offiziersanwärter beauftragt wurde. Die militärhistorische Abteilung „Kampftraditionen“ hatte bis dahin Material zur Geschichte der israelischen Streitkräfte herausgegeben, in denen die Operationen von 1948, 1967 und 1973 behandelt wurden sowie die Aktivitäten der jüdischen Milizen vor 1948. Jetzt sollten die Aufstände in den Ghettos und die Waffentaten jüdischer Partisanen folgen.

Diese Erweiterung der Perspektive auf den europäischen Geschichtsraum und die identitäre Verbindung, die zwischen polnisch-jüdischen Zivilisten des Jahres 1943 und israelischen Gefreiten des Jahres 1978 hergestellt werden sollte, hatte ein Ziel: die Herstellung einer Analogie zwischen den Aktionen der israelischen Armee und dem verzweifelten Überlebenskampf von Opfern der Vernichtungsmaschinerie. Dieser Versuch, die kollektiven Sinngebungsprozesse auf so simplistische Manier zu beeinflussen, wurde von mir, und vielen anderen, anfangs nicht ernst genommen (Brecher 2005, S. 227ff). Aber der Versuch war erfolgreich, und die Resultate stellten sich schon fünfzehn Jahre später als kaum noch reversibel heraus.

Die Judenverfolgung als eine unbequeme und äußerst ambivalente Erinnerung wurde in ein umfassendes Holocaust-Ethos verwandelt, das die Wehrbereitschaft der Bevölkerung und die Politik des Staates festigen sollte.

Als europäische Staaten im Juni 1980 erstmals zu Friedensverhandlungen mit der PLO aufriefen, zu der bis dahin Kontakte tabu waren, berief sich Ministerpräsident Begin in seiner Ablehnung auf den Holocaust: „Wir werden aufgefordert, die Arabische SS, auch PLO genannt, in den Friedensprozess mit einzubeziehen. Diese Mörderbande hat am Vorabend des Gipfels von Venedig ihre Absicht kundgetan, die „Zionistische Einheit“, wie sie es nennen, politisch, ökonomisch, militärisch, kulturell und ideologisch zu beseitigen. Seit „Mein Kampf“ hat niemand mehr so deutlich seine Absicht erklärt, die jüdische Nation vernichten zu wollen“ (BBC 1980).

In einer Stellungnahme während der Invasion des Libanon 1982 ging Begin in den identitären Konstruktionen noch einen Schritt weiter: „Ich fühle mich wie ein Regierungschef, der seine tapfere Armee nach Berlin führt, wo sich Hitler und seine Henker in einem Bunker tief unter der Erde eingegraben haben. Meine Generation [...] hat am Altar Gottes geschworen, dass der, der seine Absicht verkündet, den jüdischen Staat oder das jüdische Volk zu vernichten, sein Schicksal besiegelt hat. Das, was einmal von Berlin ausging, Berlin ohne Anführungsstriche, wird nie wieder geschehen“ (Associated Press 1982).

Dieser neue Holocaust-Diskurs begleitete und beschleunigte den Prozess der Umdeutungen, die den nahöstlichen Ursprung des Konflikts mit den Palästinensern leugneten und ihn dem europäischen Geschichtsraum von 1933-1945 zuordneten. Die neu- en Sinngebungen wurden überraschend schnell Bestandteil der kollektiven Selbstbilder. Für den jüdischen Bevölkerungsteil bedeuteten sie nichts weniger als eine neue, umfassende Interpretation des Konflikts und seiner Dynamik, die der arabischen- palästinensischen Seite die entscheidende Verantwortung für den Grundkonflikt zuwies. Wenn die Feindschaft gegenüber dem jüdischen Staat auf antisemitische Einstellungen und genozidale Absichten bei den arabischen Nachbarn beruhte, war die jüdische Bevölkerung aus ihrer Verantwortung für die Entstehung – und die Lösung des Konflikts entlassen.

1993 brach ein kurzes Interregnum der Arbeitspartei an, eine Zeit, in die die Initiative zum Friedensprozess von Oslo fällt.

Die neue Regierung versuchte den Ort des Holocaust in der politischen Kultur wieder zu verschieben. Die arabischen Nachbarn und die PLO, wollte man mit ihnen Frieden schließen, durften nicht länger als das absolut Böse hingestellt werden, mit dem eine Einigung unmöglich war. Die Lehren des Holocaust nahmen eine allgemeinere Form an, auch im Rekruten-Unterricht. In diese Zeit fällt auch der Beginn eines ganz außergewöhnlichen Prozesses – die Aneignung von Auschwitz als Erinnerungsort des Staates Israel.

Der Prozess der Aneignung begann mit der Öffnung der Gedenkstätte für israelische Besucher im Jahre 1988. Bis dahin hatte sich Israel an anderen Orten als der Staat präsentiert, der durch den Holocaust historisch legitimiert und zum Handeln beauftragt war. Dazu diente meist die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Bei den jährlichen Feierlichkeiten des Jom HaSchoa traten hier die politische Elite, Überlebende, Widerstandskämpfer und Soldaten der israelischen Armee gemeinsam als Akteure auf. Mit Auschwitz stand jetzt ein weitaus mächtigeres Symbol zur Verfügung.

Auschwitz begann für Israel, viertausend Kilometer entfernt, die Funktion einer nationalen Gedenkstätte anzunehmen, eines heiligen Ortes, an dem bedeutende zivile und militärische Zeremonien abgehalten werden konnten. Der größte jüdische Friedhof der Welt, wie israelische Politiker Auschwitz zu nennen begannen, wurde für Israel zu einer symbolischen Grabstätte, zu einem Ehrenmal, an dem eine Nation ihrer Gefallenen gedenkt, ihrer Geschichte Sinn gibt und an der sie der Zukunft Richtung verleiht.

1992 kam unter Leitung des damaligen Stabschefs und späteren Ministerpräsidenten Ehud Barak die erste Armeedelegation nach Auschwitz. Barak sagte anlässlich dieser ersten militärischen Zeremonie: „Vor 47 Jahren erlosch das Feuer in den Krematorien. Drei Jahre später entstand der Staat Israel. Eine direkte Linie führt von diesem Tal des Todes zu der Vision des Staates. Schon viele wollten uns auslöschen. Wir haben sie alle überlebt. Von den vielen Lehren, die sich aus diesem Ort, Auschwitz, ergeben, sind zwei am wichtigsten: Nicht eine einzige Regierung auf dieser Erde hatte damals den Willen oder die Fähigkeit, die Opfer zu schützen, ihnen Hilfe und Zuflucht zu bieten. Und: Wir müssen stark sein. Sehr stark. Die israelische Armee steht für diesen Willen und unsere Entschlossenheit: Das, was hier geschehen ist, wird nie wieder geschehen“ (Brecher 2005, S. 287).

Das Auftreten des höchsten israelischen Militärs in Auschwitz und die direkte Verknüpfung der Katastrophe mit den Aufgaben von Armee und Staat fanden in der Öffentlichkeit großen Anklang. Von nun ab stattete jeder neue Stabschef Auschwitz einen offiziellen Besuch ab, um sich dort vor den Toten der Nation zu verneigen.
Nach dem Scheitern der Oslo-Verhandlungen, dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Wahlsieg der Likud unter Ariel Sharon wurde das Holocaust-Ethos der Achtziger Jahre neu belebt.

Als die israelische Luftwaffe 2002 eine Einladung zu Feierlichkeiten anlässlich des 85. Jahrestages der Gründung der polnischen Luftwaffe erhielt, wurde der Plan gefasst, eine israelischen Staffel von F-15-Kampfjets nach Auschwitz zu entsenden. Diese Umformung der Teilnahme Israels an einer herkömmlichen militärischen Luftshow zum nationalen Ritual ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der Aneignung der Holocaust-Erinnerung durch Israel. Für den Besuch wurde ein neuer Akt in den Symbolhandlungen der israelischen Gedenkkultur geschaffen: der zeremonielle Überflug über eine Gedenkstätte. Damit knüpften die Schöpfer an die militärischen Zeremonien der Sieger des Zweiten Weltkriegs an, an die Luftparaden über dem Arc de Triomphe in Paris, dem Cenotaph in London und dem Roten Platz in Moskau, und festigten den Status von Auschwitz als nationales Monument des jüdischen Staates. Während des Überflugs Anfang September 2003 wurden die Namen derer verlesen, die an diesem Tag vor 60 Jahren in Auschwitz umgebracht worden waren. Am Boden, auf den Gleisen, die durch das Tor der Hauptwache zu den Vernichtungsanlagen führen, standen 200 israelische Soldaten stramm, während die Kampfjets im Tiefflug über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers flogen. Der von der Armee produzierte Film über das Ereignis, „Wir sind aus der Asche auferstanden“, wird inzwischen unter dem Titel „Adler über Auschwitz“ als Video verkauft und bei Spendenaktionen zu Gunsten Israels im Ausland eingesetzt. Einer der Piloten sagt darin: „Wir, Piloten der israelischen Luftwaffe, die wir auferstanden sind aus der Asche der Millionen, bezeugen unsere Ehrfurcht vor dem Heldentum der Gefallenen und schwören, das jüdische Volk und sein Land Israel zu verteidigen.“
 

Daniel Cil Brecher wurde in Tel Aviv als Sohn österreichisch-jüdischer Holocaust-Überlebender geboren. Als er zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Düsseldorf. Er studierte Geschichte und Philosophie und kehrte 1976 nach Israel zurück, arbeitete an der Universität Haifa und in der Gedenkstätte Yad Vashem. 1983 wurde er Direktor des Leo Baeck Instituts in Jerusalem. 1986 ging er, „von Israel enttäuscht“, nach Europa zurück und entschied sich bewusst für ein Leben in der Diaspora. Er lebt heute in den Niederlanden. Vorliegender Beitrag erschien zuerst in: Psychoanalyse, 2012, Heft 1 (28), 122-136.
 

Literatur

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BBC 1980. The EEC’s Venice statement, BBC Summary of World Broadcasts, June 17, 1980, Tues- day, SECTION: Part 4(A) The Middle Esat; ME/6447/i. LexisNexis Academic database, aufgerufen 19.05.2011.

Brecher, D. (2005). Fremd in Zion. Aufzeichnungen eines Unzuverlässigen. München: Deutsche Verlagsanstalt.

Brendler, K. (1997). Die NS-Geschichte als Sozialisationsfaktor und Identitätsballast der Enkelgeneration. In D. Bar-On, K. Brendler & A. P.  Hare (Hrsg.), „Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln ...“. Identitätsformation deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocausts (S. 53-104). Frankfurt a. M: Campus.

Burg, Y. (1971). Greetings on Behalf of the State of Israel by his Excellency the Minister of Social Welfare, Dr. Yosef Burg. In: Jewish Resistance during the Holocaust. Proceedings of the Conference on Manifestations of Jewish Resistance, Yad Vashem, April 7-11 1968, 15-16. Jerusalem: Yad Vashem.
Knesset (1959). Sefer Ha-Chukim, Nr. 280, Jerusalem.

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Holzamer, K. (1989). Kritische Sendungen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus im ZDF.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Holzamer. In R. Vogel (Hrsg.), Der deutsch-israelische Dialog, Bd. 6 (S. 4-6). München: Saur.
Kimmerling, B. (2001). The Invention and Decline of Israelness. State, Society and the Military.
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Märthesheimer, P. (1979). Vorbemerkung. In P. Märthesheimer & I. Frenzel (Hrsg.), Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen (S. 11-18). Frankfurt/M: Fischer.

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Schoeps, H. J. (1960). Rede von Landesrabbiner Robert R. Geis. Jüdische Geisteswelt, 317-319.
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Welzer, H., Moller, S. & Tschuggnall, K. (Hrsg.) (2002). Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M: Fischer.

Wierling, D. (1991). Die Grenzen der Volkssolidarität. In L. Niethammer, A. Plato & D. Wierling (Hrsg.), Die Volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR (S. 136-146). Berlin: Rowohlt.
 


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