Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle

Ein persönlicher Erfahrungsbericht

Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle – Der Evangelische Präsident des DKR, Pfarrer Friedhelm Pieper, erinnert sich:

An dem höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, im vergangenen Jahr hörten die in der Synagoge versammelten vielen Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Halle mitten in ihrem Beten plötzlich Schüsse. Die Überwachungskameras zeigten, wie draußen auf der Humboldtstraße ein Mann auf die verschlossene Tür schoss. Zutiefst erschrocken mussten die Betenden realisieren, dass hier ein Angreifer einen Anschlag mit Schusswaffen und Sprengsätzen auf sie vorhat. Sie verrammelten entsetzt die Eingangstür, riefen die Polizei, die nicht (!) vor der Synagoge Wache stand, obwohl die Gemeinde wegen des hohen Feiertages darum gebeten hatte. Sie brachten Kinder, Frauen und die Älteren in die hinteren Räume und waren gezwungen, darüber nachzudenken, wie sie diesen niederträchtigen Angriff abwehren konnten. Wie durch ein Wunder hielt die Holztür an der Straße dem Angriff stand. In seinem Wüten erschoss der Täter eine Passantin, ein weiterer Passant verdankte sein Leben einer Schusshemmung. Noch immer traf keine Polizei ein. Der Angreifer fuhr weiter und erschoss in der Nähe einen Gast eines Döner-Imbisses. Er flüchtete vor den nun anrückenden Streifenwagen, verletzte zwei weitere Personen bevor er dann endlich von Polizisten festgenommen wurde.

Was für ein entsetzlicher Tag für die jüdische Gemeinde und für uns alle! Mitten am helllichten Tag wird in einer deutschen Stadt ein Überfall mit Schusswaffen auf die Betenden in der Synagoge verübt. Das ist unfassbar! Das war aber Realität in Deutschland im Oktober 2019.

Der DKR hat diesen niederträchtigen und hasserfüllten Angriff umgehend auf das schärfste verurteilt. Der evangelische Präsident des DKR, Pfarrer Friedhelm Pieper, ist zwei Tage später zum Freitagabendgebet, dem Kabbalat Schabbat, nach Halle gefahren. Er hat dort die Anteilnahme der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland zum Ausdruck gebracht. Heute, ein Jahr nach dem mörderischen Anschlag, denken wir mit Mitgefühl an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Halle, in der Hoffnung, dass sie mit ihren Erinnerungen zurechtkommen können.

Dass dieser Anschlag Fragen an das Sicherheitskonzept der Regierung des Landes Sachsen-Anhalt aufgeworfen hatte, war sofort offensichtlich. Ministerpräsident Reiner Haseloff versprach beim Freitagsgebet in der Synagoge neue Sicherheitsbestimmungen zum Schutz jüdischen Lebens und jüdischer Einrichtungen in seinem Bundesland. Die jüdische Gemeinde in Halle bestätigt, dass diesen Worten auch Taten gefolgt sind.

Aber die Fragen reichen auch ein Jahr nach dem entsetzlichen Angriff auf die jüdische Gemeinde tiefer. Wie schaffen wir es, solchen Tätertypen frühzeitiger das Handwerk zu legen? Wie können wir besser und umfassender den Hass und die Judenfeindschaft im Internet bekämpfen? Wie können Polizei und Sicherheitsbehörden besser und schneller solche tödlichen Radikalisierungen von einsamen Männern hinter den Bildschirmen verhindern? Auf jeden Fall sind wir alle darin gefordert, das Wiederaufflammen von Antisemitismus in unserem Land auf allen Ebenen zu bekämpfen! Es ist wichtig, dass wir deutlich öffentliche Zeichen der Verbundenheit mit den jüdischen Gemeinden setzen!

Nach dem Freitagsgebet ging Pfarrer Pieper mit dem Gemeindevorsitzenden Max Privorotzki und Gemeindemitgliedern durch die angeschossene Holztür nach draußen. Dort standen über eintausend Hallenserinnen und Hallenser mit Kerzen in der Hand. Sie sangen im Schein der Kerzen in nicht endenden Wiederholungen „Schalom Chaverim, Schalom Chaverim“. Der Gemeindevorsitzende sagte später, dass ihm und seiner Gemeinde diese Zeichen der Solidarität sehr gut getan haben.

Das ist es, was wir den jüdischen Gemeinden jetzt zu Beginn des neuen Jahres im jüdischen Kalender wünschen: Möge es für alle ein gesundes und ein friedliches Jahr werden! Schalom!