Der Historiker Wolfgang Reinhard als Anwalt des Vergessens

Der Historiker Wolfgang Reinhard als Anwalt des Vergessens

Eine „ritualisierte“ Holocaust-Erinnerung würde „machtbesetzt und tabugeschützt“ das „natürliche Ausdünnen der Erinnerung“ verhindern.

Der Artikel des Freiburger Historikers Wolfgang Reinhard, ursprünglich in der Konrad-Adenauer-Stiftung Sachsen gehalten und in der FAZ vom 10. Januar publiziert, geht der Frage nach, wie der Mord an den europäischen Juden durch das sogenannte Dritte Reich in Deutschland, Israel und den USA rezipiert wurde. Er zeichnet dabei verschiedene Phasen nach und deutet z.B. den Eichmannprozess in Israel als Versuch des israelischen Generalstaatsanwaltes Gideon Hausner „eine nationale Legende zu erschaffen, die noch Generationen später nachwirken würde“. Reinhard führt in seiner Argumentation alle bekannten amerikanischen oder israelischen Kritiker der gängigen Holocaustrezeption an, um schließlich mit einem Zitat von Alfred Grosser zu enden, dass die durch diese aus Sicht des Autors überzeichnete Holocaust Rezeption „unweigerlich Feindseligkeit erzeugen“ werde. Rät der Historiker also zum Schutz der Opfer bzw. ihrer Nachfahren zum Vergessen?

Allerdings gewinnt man nicht den Eindruck, dass Wolfgang Reinhard eine tiefere Wahrnehmung der Opfer des Holocaust und deren Nachfahren hat. Würde er die Schmerzen der Überlebenden, ihre Alpträume und die Unaussprechlichkeit des Erlittenen wahrnehmen, käme er nicht auf den Gedanken, dass „Holocaust Survivor … zu einem stolz getragenen Ehrentitel“ unter den Opfern wurde.

Es liegt eher nahe, dass Wolfgang Reinhard nach einer Entlastung dafür sucht, dass nach seiner Meinung Deutsche „keine andere Wahl“ hätten, „als die Folgen ihrer Geschichte auszuhalten“.

Merkwürdig ist nur, dass der Historiker Reinhard dieses „Aushalten“ offenbar rein negativ sieht und nicht das Potential erkennt, dass eine Konfrontation mit unvergessener und nicht verdrängter Geschichte mit sich führt: etwa die historische Untersuchung darüber, welche Überlieferungen und Voraussetzungen in der deutschen Geschichte das Zustandekommen der von den Nazis völlig enthemmten Judenfeindschaft möglich gemacht haben.

Der Historiker Wolfgang Reinhard aber möchte in Bezug auf den Holocaust der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte entfliehen und dieses besonders grausame Kapitel dem Vergessen anheimgeben. Er scheint überzeugt davon, dass auch der beispiellose Mord an den Juden im Laufe der Zeit im Gedächtnis der Deutschen einem „natürliche(n) Ausdünnen der Erinnerung“ unterlegen sein wird. Diesem „natürlichen“ Ausdünnungs-Prozess aber würde eine inzwischen weltweite Erinnerungskultur entgegenarbeiten, die das Gedenken an die Schoah zu einem „rituellen Mantra“ gemacht hätte.

Nicht nur, dass dieses rituelle, „pflichtgemäße“ Gedenken nach Reinhard jüdischen Ursprungs ist, es steht für ihn auch dem Gedächtnis „der Deutschen“ entgegen, das „der üblichen Erleichterung durch Vergessen“ folge. Reinhard arbeitet hier mit der unhaltbaren Gegenüberstellung von „deutsch“ und „jüdisch“ - im völligen Verkennen des historischen Jubiläums von 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. In seiner merkwürdigen Wahrnehmung, dass „Erinnern“ ursprünglicher Teil nur des Judentums wäre, stellt er die These auf, dass die „uralte jüdische Erinnerungskultur“ nicht nur das Gedenken der Deutschen, sondern „… inzwischen die Erinnerungskultur der Welt geprägt“ habe.

Merkt der Historiker Reinhard nicht, wie sehr er mit der Entwicklung seines Gegensatzpaares „deutsch: Erleichterung durch Vergessen“ und „jüdisch: pflichtgemäße Erinnerungskultur“ in Argumentationsmuster abgleitet, die sich im Arsenal des klassischen Antisemitismus wiederfinden? Das Judentum hätte danach die eigene rituelle Erinnerungskultur nicht nur den Deutschen, sondern der ganzen Welt aufgedrückt. Diese jüdische Form des Gedenkens hätte „kraft ihrer Medienmacht“ eine „Holocaust-Kultur“ geschaffen, die sich „machtbesetzt und tabugeschützt“ durchsetzt. Dieses Erinnern aber, das gegen die deutsche Hoffnung auf „natürliches Vergessen“ arbeite, würde am Ende für Juden selber „gefährlich“ werden und eine Gegenwehr erzeugen, eine antijüdische „Feindseligkeit“. Durch das Judentum käme es also zu einer Medien-basierten machtvollen Beeinflussung der Welt, die am Ende schließlich Judenfeindschaft überhaupt erst hervorbringen würde. Das sind nun allerdings klassische antisemitische Motive!

All dies ist sehr irritierend. Und es kommt hinzu, dass Reinhard keinerlei Probleme darin sieht, die Wertung eines rechtsextremen AfD-Politikers zu übernehmen, wonach das Mahnmal für die ermordeten Juden in Berlin ein „Denkmal der Schande“ sei. Sogar die von dem Rechtsextremen bewusst gewählte Doppeldeutigkeit nimmt Reinhard auf, ließe sich doch das Mahnmal „auch (!) im positiven Sinn als einzigartige Demonstration von Zerknirschung verstehen“. Allerdings sucht man in dem gesamten Beitrag Reinhards vergeblich nach Ausdrucksformen einer „Zerknirschung“ angesichts des millionenfachen jüdischen Leidens.

An anderer Stelle versucht sich der Historiker in der Theologie: „Das jüdische Erinnerungsgebot wurde dort mit dem christlichen Erlösungsversprechen zur Vorschrift für deutsche Trauerarbeit verbunden. Das Versprechen sei aber nicht einlösbar. Das Ergebnis ist eine erinnerungspolitische Blockade.“ Was haben jüdische Erinnerungsgebote an das Schöpfungswerk oder an den Auszug aus Ägypten – beides der Bibel nach göttliche Fügungen - mit der Schoa zu tun? Und wieso führt Erinnerung an die Opfer zu einer „erinnerungspolitischen Blockade“?

Der Freiburger Professor versucht also den ganz großen erinnerungspolitischen Wurf, in dem er analytische Kritikansätze an Holocaustpräsentationen sinnentleert zu einer scheinbar logischen Schlussfolgerung führt, die aber bei näherem Hinsehen nichts anderes ist, als tendenziös zusammengeschusterte Zitate.

Was für ein Geschichtsbild hat dieser Historiker? „Mit dem Aussterben der Opfer könnte der Holocaust eigentlich Geschichte werden, wäre er nicht zum rituellen Mantra gemacht worden.“ Der Holocaust könne Geschichte werden, fordert Reinhard. Ja was ist er denn? Gegenwart? Zukunft?

„Holocaustgedenken“ in Deutschland geht weit über die Erinnerungsarbeit an den ermordeten europäischen Juden hinaus: Der 27. Januar wurde von Bundespräsident Roman Herzog 1996 als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und nicht allein als Gedenktag für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gesetzt – und die in den deutschen Bundestag zur Gedenkstunde des Parlaments eingeladenen Redner haben von Sinti und Roma bis zu den wegen ihrer Behinderungen oder ihrer Homosexualität Verfolgten gesprochen.

In Berlin wurden nach dem „Denkmal für die ermordeten Juden“ auch Erinnerungsorte für die Opfer der Verfolgung der Sinti und Roma, der Homosexuellen und der „Euthanasie“-Morde geschaffen – es gibt darüber hinaus in Realisierung befindliche Überlegungen für die polnischen Opfer des NS-Vernichtungskrieges gegen Polen.

Schließlich ist seit Jahrzehnten mit der „Topographie des Terrors“ eine jährlich von einem Millionenpublikum besuchte analytische Ausstellung zu den Strukturen der Täterinstitutionen und ihrer Mitarbeiter entstanden, die beredt darüber Auskunft gibt, dass in einem Land, in dem nicht alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und polizeiliches Handeln nicht durch unabhängige Gerichte überprüft werden kann, jeder zum Opfer der willkürlichen Gewalt werden konnte. Insofern ist die Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen auch immer eine Vergewisserung der Gesellschaft für ihre demokratische Ordnung.

So stellt sich abschließend die Frage, ob der Geschichtsprofessor aus Freiburg im Dschungel der von ihm bemühten Zitate die Orientierung verloren hat. Für einen Vortrag in Sachsen ist seine Methode des Zitatdropping vielleicht ein probates Vorgehen, für einen Artikel in einer Qualitätszeitung wohl ein Zeichen dafür, dass die Redaktion über die Jahreswende unterbesetzt war.

Bad Nauheim, 24. Januar 2022

Im Namen des DKR-Präsidiums:
Andreas Nachama (Jüdischer Präsident) und Friedhelm Pieper (Evangelischer Präsident)