Publikation

Christlich-akademische Judentumsforschung im Dienst der NS-Rassenideologie und -Politik: Der Fall des Karl Georg Kuhn

Das letzte Buch des früheren Ev. DKR-Präsidenten Berndt Schaller: ein Vermächtnis

1940 ist der Tübinger Privatdozent Dr. Karl Georg Kuhn (1906-1976) im Warschauer „Sondereinsatz“: „Inspektion“ der Jüdischen Gemeinde-Bibliothek und „Untersuchung des ostjüdischen Problems, solange die Gelegenheit dazu an Ort und Stelle günstig“ sei.

Genau 80 Jahre später, 2020, schließt Dr. Berndt Schaller (1930-2020), Göttinger Judaist und evangelischer DKR-Präsident (1995-2007), die erste Monografie über die NS-Vergangenheit des renommierten Qumran-Forschers Kuhn ab. Dabei geht es ihm nicht darum, seinen akademischen Lehrer pauschal zu verurteilen; vielmehr will er anhand der Fakten den Leser*innen ein eigenes Urteil ermöglichen. Zeitlebens hat sich Schaller für christlich-jüdische Verständigung und Antisemitismusbekämpfung engagiert – auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie: Als 12-jähriges Mitglied der „Hitlerjugend“ bekam er die Folgen seines unvollständigen „Ariernachweises“ zu spüren; seine Großtante kam in Theresienstadt um.

Kuhn, ein intelligenter, gut ausgebildeter Wissenschaftler, hatte sich bewusst in den Dienst nationalsozialistischer Ideologie und Praxis gestellt. Seine Warschauer Zeit und aktive Beteiligung an der NS-Vernichtungspolitik verschwieg er später. Sie kam erst 1979 ans Licht, mit Veröffentlichung des Tagebuches von Adam Czerniakow, ehemals Vorsitzender des „Judenrates“ von Warschau.

Schallers kritische Sichtung von Kuhns zwei Karrieren – vor und nach 1945 – wirft grundsätzliche Fragen nach dem Selbstverständnis deutscher Wissenschaft und christlicher Theologie auf: Wie konnte es dazu kommen, dass ein judaistisch ausgebildeter Theologe als „Sachverständiger für die Judenfrage“ zum aktiven Unterstützer der Nazis wurde? Seine Lehrveranstaltung hielt Kuhn 1934 in SA-Uniform, mit Ehrendolch! – Wie konnte es sein, dass ein von den Zeitgenossen schwer Belasteter so rasch entnazifiziert und rehabilitiert wurde? – 1936 in den hochrangigen Sachverständigenbeirat der „Forschungsabteilung Judenfrage“ berufen, arbeitete Kuhn dem „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ aktiv zu! So hielt er 1939 in Berlin vor 2500 Zuhörern einen Vortrag, im Völkischen Beobachter besprochen mit dem Titel „Die Gedankenakrobatik des Talmud“.

Einige Jahre später erhielt Kuhn eine Dozentur: 1949 in Göttingen, 1954 in Heidelberg: Aufgenommen in die Akademie der Wissenschaften, erlangte der Qumran-Forscher internationale Anerkennung.

U. Kusche / B. Kratz-Ritter

Berndt Schaller:

Christlich-akademische Judentumsforschung im Dienst der NS-Rassenideologie und -Politik.
Der Fall des Karl Georg Kuhn.

Mit einem Vorwort von Susannah Heschel

Göttingen 2021
Vandenhoeck & Ruprecht
206 S.
ISBN-13: 978-3525503553