Nachruf auf Rabbiner Henry G. Brandt

Eine energische Stimme im jüdisch-christlichen Dialog wird fehlen – Der DKR und seine Mitgliedsgesellschaften trauern um den langjährigen jüdischen Präsidenten und Ehrenvorsitzenden Rabbiner em. Dr. h.c. Henry G. Brandt

NACHRUF

Bad Nauheim, 8. Februar 2022

Mit großer Trauer haben der Deutsche Koordinierungsrat und seine Mitgliedsgesellschaften die Nachricht vom Tode Henry G. Brandts aufgenommen. Rabbiner Brandt verstarb am 7. Februar 2022. Er hat die Arbeit und das Wirken des Koordinierungsrates für den christlich-jüdischen Dialog mehr als drei Jahrzehnte entscheidend geprägt und war lange Zeit die wichtigste jüdische Stimme in der Begegnung von Menschen verschiedener religiöser Prägung. Anlässlich des 80. Geburtstages von Rabbiner Brandt hatte der Deutsche Koordinierungsrat 2007 mit einer neuen Tradition begonnen: der jährlich stattfindenden Rabbiner-Brandt-Vorlesung. Sie ehrt den Namensgeber für seine Impulse im interreligösen Dialog und dient der von ihm geforderten Klärung der Positionen im christlich-jüdischen Gespräch. Zu diesem Zweck werden seitdem einmal jährlich an wechselnden Orten prominente und kompetente Redner:innen eingeladen. In diesem Jahr werden wir nun in besonderer Weise an ihn erinnern, wenn Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka in der Frauenkirche Dresden am 3. November die Rabbiner-Brandt-Vorlesung halten wird.

Stimmen aus dem Präsidium des DKR:

Rabbiner Prof Dr. Andreas Nachama, Jüdischer Präsident des DKR:

„Das besondere an seinem Wirken war sein Charisma als einem, der es meisterlich verstand, aktuelle Fragestellungen und Probleme durch aus der jüdischen Tradition stammende Beispiele und Geschichten aus Tora, Midrasch und chassidischen Geschichten der Neuzeit zu illustrieren, ja aus ihrer Quintessenz Lösungen für Gegenwart und Zukunft zu destillieren. Sollte aber etwa in einer problemgeladenen Sitzung gar keine Lösung herauskristallisiert werden, dann kam ihm sein intelligenter leiser Humor zur Hilfe, der niemals auf Kosten anderer alle Verkrampfungen löste und den Diskussionspartnern ein Lächeln in die Mundwinkel brachte.
Begegnungen mit Henry Brandt waren immer eine Bereicherung, denn er verkörperte jene Generation deutscher Juden, die nicht außerhalb der Gesellschaft stehend, sondern an ihr teilhabend und teilnehmend ein lebendiges Judentum verkörpern. Henry Brandt war für ein leuchtendes Vorbild für ein modernes Judentum. Rabbinerin Elisa Klapheck hat anlässlich seines 9o. Geburtstages Rabbiner Brandt als „beherzten Macher“ bezeichnet. Ganz selbstverständlich aktualisierte er in der Tradition Leo Baecks jüdisch-traditionelle Positionen, ohne das Wesen des Judentums aufzugeben, Rabbiner Henry Brandt steht gleichermaßen für wissenschaftlich-akademische Gelehrsamkeit wie für jüdisch-traditionelles Glaubenswissen – ohne Verrenkungen machte er jenen Spagat, der für die deutsch-jüdischen Rabbiner des 19. Und 20. Jahrhunderts identitätsstiftende Grundlage gewesen war. In seinen eigenen Worten ging es darum: „Die Tora in unseren Tagen zum Glänzen zu bringen“. Seine jüdisch-selbstbewusste Grundüberzeugung, dass Judentum und Christentum nebeneinander existieren, war wesentlich beeinflusst von der nach der Schoa übernommenen Verantwortung der christlichen Kirchen für einen gedeihlichen Dialog der beiden die europäische Kultur über zwei Millenia prägenden Religionen miteinander. So war es folgerichtig, dass er seit 1985 bis 2016, 31 Jahre lang, jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates war und im Dialog auch im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken zusammen mit Hanspeter Heinz über Jahrzehnte Eckpunkte des Dialogs zwischen den „zwei Glaubensweisen“ mitgestaltet hat.
Dass Henry Brandt so lange und bis ins hohe Alter so frisch und jugendlich wirkte, hat auch etwas mit seinem Verhältnis zu anderen Menschen zu tun. Er ließ immer alle an seinen Erfolgen so teilhaben, als wären sie gemeinsam erstritten – auch wenn er der Urheber war. Anlässlich seines 90. Geburtstags sagte er: “Das Leben, das sind die Menschen um einen, und Erfolge sind immer geteilt.“ Seine Erfahrung und sein Engagement werden uns fehlen. Sein Andenken sei zum Segen!“

Pfr. Friedhelm Pieper, Evangelischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit über die Bedeutung von Rabbiner Brandt für ihn persönlich:
„Rabbiner Brandt war für mich über Jahrzehnte hinweg die prägende Stimme des Judentums im christlich-jüdischen Dialog in Deutschland. Er hat in ganz erheblicher Weise Christinnen und Christen für die vielfältigen Aspekte der jüdischen Religion aufgeschlossen. Henry war ein begnadeter Erzähler und konnte religiöse Themen hervorragend in wunderbaren Geschichten erzählend darstellen. Dass wir in den letzten Jahrzehnten im Dialog eine unerwartete Entwicklung zu bisher unerreichten, tiefgehenden, offenen und vertrauensvollen Beziehungen zwischen Christinnen und Jüdinnen, zwischen Christen und Juden erleben durften, ist auch in hohem Maße sein Verdienst. Ich traf ihn vor einigen Jahren in Augsburg in seinem Rabbiner-Büro. Es saß da hoch betagt etwas gebückt hinter seinem wuchtigen Schreibtisch beladen mit unzähligen Büchern. Kaum tat er den Mund auf, erklang diese klare und höchst energische Stimme und er erzählte mir von seinem rastlosen Einsatz für jüdische Angelegenheiten an den verschiedenen Orten, an denen er unermüdlich tätig war. Sein Telefon stand nicht still. Er war ein gefragter Gesprächspartner und Berater für viele aus der Politik und den Religionen. Er kannte keinen Ruhestand. Wir verlieren mit Rabbiner Henry Brandt eine energische, höchst engagierte und hartnäckig vorwärtsweisende Stimme im jüdisch-christlichen Dialog. Als Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit trauern wir um unseren Ehrenvorsitzenden Rabbiner Henry Brandt, der über 32 Jahre als jüdischer Präsident die christlich-jüdische Zusammenarbeit in entscheidendem Maße prägte! Wir werden ihn sehr vermissen! Möge sein Andenken zum Segen sein!“


Rabbiner Brandt (2.v.l.) und Walter Kardinal Kaspar (3.v.l.) beim historischen Händeschlag anlässlich der ersten Begegnung von Vertretern des Vatikans und Rabbinern in Deutschland 2006 in Berlin.

Biografie

Rabbiner Dr. Henry G. Brandt wurde 1927 als Heinz Georg Brandt in München geboren. Er war Zeuge des von den NS-Machthabern angeordneten Abrisses der Münchner (liberalen) Hauptsynagoge im Juni 1938, die er mit seinen Eltern regelmäßig besucht hatte. 1939 gelang seiner Familie die Flucht nach Großbritannien, von wo aus Henry G. Brandt nach Palästina emigrierte. 
Dort diente er ab 1947 in der jüdischen Untergrundorganisation Palmach, anschließend als Flottenoffizier in der entstehenden israelischen Marine.
Von 1951 bis 1955 studierte er in Nordirland Wirtschaftswissenschaften und wurde Marktanalytiker in der Automobilindustrie in London. 1957 nahm er das Rabbinerstudium am Leo Baeck College in London auf und wurde 1961 ordiniert. Er war Rabbiner in Leeds und Genf sowie Gründungsrabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde „Or Chadasch“ in Zürich. Über Göteborg kam er 1983 zurück nach Deutschland.


Rabbiner Brandt und seine Frau Sheila bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit 2017 in der Paulskirche zu Frankfurt/M.

Funktionen

Von 1983 bis 1995 war er Landesrabbiner des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen mit Sitz in Hannover, von 1995 bis 2004 Landesrabbiner des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe in Dortmund.
Von 1985 bis 2016 wirkte er als  jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Von 2004 bis zum März 2019 war er Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg. Er betreute als Amtsrabbiner zudem die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld.
Im Jahr 2004 wurde Brandt zum Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) gewählt; er hatte das Amt bis Februar 2019 inne.
Darüber hinaus war er Mitglied des Vorstandes der Buber-Rosenzweig-Stiftung und des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.


Rabbiner Brandt (l.) mit seinem Nachfolger im Amt des Jüdischen Präsidenten des DKR Rabbiner Andreas Nachama bei der Gemeinschaftsfeier während der Woche der Brüderlichkeit 2017 in Frankfurt.

Auszeichnungen

Für seine Verdienste erhielt er zahlreiche Ehrungen unter anderem den Muhammad-Nafi-Tschelebi-Preis für jüdisch-muslimischen Dialog (2005), den Israel-Jacobson-Preis (2007), das Bundesverdienstkreuz I. Klasse (2008), den Bayerischen Verdienstorden (2014) und den Estrongo Nachama Preis für Toleranz und Zivilcourage (2019).

Henry Brandt lebte zuletzt in der Schweiz, war verheiratet und hinterlässt vier Kinder sowie sieben Enkel.