Integration – aber wie?

Vortrag von Bischof Norbert Trelle (Hildesheim), beim Treffen zwischen Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz, des Rates der EKD, der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands am 7. März 2016 in Hannover


Bevor ich auf das Thema des heutigen Abends eingehe, erlauben Sie mir bitte eine kurze Anmerkung zur Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, die im Dezember 2015 veröffentlicht wurde. Mit Dankbarkeit haben wir Bischöfe diese Erklärung von mehr als 50 orthodoxen Rabbinern aufgenommen, in der der jüdisch-christliche Dialog der vergangenen Jahrzehnte gewürdigt wird. Als katholischer Bischof freut es mich, dass in diesem Zusammenhang auch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra aetate und die nachkonziliare Lehrentwicklung hervorgehoben werden und auch das Wirken der Päpste erwähnt wird. Wir wissen, dass einige theologische Aussagen zur heilsgeschichtlichen Bedeutung des Christentums nicht von allen Rabbinern geteilt werden. Wir verstehen diese Erklärung ebenso wie die Erklärung vor allem liberaler Rabbiner Dabru emet aus dem Jahr 2000 als Ermutigung, den Weg des Dialogs und der Zusammenarbeit fortzusetzen. Und diesen Weg gehen katholische und evangelische Christen ja in ökumenischer Verbundenheit.

Ebenso freut es mich, dass die Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum anlässlich des 50-jährigen Jubiläums in einem Grundsatzpapier die theologische Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum bekräftigt und in klaren Worten festgestellt hat, dass die katholische Kirche keine Judenmission betreibt und sie auch nicht unterstützt.(1)

Der christlich-jüdische Dialog der vergangenen Jahrzehnte hat auf christlicher Seite zu einer Reinigung der Verkündigung von antijüdischen Vorurteilen und Stereotypen geführt. Er hat vor allem auch einer neuen Wertschätzung der hebräischen Bibel, des christlichen Alten Testaments den Weg geebnet. Das lässt sich auch am Thema des heutigen Abends deutlich zeigen.


I.
Für viele Christen, die sich oft seit vielen Monaten für Flüchtlinge einsetzen, ist ein Wort Jesu leitend, das der Evangelist Matthäus in seiner großen Gerichtsrede überliefert hat: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35b). Jesus identifiziert sich hier mit dem Fremden und Obdachlosen und fordert seine Jünger auf, ihm darin nachzufolgen. Die Gerichtsrede geht sogar noch darüber hinaus: An der humanitären Hilfe für den Fremden und Obdachlosen entscheidet sich, so kann man das Wort Jesu in unsere Sprache übersetzen, das Heil des Menschen im Hier und Jetzt und auch in der Ewigkeit. Eine stärkere Formulierung ist kaum vorstellbar. Diese herausragende Bedeutung, die Jesus der Zuwendung zum Fremden für die Humanität einer Gesellschaft und für das ewige Heil des Menschen verleiht, ist nun keineswegs zufällig. Er steht damit in der Tradition Israels. Die volle theologische Bedeutung dieses Satzes erschließt sich uns nur, wenn wir das Wort Jesu in Bezug zu den gesetzlichen Bestimmungen in den fünf Büchern Mose setzen, die sich auf den Fremden beziehen. Dann wird nämlich deutlich, dass das Wort Jesu mehr ist als ein humanitärer Appell.

Das Verhalten gegenüber dem Fremden und die Stellung des Fremden in Israel nehmen einen prominenten Platz im Pentateuch ein. Das allein ist schon bemerkenswert. Denn die uns bekannten altorientalischen Gesetzessammlungen enthalten keine Bestimmungen zum Umgang mit Fremden, sondern beschränken sich auf die Normen, die das soziale Verhalten innerhalb des jeweiligen Volkes regeln. Zwar gibt es durchaus antike Gesellschaften wie etwa Athen oder Sparta, die dem Fremden einen rechtlichen Status zuerkennen. Doch der Unterschied zum Gesetz Israels wird sofort deutlich, wenn wir den Blick auf einzelne Gesetzesbestimmungen werfen.

„Wenn bei Dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ (Lev 19,33 f.) Diese beeindruckenden Sätze, für die es meines Wissens keine Parallelen in der Antike gibt, finden wir an einer zentralen Stelle der Bibel. Sie sind Teil des sogenannten Heiligkeitsgesetzes im dritten Buch Mose, dem Buch Leviticus. Das Heiligkeitsgesetz ist gleichsam die Mitte des Pentateuchs. Hier sind die Gesetze zusammengefasst, mit deren Hilfe Israel ein heiliges, d. h. gottgefälliges Leben führen soll. Zur Heiligkeit Israels gehört das Verhalten gegenüber dem Fremden.

Doch wer ist mit den Fremden gemeint? Als „Fremdling“, hebräisch ger, wird im Alten Testament ein Mensch fremder ethnischer Abstammung bezeichnet, der sich auf Dauer in Israel niedergelassen hat und in der Regel in einer sozial prekären Situation lebt. Oft sind die Fremden Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen. Flucht, Vertreibung, Migration und Exil sind ja biblische Grunderfahrungen, die Israel genauso machen musste wie andere Völker. Auch die Fluchtursachen waren in biblischen Zeiten keine anderen als heute. Man floh vor Hungersnöten (2), vor Krieg(3) oder wie Mose vor Strafverfolgung(4).

Doch in der Bibel sind Flucht, Vertreibung und Exil kein Schicksal, das es demütig zu ertragen gilt, sondern eine Herausforderung an die Gerechtigkeit. Weil die Israeliten am eigenen Leib in Ägypten Unterdrückung und Rechtlosigkeit erlitten haben, sollen sie im Land Israel eine Gesellschaft aufbauen, in der die Fremden nicht unterdrückt werden und vor allem nicht rechtlos sind. Die Aufforderung, nicht nur den Nächsten und Gott zu lieben, sondern auch den Fremden zu lieben, ist die Einladung zum Perspektivwechsel, die Einladung, die Welt und auch das eigene Verhalten aus der Perspektive des Fremden zu sehen. Das ist ein, wie wir zugeben müssen, sehr anspruchsvolles Gebot.

Die zahlreichen Gesetze, die den Fremden betreffen, haben das eine Ziel, dem Fremden in Israel einen rechtlich gesicherten Status zu geben und ihm ein Leben in Würde zu ermöglichen. Diese Rechtssatzungen zeigen, dass das Gesetz Israels mehr als ein rein nationales Recht ist. Es trägt universalistische Züge. Die Bibel beginnt bekanntlich nicht mit der Erwählung Abrahams, sondern mit der Erschaffung der Welt und des Menschen. Die Erzählung von einem Menschenpaar am Beginn der Zeit ist im Kern eine moralische Botschaft. Vor allem ethnischen, sozialen und religiösen Unterschieden zwischen Menschen gibt es eine fundamentale Gleichheit und Solidarität aufgrund der Abstammung von dem Einen. Die Würde des Menschen, die die moralische Leitidee moderner Verfassungen geworden ist, hat ihren biblischen Ursprung in der Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen und verlangt nach einer konkreten Rechtsordnung, die jedem Menschen ein Leben in Würde garantiert.

Wer die biblischen Rechtsvorschriften, die die Fremden betreffen, aufmerksam durchsieht, macht noch eine weitere interessante Entdeckung. Die Gesetze legen nicht nur die Pflichten fest, die die Israeliten gegenüber den Fremden zu erfüllen haben. Es gibt auch eine Reihe von Gesetzen, auf die die Fremden verpflichtet werden. Dabei handelt es nicht um besondere Gesetze, die nur für sie gelten, sondern um Gebote oder meist Verbote, die auch für sie gelten, wie z. B. das Verbot der Kinderopfer (Lev 18,26), der Gotteslästerung (Lev 24,16) oder das Arbeitsverbot an Jom Kippur (Lev 16,29). Es wird also von den Fremden erwartet, dass sie fundamentale Gesetze einhalten, die für das Zusammenleben unverzichtbar sind. Es wird aber nicht von ihnen verlangt, die Religion und Kultur der Israeliten zu übernehmen. Die sehr differenzierten Rechtsvorschriften des Pentateuchs weisen schon auf die moderne Unterscheidung von Integration und Assimilation hin.
Diese skizzenhaften Überlegungen scheinen mir notwendig, um die theologischen Gründe offenzulegen, die unseren kirchlichen Einsatz für Flüchtlinge motivieren. Es ist mir schlichtweg unverständlich, wie man meinen kann, mit fremdenfeindlichen und nicht selten menschenverachtenden Parolen und Handlungen das christliche Abendland zu verteidigen. Um es unmissverständlich zu formulieren: Fremdenhass ist mit der christlichen Botschaft unvereinbar. Das Gebot, den Fremden zu lieben, ist für Christen nicht weniger fundamental als die Gottes- und Nächstenliebe oder anders ausgedrückt: Auch der Fremde, auch der Flüchtling ist unser Nächster.


II.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle zunächst all denen danken, die seit vielen Monaten sich für die Begleitung, Betreuung und Integration der etwa eine Million Flüchtlinge einsetzen, die im vergangenen Jahr zu uns gekommen sind. Dazu gehören die über 100.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, aber auch die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, der Kommunalverwaltungen und Krankenhäuser, der Polizei und nicht zuletzt auch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen war und ist eine humanitäre und auch eine logistische Leistung, die höchste Anerkennung verdient. Diese Anerkennung gebührt nicht zuletzt den kleineren Kommunen in den Grenzregionen, die durch die Aufnahme von Flüchtlingen oft an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geführt wurden.

Ich erlaube mir an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass die Kirchen sich in den vergangenen Monaten keineswegs damit begnügt haben, andere zur Hilfe für Flüchtlinge aufzurufen, sondern auch selbst konkrete Hilfe geleistet haben. Die Bistümer und katholischen Hilfswerke haben im vergangenen Jahr mehr als 112 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe in Deutschland und in den Krisenregionen des Mittleren Ostens ausgegeben. Dazu kommen die Hilfsleistungen, die die Ordensgemeinschaften und die katholischen Verbände erbringen. Schwer zu beziffern ist schließlich das Engagement der Pfarrgemeinden, christlicher Gruppen oder einzelner Christen. Auch in diesem Jahr werden wir Bischöfe dieses Engagement finanziell und ideell nach Kräften unterstützen.

Die beeindruckende Hilfsbereitschaft, die wir in den vergangenen Monaten erleben konnten und immer noch erleben können, das ehrenamtliche Engagement so vieler Menschen, aber auch der Einsatz der Hauptamtlichen, ist ein bewundernswertes Zeugnis der Nächsten- und Fremdenliebe. Es zeigt, dass biblische Tugenden und Einstellungen in unserer Gesellschaft verankert sind und auch heute Menschen zum Handeln motivieren – unabhängig davon, ob sie sich selbst als Jude oder Christ, als gläubig oder ungläubig verstehen.

Leider waren die vergangenen Monate nicht nur durch Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen geprägt, sondern auch von Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung. Nach vorläufigen Zahlen, die das Bundesinnenministerium veröffentlicht hat, hat die Zahl rechtsextremistischer Straftaten 2015 um 30% gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Auch die Gewaltbereitschaft ist gestiegen. So hat sich die Zahl fremdenfeindlich motivierter Gewalttaten im vergangenen Jahr gegenüber 2014 verdoppelt. Noch alarmierender ist der Anstieg der Zahl von Anschlägen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Ihre Zahl liegt mit über 1000 Anschlägen fünfmal höher als 2014.(5)

Ebenso erschreckend sind die hasserfüllten Parolen auf Demonstrationen, die bisweilen die Grenze zum offenen Rassismus überschreiten. In den sozialen Medien und in den Kommentarspalten der Online-Ausgaben der Zeitungen herrscht nicht selten ein von Menschenverachtung bestimmter Grundton der Meinungsäußerung. Über die Hilfsbereitschaft und das Engagement der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe werden Häme und moralischer Zynismus ausgegossen. Politiker und auch Bischöfe, die sich für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen aussprechen oder das grundgesetzlich garantierte Asylrecht verteidigen, werden immer häufiger Opfer sogenannter „shitstorms“. Diese die Menschenwürde zutiefst verletzende Handlungen dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Hass ist keine legitime Meinungsäußerung. Hass zerstört die moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens und vergiftet die politische Debatte.

Die Demokratie aber lebt von der offenen und fairen Diskussion. In Rede und Gegenrede, in Argument und Gegenargument werden Meinungen geprüft, Interessengegensätze ausgeglichen und politische Lösungen gefunden. Wir alle haben die Pflicht, durch unser Verhalten dazu beizutragen, dass der Raum der öffentlichen Debatte nicht verwildert und das gesellschaftliche Klima nicht vergiftet wird. Denn die Aufnahme von einer großen Zahl von Flüchtlingen wirft Fragen auf, auf die wir gemeinsam tragfähige politische Antworten finden müssen.


III.
Die aktuelle politische Debatte konzentriert sich auf die Frage, wie die Zuwanderung begrenzt werden kann. Wir Bischöfe haben uns gegen eine sogenannte Obergrenze ausgesprochen. Das grundgesetzlich garantierte Asylrecht ist ein Individualrecht, das einem Menschen nicht mit dem Hinweis auf eine willkürlich festgelegte Obergrenze versagt werden kann. Jeder Asylsuchende hat Anspruch auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren, in dem sein Antrag geprüft wird. Das bedeutet natürlich auch, dass Asylsuchende, deren Antrag abgelehnt wurde, wieder in ihr Heimatland zurückkehren, sofern dem keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Aus unserer Sicht wäre eine Obergrenze auch mit den Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben, nicht vereinbar.

Gleichzeitig steht jedoch außer Frage, dass die Aufnahme der vielen schutzsuchenden Menschen eine gemeinsame Kraftanstrengung der internationalen Gemeinschaft erfordert. Die westlichen Industriestaaten müssen sich nach wie vor die Frage gefallen lassen, weshalb sie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in finanzieller und materieller Hinsicht nicht in die Lage versetzen, auch in den Flüchtlingslagern in der Nähe der Krisengebiete eine angemessene Versorgung der schutzsuchenden Menschen zu gewährleisten. Eine rasche Bei-legung der grausamen Konflikte, die den Mittleren Osten im Würgegriff halten, mag derzeit wenig Aussicht auf Erfolg haben. Doch eine Verbesserung der Situation in den Flüchtlingslagern vor Ort und eine Stabilisierung der an Syrien angrenzenden Staaten wären durchaus wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Fluchtursachen.

Gleichzeitig sollte jede verantwortungsbewusste Regierung erneut darüber nachdenken, ob eine geregelte Aufnahme von Flüchtlingen – etwa im Rahmen adäquater humanitärer Kontingente – der jetzigen Situation nicht vorzuziehen wäre. Der Mangel an sicheren Zugangswegen nach Europa trägt jedenfalls nicht zur Lösung, sondern eher zur Verschärfung einer ohnehin schon schwierigen Lage bei.

Leider hat sich die Europäische Union in der Flüchtlingspolitik bislang als nicht handlungsfähig erwiesen. Es ist für mich schwer nachzuvollziehen, warum es eine der wirtschaftlich stärksten und wohlhabendsten Regionen der Erde mit fast 500 Millionen Einwohnern überfordern soll, eine Million der Flüchtlinge aufzunehmen. Dies ist übrigens nur ein kleiner Teil der schätzungsweise 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, und auch deutlich weniger, als in den vergangenen Jahren die Türkei, Jordanien oder der Libanon aufgenommen haben.

Zum politischen Realismus gehört die Einsicht, dass auch in diesem und in den nächsten Jahren Flüchtlinge zu uns kommen werden. Selbst diejenigen, die für eine Obergrenze plädieren, geben damit indirekt zu, dass weiterhin Flüchtlinge nach Europa kommen und Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es wäre auch naiv zu meinen, Deutschland und Europa könnten von der Globalisierung der Märkte wirtschaftlich profitieren und blieben gleichzeitig von allen Krisen in anderen Weltregionen verschont.


IV.
Innenpolitisch stehen wir vor der Herausforderung der Integration.(6) Diese Herausforderung ist nicht neu. Deutschland hat spätestens seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert mehrere Phasen von Migrationsbewegungen erlebt und gemeistert. Einige von uns werden sich an die Integration der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg oder der sogenannten „Gastarbeiter“ in den 60er und 70er Jahren erinnern. Wir alle können uns an die Ankunft der Spätaussiedler in den 80er Jahren oder der jüdischen Kontingentflüchtlinge in den 90er Jahren erinnern. In all diesen Fällen verlief die Eingliederung anfangs schwierig. Es gab Probleme mit dem Wohnraum, der Anerkennung von Schulabschlüssen, Sprachprobleme, unterschiedliche Mentalitäten, Missverständnisse und Konflikte. Aber mit den Jahren konnten viele Probleme gelöst werden. Diese Erfahrungen können uns auch heute ermutigen.

Wenn wir das biblische Gebot der Fremdenliebe in eine säkulare Sprache übersetzen, dann können wir sagen, dass Integration gelingt, wenn wir den Zuwanderern mit Wohlwollen und Fairness begegnen. Wohlwollen und Fairness sind nicht nur Tugenden und Haltungen, die das Handeln des Einzelnen bestimmen. Sie müssen in Recht und Gesetz übersetzt werden und damit soziale Verbindlichkeit erlangen. Integration braucht verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen. Dazu gehören neben Maßnahmen zur Förderung des Deutschunterrichts vor allem Regelungen, die eine Integration in das Bildungswesen und in den Arbeitsmarkt fördern. Denn Bildung und Arbeit sind zentrale Integrationsfelder. Hier entscheidet sich mittel- und langfristig, ob die soziale, politische und kulturelle Integration gelingt.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zuwanderer keine homogene Gruppe bilden. Unter ihnen sind Jugendliche mit abgebrochener Schulausbildung, aber auch Ärzte, Juristen und Techniker mit mehrjähriger Berufserfahrung, gläubige Muslime ebenso wie Christen oder säkulare Menschen, alleinstehende junge Männer ebenso wie Familien mit mehreren Kindern. Auch hier gilt es, den einzelnen Menschen mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu sehen.

Integration verändert die Einzelnen und die Gesellschaft, die Zugewanderten ebenso wie die Einheimischen. Diese Einsicht ruft bei nicht wenigen Sorgen und Befürchtungen über die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft hervor. So hat der Präsident des Zentralrats der Juden, Dr. Schuster, schon früh darauf hingewiesen, dass die Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten aus Staaten kommen, in denen durch Regierungspropaganda, in Medien und Schulen ein manifester Antisemitismus und Israelhass verbreitet wird, der auch im gesellschaftlichen Zusammenleben seine Wirkung zeigt. Dieser Hinweis war und ist mit der Befürchtung verbunden, dass die Zuwanderung aus den arabischen Staaten den in der deutschen Gesellschaft schon vorhandenen Antisemitismus verstärken könnte. Wer die antisemitischen Parolen am Rande von Demonstrationen während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 noch im Ohr hat, wird diese Befürchtung ernst nehmen müssen.

Integration kann nur gelingen, wenn auch die, die zu uns kommen, unsere Rechtsordnung, vor allem das Grundgesetz und die Grundrechte, akzeptieren und im Alltag respektieren. Die Verfassung bildet die normative Grundlage unseres Zusammenlebens. Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder das Gewaltmonopol des Staates dürfen nicht infrage gestellt werden. Jede Diskriminierung eines Menschen aufgrund seiner Religion, ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung ist unvereinbar mit dem Respekt, den wir einander schulden. Dieser Respekt muss im täglichen Miteinander immer wieder eingeübt und bekräftigt werden.

Integration ist daher eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Integration findet statt in Schulen und in Jugendgruppen, in Betrieben und Gewerkschaften, in Sportvereinen und Musikgruppen, in religiösen Gemeinden und politischen Parteien, in Nachbarschaften und Familien. Als Kirche werden wir diesen Integrationsprozess in unseren Kindertageseinrichtungen und Schulen, in unseren Gemeinden und durch die Angebote der Caritas nach Kräften fördern. In unseren jüngst verabschiedeten „Leitsätzen des kirchlichen Engagements für Flüchtlinge“ haben wir Bischöfe erneut an die vielfältigen Ressourcen und Kompetenzen erinnert, mit denen die Kirche zum Gelingen gesellschaftlicher Integrationsprozesse beiträgt.

Die Integration von Einwanderern aus anderen Kulturen wird uns auch zukünftig vor Herausforderungen stellen. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir gemeinsam diese Herausforderungen meistern werden. Ihnen, verehrte Herren Rabbiner, und den anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft versichere ich, dass die katholische Kirche auch weiterhin im Kampf gegen jede Form von Antisemitismus an Ihrer Seite stehen wird.


ANMERKUNGEN

(1) Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29) Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums von Nostra aetate (Nr. 4), hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 203), Bonn 2015.
(2) Vgl. z. B. Gen 12,10; Gen 26,1-3; 2 Kön 8,1; Rut 1,1.
(3) Vgl. z. B. 2 Sam 4,3; Jes 16,4; Jer 44,8 f.12.14.
(4) Vgl. Ex 2,15.
(5) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlingsheime-bundeskriminalamt-zaehlt-mehr-als-1000-attacken-a-1074448.html (Abruf 15.02.2016)
(6) Vgl. Integration fördern – Zusammenleben gestalten. Wort der deutschen Bischöfe zur Integration von Migranten, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Die deutschen Bischöfe Nr. 77), Bonn 2004.