Im Gehen entsteht der Weg - Impulse christlich-jüdischer Begegnung

Laudatio auf Hanspeter Heinz und den Gesprächskreis "Juden und Christen"  beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken vom Ratsvorsitzenden der EKD Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ludwigshafen, 8. März 2015


Sehr geehrte Damen und Herren,

„Im Gehen entsteht der Weg. Impulse christlich-jüdischer Begegnung“. So lautet das Motto der diesjährigen „Woche der Brüderlichkeit“. Die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und der Deutsche Koordinierungsrat schauen mit diesem Motto auf fast sieben Jahrzehnte des gemeinsamen Gehens und Lernens, Streitens und Entdeckens zurück.

Wie wichtig diese Arbeit ist, könnte nicht deutlicher vor Augen stehen als in diesen Tagen. Dass ein Zentralratsvorsitzender der Juden überhaupt nur die Überlegung anstellen muss, ob Juden an bestimmten Orten besser keine Kippa tragen, dass wir überhaupt eine Diskussion darüber führen, ob es aus Sicherheitsgründen ratsam ist, dieses Land zu verlassen, ist bedrückend und beschämend. Aber auch ohne die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus darf sich niemand an die tägliche Realität der Bedrohung der Sicherheit von Juden in diesem Land gewöhnen. Ich fahre jeden Morgen mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Büro im Landeskirchenamt am israelischen Generalkonsulat vorbei.  Jedes Mal bedrückt es mich, dass ich davor einen Polizeibeamten stehen sehe, der für den Schutz dieser Einrichtung sorgen muss. Der offene oder versteckte Antisemitismus in unserem Land und die latente oder offene Gewalt, die daraus erwächst und zu solchen Sicherheitsmaßnahmen führt, macht traurig, aber auch zornig. Niemand kann sich in einer Demokratie entspannt zurücklehnen und die Erfolge in der Entwicklung der demokratischen Kultur loben, ohne gleichzeitig mit Leidenschaft für die Überwindung von menschenverachtenden Ideologien wie Rassismus und Anti-Semitismus zu streiten, die der Demokratie diametral entgegenstehen.

Gerade wir als Kirchen haben in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung. Auch wenn inzwischen durch den intensiven Dialog vieles in der Beziehung zwischen Christen und Juden grundlegend neu geworden ist, gilt: die so lange unhinterfragten theologischen Antijudaismen der Vergangenheit waren mitverantwortlich dafür, dass eine rassistische Ideologie des Antisemitismus Nährboden gefunden hat, die unendliches menschliches Leid angerichtet hat. Deswegen ist der christlich-jüdische Dialog so wichtig, dem die Woche der Brüderlichkeit gewidmet ist. Und deswegen sind auch Ehrungen wie die heutige so wichtig, weil sie Menschen ins Licht stellen, die seit langer Zeit genau die dicken Bretter der Überwindung von Vorurteilen und Klischees bohren, die wir so dringend brauchen.

Sie ehren in diesem Jahr mit der Buber-Rosenzweig-Medaille langjährige Weggefährten im christlich-jüdischen Dialog:

„Hanspeter Heinz und der Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken verkörpern auf vorbildliche Weise, was die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit mit ihrem Jahresthema für 2015 zum Ausdruck bringen möchten [...]“

So heißt es in der Begründung des Präsidiums und des Vorstands des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ganz bündig. Dabei kann die kurze Formulierung „auf vorbildliche Weise“ allenfalls andeuten, welche Beiträge die Preisträger seit den 1970er-Jahren zum jüdisch-christlichen Dialog und zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden geleistet haben.

Weit über den Bereich der römisch-katholischen Kirche in Deutschland hinaus haben Hanspeter Heinz und der Gesprächskreis Wegmarken gesetzt. Seit 1971 arbeiten Katholiken und Juden dort regelmäßig zusammen und geben mit ihren Äußerungen, Tagungen, Beiträgen zu Katholikentagen oder Ökumenischen Kirchentagen und Reisen wichtige Impulse für den christlich-jüdischen Dialog. Der Gesprächskreis ist – soweit ich sehen kann - weltweit das einzige Gremium, in dem Katholiken und Juden regelmäßig in dieser Dichte zum Austausch zusammenkommen. Das ist wirklich bemerkenswert.

Besonders wichtig für den Gesprächskreis war vielleicht ein Moment, den Hanspeter Heinz selbst im Rückblick als „Sternstunde“ bezeichnete: die Frühjahrsvollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken im April 1988. Der Gesprächskreis hatte 50 Jahre nach den Novemberpogromen die Erklärung vorgelegt „Nach 50 Jahren – wie reden von Leid, Schuld und Versöhnung?“ Neben der Erklärung selbst trug sicher auch zu ihrer starken Wirkung bei, dass mit Hanspeter Heinz als Vorsitzendem und dem damaligen Berner Rabbiner Marcel Marcus als Hauptredaktor der Erklärung ein Christ und ein Jude in die Erklärung vor dem Zentralkomitee einführten.

Das war ein besonderes Signal, waren doch heftige Diskussionen und ein schwieriger Lernprozess innerhalb des Gesprächskreises vorausgegangen, den die geschichtspolitischen Debatten der 1980er-Jahr ausgelöst hatten. Die für Christen und Juden unterschiedliche Last der Geschichte war erst jetzt in aller Klarheit als ständiger Wegbegleiter und Störfaktor bei den christlich-jüdischen Begegnungen ins Bewusstsein getreten. Neben der Entdeckung von Gemeinsamkeiten hatte und hat auch immer die des Unterschiedlichen ihren Raum und seinen Wert im Gesprächskreis.

Als Vorsitzender prägt Hanspeter Heinz seit 1974 den Weg der christlich-jüdischen Begegnungen, Diskussionen und Klärungen im Gesprächskreis entscheidend mit. Der gebürtige Rheinländer war von 1983 bis 2005 Professor für Pastoraltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Augsburg, außerdem ist er seit 1983 als Seelsorger in der Pfarrgemeinde Bachern-Rohrbach bei Augsburg tätig. In den frühen 1970er-Jahren arbeitete er bei der Würzburger Synode mit und trug so mit dazu bei, dass die Aufbrüche des 2. Vatikanischen Konzils in der Bundesrepublik Deutschland ankamen und aufgegriffen wurden. Nach wie vor meldet er sich noch sehr aktiv bei aktuellen Debatten in der katholischen Kirche zu Wort.

„Das christlich-jüdische Verhältnis“, so sagte er vor gut 15 Jahren, „ist für mich ein zentrales Randthema. Ein Randthema, weil es mich zeitlich selten in Anspruch nimmt und nicht zu den Schwerpunkten meines Lehrens und Forschens zählt. Ein zentrales Thema, weil es die Mitte meiner Existenz, meines Glaubens betrifft, mich immer aufs Neue herausfordert und bereichert.“
Wie vielschichtig, weitreichend und nachhaltig dieses „zentrale Randthema“ ihn in seiner Existenz als katholischer Christ, Priester und Wissenschaftler betrifft, das hat sich für ihn auch erst auf dem Weg mit den Mitgliedern im Gesprächskreis gezeigt.

Der „Türöffner“ hinaus auf diesen Weg war der Abschnitt über das Verhältnis der Kirche zu den Juden der Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils, das am 28. Oktober 1965, also vor 50 Jahren, verabschiedet wurde. Darin bekannte sich die katholische Kirche gegen eine fast 2000jährige Tradition zu ihrem geistlichen Band mit dem Judentum und zur bleibenden Erwählung seines Volkes Israel. Ähnliche Prozesse  entwickelten sich auf evangelischer Seite.

Der Theologiestudent Hanspeter Heinz an der Gregoriana in Rom hat als Augenzeuge des Konzils wahrscheinlich nicht im Entferntesten geahnt, dass es mit Nostra Aetate einen Prozess in Gang setzte, der ihn dieses „zentrales Randthema“ hat entdecken lassen...

Wegweisend ist die Einsicht von Nostra Aetate, dass zur Identität der christlichen Kirche gehört, dass sie im Volk und im Glauben Israels wurzelt. Wegweisend ist auch, dass sie sich nicht nur von der judenfeindlichen Tradition abkehrt, sondern alle „Verfolgungen und Manifestationen“ des Judenhasses aus „der religiösen Liebe des Evangeliums“ heraus  „verwirft“. Die christliche Kirche muss den Judenhass nicht vorrangig aus gesellschaftlicher Toleranz oder ihrem Bekenntnis zur Pluralität demokratischer Staaten zurückweisen, - das allein würde schon ausreichen! - sondern vor allem darum, weil Ignoranz, Verachtung und Feindschaft gegenüber Juden ihrem Selbstverständnis zuwider läuft. Wir sind „um Gottes willen miteinander verbunden“, so kann man mit Hanspeter Heinz lernen. Nach fast 2000 Jahren, in denen Judenfeindschaft wie ein roter Faden die Geschichte des Christentums durchzieht, für uns als evangelische Kirche sind die Aussagen Martin Luthers am Ende seines Lebens besonders bedrückend, ist es ein weiter Weg zur Umkehr. Hanspeter Heinz bekannte freimütig, die Tragweite von Nostra Aetate erst schrittweise erkannt zu haben. Er beschrieb es als eine „frappierende Entdeckung“ im christlich jüdischen Lernprozess, „daß wir unsere christliche Identität weithin auf Kosten der Juden bestimmten, indem wir ihnen insgeheim eine theologische und ethische Minderwertigkeit attestierten“.

Und dieser Lernprozess ist auch heute noch lange nicht zu Ende. Nach wie vor gibt es auch in unseren Kirchen Klischeevorstellungen. Noch immer verbergen sich zuweilen hinter Inhalten, die in unseren Reihen weitergetragen werden, antijüdische Vorurteile, etwa, wenn der liebende Gott des Neuen Testaments dem rachsüchtigen Gott des Alten Testamentes gegenüber gestellt wird. Unsere zahlreichen kirchlichen Erklärungen, in denen Einsichten aus dem christlich-jüdischen Dialog aufgenommen worden sind, sind oft noch nicht in der Breite angekommen, wie neuere Studien zum Antisemitismus feststellen. Das gilt vermutlich in ähnlicher Weise für die katholische und die evangelische Kirche.

Aber wir dürfen auch dankbar die Fortschritte wahrnehmen. In meiner eigenen bayerischen Landeskirche – und in vielen anderen Landeskirchen war es ähnlich - haben wir 2012 in großer Einmütigkeit eine Passage in den Grundartikel unserer Kirchenverfassung aufgenommen, in der es heißt: Die evangelisch-lutherische Kirche "ist aus dem biblischen Gottesvolk Israel hervorgegangen, und bezeugt mit der Heiligen Schrift dessen bleibende Erwählung". Dem Synodenbeschluss ist eine breite Debatte in den Gemeinden unserer Kirche vorausgegangen, die nicht ohne Wirkung bleiben wird.

Auf dem Weg lauern natürlich auch gelegentlich Rückschläge und Stolpersteine. Im 1992 veröffentlichten „Katechismus der Katholischen Kirche“ vermissten Hanspeter Heinz und der Gesprächskreis die theologischen Einsichten aus dem Dialog. Die Glaubenslehre erscheine darin häufig so, als gäbe es Juden und das Judentum nicht oder als sei das Judentum lediglich eine Vorstufe des Christentums. Eine solche „Israelvergessenheit“ ist bestimmt kein spezifisch katholisches Phänomen, sie betrifft auch uns Evangelische. Heinz und andere konnten sich indessen auf niemand geringeren als Papst Johannes Paul II. berufen, der 1986 bei seinem Besuch in der Großen Synagoge in Rom gesagt hatte, dass das Judentum „zum Inneren unserer Religion“ gehört.

Unter dem Pontifikat Benedikts XVI. gehörten Hanspeter Heinz und der Gesprächskreis zu den vehementesten Gegnern der Umformulierung der Karfreitagsbitte und lösten damit im Jahr 2008 eine öffentliche Debatte aus. Die immer wieder virulente Frage, ob Juden am Ende doch Jesus als Messias bekennen müssten, um zum Heil zu gelangen, brach damit erneut auf. Ein Jahr später kulminierten die Diskussionen in einer Kontroverse um die Erklärung des Gesprächskreises „Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog“. Die Debatte hat gezeigt, dass die theologische Arbeit und ihre Vermittlung hier weitergehen muss.

Andererseits hat der Gesprächskreis sich in der letzten Zeit auch den Herausforderungen der ethischen Debatten um den Beginn des menschlichen Lebens gestellt. Christen wie Juden unterschiedlicher Richtungen und Konfessionen stützen zwar ihre ethischen Überlegungen auf dieselben biblischen Traditionen, ziehen aber unterschiedliche Konsequenzen daraus. 2011 fragten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf einer Fachtagung gemeinsam mit Juristen und Medizinern nach Gründen für die unterschiedlichen Schlussfolgerungen und versuchten, die Weite der unterschiedlichen Traditionen wahrzunehmen.

„Im Gehen entsteht der Weg. Impulse christlich-jüdischer Begegnung“. Der Rückblick zeigt, wie wichtig es ist weiterzugehen. Trotz vieler Einsichten und Errungenschaften ist der christlich-jüdische Dialog nach wie vor noch lange nicht am Ziel. Der Rückblick auf das Gehen und auf den Weg christlich-jüdischer Begegnungen seit 1945 zeigt deutlich, dass es immer wieder Überraschungen in die eine oder andere Richtung gibt. Hanspeter Heinz und der Gesprächskreis haben das in den vergangenen 41 Jahren immer wieder selbst erlebt. Ihr Beispiel zeigt stellvertretend für viele andere Initiativen zum christlich-jüdischen Dialog, dass die Angst vor dem Verlust von Identität unbegründet ist. Vielmehr bereichert der Dialog und führt zu neuen Einsichten – die sich manchmal erst auf ungewohnten und vielleicht auch irritierenden Wegen erringen lassen.

Die Impulse aus den christlich-jüdischen Begegnungen bieten keine einfachen Formeln, die alles beantworten und das Ziel eines Weges behaupten. Sie sind anspruchsvoll, weil sie aus dem Hinhören, Nachdenken und zur Selbstprüfung kommen und zum Hinhören, Nachdenken und zur Selbstprüfung ermuntern.

Wir verdanken jenseits der Grenzen von Konfessionen oder Religionen Hanspeter Heinz und dem Gesprächskreis „Juden und Christen“ viele dieser Impulse. Und wir freuen uns auf viele weitere anregende Wortmeldungen.