UM GOTTES WILLEN - „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“

Predigt von Bischof Norbert Trelle zu Röm 11, 16b - 18 bei der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier am 5. März 2016 in der Neustädter Hof- und Stadtkirche, Hannover


Paulus nicht antijüdisch auslegen  

Es bewegt mich, in unserer Jüdisch-Christlichen Gemeinschaftsfeier diese Textstelle aus dem Römerbrief des Apostels Paulus zu hören. Ausgerechnet Paulus und der Römerbrief! Wurden gerade die Kapitel 9-11 aus diesem Brief doch über Jahrhunderte hinweg von Christen missbraucht, um die Theorie zu verbreiten, dass Gott das ungläubige Volk der Juden verstoßen und an seine Stelle das Christentum als auserwähltes Volk gesetzt habe. Wer genau hinhört, wird feststellen, dass diese Vorstellung leider immer noch in unseren christlichen Kirchen und Gemeinden herumgeistert. Wir haben noch viel zu tun, um dieses Gespenst einer antijüdischen Deutung der Paulus-Briefe endlich für immer aus unseren Räumen zu vertreiben. Viel zu lange ist man mit einem durch die antijudaistische Tradition geprägten Vorverständnis an die Texte herangegangen und hat eine Judenfeindlichkeit in sie hinein gelesen, die man dann wiederum als Ergebnis der Textanalyse festhielt und sie mit Paulus als dem Gewährsmann von Generation zu Generation weitergab. Leider ist ein solches israelfeindliches Textverständnis bis heute nicht ausgerottet, so dass also viele, die diese Texte lesen oder hören, immer noch nicht verstehen, worum es Paulus eigentlich geht. Und das, obwohl uns die Bibelwissenschaft schon seit einigen Jahrzehnten einen anderen Weg weist. Denn auf der wissenschaftlichen Ebene der neutestamentlichen Exegese ist man sich heute einig: Paulus war nicht ein Feind der Juden, sondern er war zunächst selbst ein Jude, und zwar durch und durch. Zeit seines Lebens ringt er mit der schmerzlichen Erfahrung, dass er das für ihn so zentrale Bekenntnis zu Jesus als dem Messias nicht mit allen seinen jüdischen Glaubensgenossen teilen kann. Er ist durch eine tiefe Liebe zum jüdischen Volk geprägt – und zwar nicht nur, weil es das Volk seiner Väter ist, sondern vielmehr noch aus einem zentralen theologischen Grund: Dieses Volk ist das von Gott erwählte, dasjenige, auf das sich Gottes Heilszusage bezieht. Und dass diese Erwählung von Gott nicht rückgängig gemacht wird, ist für Paulus klar. Er sagt das auch ganz ausdrücklich, z.B. am Anfang des Kapitels, zu dem auch die eben gehörte Textstelle gehört: „Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs!“ (Röm 11,1). Nicht allen war das damals so klar. In den heidenchristlichen Gemeinden, die Paulus betreute, hatte sich eine Überheblichkeit den Juden gegenüber breit gemacht. Die Freude darüber, auch als Nicht-Juden einen Weg zu Gott zu finden, nämlich durch den Glauben an Jesus als den Messias, war umgeschlagen in eine Arroganz gegenüber dem Volk Israel. Wenn die Juden nicht an Jesus als den Messias glauben und auf diese Weise das Heil erlangen, dann bedeutet das doch, dass sie vom Heil ausgeschlossen sind, so dachte man – ein Gedanke, der sich mancherorts bis in die Gegenwart hinein hartnäckig gehalten hat. Die deutlichen Worte, die Paulus in seiner Auseinandersetzung mit der heidenchristlichen Gemeinde von Rom findet, haben deshalb ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Für Paulus ist klar: „Unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt.“ (Röm 11,29). Die päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum hat diesen Vers zum Titel eines Schreibens gemacht, das erst vor wenigen Wochen, im Dezember 2015, aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Konzilserklärung Nostra aetate veröffentlicht wurde.(1) Eine Aussage, die für Paulus glasklar war, wurde durch die Jahrhunderte verdunkelt und musste erst mühsam wieder entdeckt werden: dass nämlich Gottes Bund mit Israel nie aufgekündigt oder widerrufen wurde und dass also folglich die Juden nicht von Gottes Heil ausgeschlossen sind, auch wenn sie nicht in Jesus den Messias erkennen. Das eben schon erwähnte, jüngste vatikanische Dokument hält diese Einsicht an mehreren Stellen in aller Deutlichkeit fest. Damit führt es an einem entscheidenden Punkt über die Konzilserklärung Nostra aetate hinaus, in der zwar die Anlagen für dieses klare Bekenntnis bereits gelegt, es aber nicht explizit ausgesprochen wurde. Nun, Ende 2015, heißt es ausdrücklich und auch mehrmals:  Es sei wahr und müsse für Christen evident sein, „dass der Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat, aufgrund der unbeirrbaren Treue Gottes zu seinem Volk nie aufgekündigt worden ist, sondern gültig bleibt“. („Denn immerwährend sind Gnade und Berufung…“, 28f.; vgl. auch 33)   

Das Bild von der Wurzel – der Glaube Israels als Wurzelgrund unseres christlichen Glaubens

Eine Antwort des Paulus auf die Überheblichkeit von Heidenchristen ist der Hinweis auf die existentielle Bedeutung, die die Glaubensgeschichte des Volkes Israel für die Anhänger Jesu hat. Das Christentum – wie es einige Jahrhunderte nach Paulus dann genannt wird – lebt von der Glaubensgeschichte des Volkes Israel – so wie die Zweige eines Baumes von der Wurzel genährt werden, selbst wenn sie nachträglich hinzukommen, aufgepfropft werden. Damit hat Paulus zweifelsohne Recht, und das kann man – angesichts einer Israelvergessenheit in vielen christlichen Gemeinden – nicht deutlich genug betonen: Zentrale Inhalte unseres christlichen Glaubens wären ohne die Glaubensgeschichte des Volkes Israel gar nicht denkbar, z.B. dass Gott die Welt geschaffen hat, dass man zu ihm beten kann, seine Güte und Treue, seine Leidenschaft für den Menschen, ... Paulus hat also Recht, wenn er diese tragende Funktion der israelitischen Glaubenserfahrung für das Christentum betont. Jeder Anflug von Überheblichkeit sollte damit also bereits im Keim erstickt sein.  Paulus mahnt: Ihr Heiden seid nur heilig, weil Israel heilig ist. Ihr lebt aus der heiligen Wurzel; ihr könnt nur wachsen, insofern ihr daraus eure Kraft bezieht. „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11,18)

Die Sonderstellung des jüdisch-christlichen Dialogs für das Christentum

Die katholische Kirche hat das inzwischen erkannt und ist dabei, es immer mehr zu verinnerlichen. Auch in dem schon erwähnten jüngsten Dokument der päpstlichen Kommission für die Beziehungen zum Judentum wird genau dieser Punkt besonders stark gemacht: Das Christentum hat einen jüdischen Ursprung, und es ist konstitutiv auf den Bund Gottes mit seinem Volk Israel bezogen. Ohne diesen Rückbezug würde die Kirche ihre heilsgeschichtliche Verortung verlieren.(2) Papst Johannes Paul II. hat diese besondere Bezogenheit des Christentums auf das Judentum bei seiner Ansprache in der römischen Synagoge am 13. April 1986 mit der berühmt gewordenen Formel von den Juden als unsere älteren Brüder zum Ausdruck gebracht: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Innern‘ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder, und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“

Das gegenwärtige Judentum muss im Blick sein!

Bilder und Vergleiche haben immer ihre Grenzen. Das Bild, das Paulus verwendet, mag nicht bis ins Letzte das Verhältnis von Juden und Christen angemessen erklären können, eines macht es aber sehr schön deutlich: nicht die Juden bzw. das gegenwärtig gelebte Judentum ist die Wurzel des Christentums, sondern die Juden sind wie die Christen Zweige, die aus der Wurzel ihre Kraft beziehen. Juden und Christen haben also eine gemeinsame Wurzel – und das ist der Glaube der Väter Israels. Ihre Gotteserfahrungen, ihre Glaubensgeschichte ist es, die uns trägt. Das bedeutet, dass wir im gegenwärtig gelebten Judentum solche „Zweige“ an unserer Seite haben, nämlich wachsende, blühende, sich entwickelnde Zweige, die es auch als solche wahrzunehmen gilt. Wir dürfen das Judentum eben gerade nicht mit dem Volk Israel, wie wir es aus der hebräischen Bibel kennen, identifizieren. So sehr es wahr ist, dass heute lebende Juden die Nachfahren des biblischen Volkes Israel sind, so sehr ist auch wahr, dass das Judentum eine lebendige Religion ist und dass Juden als unsere Zeitgenossen wahr- und ernst zu nehmen sind, als Menschen, mit denen wir im Alltag leben. Viel zu oft noch begegnet uns der Hinweis auf die Verschiedenheit und die vermeintliche Fremdartigkeit einer so genannten jüdischen Kultur. Das Jüdische gilt als das Exotische. Selbst wenn mit dieser Einstellung nicht eine Abwertung verbunden sein soll, ist sie zumindest unreflektiert und sondert Juden aus als „die Anderen“. Aktuelle Studien haben festgestellt, dass jeder zehnte Deutsche dem Satz zustimmen würde: „Juden sind irgendwie anders und passen nicht so richtig zu uns“. Wenn man das im Bekanntenkreis erzählt, kann es sogar sein, dass sich selbst wohlmeinende Menschen empört über den zweiten Teil des Satzes äußern und dabei den ersten Teil verteidigen: „Anders sind sie allerdings schon.“ Abgesehen davon, dass es wohl nicht gelingt, dass Anders-Sein tatsächlich mit dem Jüdisch-Sein zu erklären, fällt auf, dass auch hier zuerst das Fremde am anderen Menschen in den Blick genommen wird und nicht das, worin man sich mit ihm verbunden weiß – eine Tendenz, die ich in unserer Gesellschaft an verschiedenen Orten wahrnehme.

Dialog in Bescheidenheit - eine unverzichtbare Aufgabe für jeden Christen

Die andere Perspektive gilt es freilich auch anzumerken: Juden müssen sich nicht als unsere bevorzugten Brüder verstehen. Das ist unsere christliche Sicht auf die Heilsgeschichte. Für uns hat der Dialog mit dem Judentum eine Sonderstellung und wird es immer haben. Für Juden mag das anders sein. Doch ebenso klar ist, dass wir den Dialog nicht pflegen, um darin zu spüren, wie wichtig wir für andere sind. Sondern er ist Teil unseres gelebten Glaubens an einen Gott, der jeden einzelnen Menschen liebt. Darum wenden wir uns einander zu in liebevollem Respekt und einem ehrlichen Interesse an der Religion des anderen. Für mich ist das sehr gut an einer Stelle in der Konzilserklärung Nostra aetate ausgedrückt, die ich zum Abschluss zitieren möchte: „Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern. Das Verhalten des Menschen zu Gott dem Vater und sein Verhalten zu den Menschenbrüdern, stehen in so engem Zusammenhang, dass die Schrift sagt: ‚Wer nicht liebt, kennt Gott nicht‘ (1 Joh 4,8).“ (Nostra aetate 5).

ANMERKUNGEN

(1) Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums von Nostra aetate, 10. Dezember 2015.

(2) „Dieser Rückbezug zum Abrahamsbund ist für den christlichen Glauben so konstitutiv, dass die Kirche ohne Israel in der Gefahr stünde, ihre heilsgeschichtliche Verortung zu verlieren.“ („Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung…“, 33).