Im Gehen entsteht der Weg - Impulse christlich-jüdischer Begegnung

Ansprache von Landesrabbiner em. Dr. h.c. Henry G. Brandt, jüdischer Präsident des DKR, in der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier im Pflazbau zu Ludwigshafen am 07. März 2015


Meine lieben Freunde,

die jüdische Liturgie kennt ein kurzes Gebet, mit dem man Gott dankt, dass er uns am Leben erhalten, uns ernährt hat und uns erlaubt, dieses freudige Ereignis wieder zu begehen. Nachdem ein Jahr vergangen ist und wir wieder die Woche der Brüderlichkeit eröffnen dürfen und Er auch so gut zu mir war, mir zu erlauben, hier nach vielen Jahren erneut zu stehen, um bei der Gemeinschaftsfeier ein paar Worte an Sie zu richten, sage ich mit den hebräischen Worten: „Baruch atah Adonai Eloheinu Melech haolam shehechehyanu, v'kiy'manu, v'higianu laz'man hazeh“ - „Gepriesen seist du, Gott unser Herr, König der Welt, der uns erlaubt hat zu leben, der uns erhalten hat und gegeben hat, diese Zeit hier zu erreichen.“

Meine lieben Freunde,
im Gehen entsteht der Weg. Nach langer Diskussion hat der Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates diese Losung für die Woche der Brüderlichkeit und für das gesamte Jahr als Arbeitsthema ausgegeben. Das sind natürlich wohlklingende Worte, aber sie erschließen sich nicht so einfach und schnell. Denn was bedeuten sie? Was können sie bedeuten und was bedeuten sie nicht?

Wenn man einfach die Worte nimmt, dann könnte es fast als ein Unsinn erscheinen, wenn man sich vorstellt, dass man auf dem Weg geht und vor einem ist nichts. Der nächste Schritt kann in den Sumpf führen, da muss nicht unbedingt ein Weg sein. Also wie habt ihr euch das gedacht? Nun, die Themen, die wir jährlich setzen, sollen keine Antworten geben, sondern sie sollen zu Fragen, zur Diskussion, zur Auseinandersetzung und sogar zum Widerspruch anregen. Denn durch Fragen und auch durch Widerspruch erwachsen neue Einsichten und man versteht, dass Vieles auf vielen Ebenen verstanden werden kann und dass man, auch wenn man es zunächst nicht einsieht, Neues lernen kann.

„Im Gehen entsteht der Weg“ impliziert, dass man von woher kommt und dass man wohin zu gehen sucht. Das steht für Dynamik und Fortschritt, für eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart und für eine Projektion dieser Brücke in eine noch unbekannte Zukunft. Die Wege, die wir schon gegangen sind, seien es königliche Wege oder Pfade durch den Sumpf, haben uns in die Gegenwart geführt. Sie bilden das Fundament für den Weg, der in die Zukunft führt, der unseren Augen aber noch verschlossen ist.

Vielleicht haben Sie das schon bemerkt, als der Bischof sprach, dass Menschen, die sich mit Religion beschäftigen, ihr Auge auch immer der Bibel zuwenden, um zu sehen, ob man dort ein passendes Wort oder einen passenden Satz findet, die zum Thema passen. Nun, mit Aussprüchen zum Thema „Wege“ sind wir reichlich gesegnet. Und ich habe gerade diesen Passus aus Exodus (Ex 13, 17-18.21-22) ausgesucht, der eben nicht selbstverständlich ist, weil ich glaube, dass dieser Moment in Zeit, der dort beschrieben ist, eine Zäsur darstellt auf dem Weg von Gott mit Israel, von Gott mit den Menschen. Die Bibel, besonders die Tora, ist ja eine Erzählung vom Weg Gottes mit Israel, vom Weg Gottes mit den Menschen. Bis zu dem Moment, der in Exodus 13,17-18.21-22 beschrieben ist, war Gott der Handelnde. Als Israel am Schilffmeer stand und der Pharao mit seiner Armee hinter ihnen her zogen und Israel in Angst erstarrte und zum Himmel schrie, sagte Moses noch zu ihnen: „Ihr werdet die Wunder Gottes sehen, ihr aber steht und schweigt.“ Er sagt, ihr beobachtet passiv die Wunder, die Gott für euch wirkt. Der Midrasch, die Erzählungen um die Bibel, zeigt auch, dass Mose den Stock hoch heben musste, um das Meer zu teilen oder dass sich das Meer erst teilte, als die Ersten ins Wasser gesprungen waren, aber das sind dann schon Erzählungen über die Erzählung. Die Bibel selbst sagt nur „v´atem tacharischu“ - „ und ihr haltet still“.

Plötzlich aber ändert sich das alles. Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn sie weiter marschiert wären? Wer die Geografie kennt, sieht die Selbstverständlichkeit: am Ufer des Mittelmeers entlang, durch das spätere Land der Philister, der kürzeste Weg bis El-Arish nach Gaza. So würde man in zwei Tagesmärschen heil im Land ankommen. Und wenn da Widerstand gewesen wäre, wäre es doch einfach gewesen, noch ein Wunder zu erwarten, noch zwei oder drei. Der Pharao und die Ägypter hatten schon 10 Plagen erdulden müssen. Israel wurde schließlich durch ein Wunder nach dem anderen erlöst, warum also nicht noch ein paar Wunder? Nein, es könnte sein, dass wenn sie diesen Weg gehen und sie sich den Weg frei kämpfen müssen, die Meinung obsiegen würde, das Ganze habe überhaupt keinen Sinn und man solle in die Sklaverei zurückkehren. Dann wäre die Geschichte ein für alle Mal zu Ende gewesen.

Und so führte Gott auf einen langen Weg. Es war wohl nicht vorauszusehen, dass es 40 Jahre dauern würde, es hätte auch etwas kürzer sein können, aber das ist eine andere Geschichte für ein anderes Jahr der Brüderlichkeit. Gott hätte ihnen einen anderen Weg zeigen können, der etwas einfacher, leichter, weniger umkämpft gewesen wäre und der ihnen weniger abverlangt hätte. Aber hier, jetzt beginnt eben der Zeitpunkt, an dem sie anfangen müssen, ihren eigenen Weg zu gehen! Es gibt schon noch einige Wunder auf dem Weg, aber im Großen und Ganzen sind sie nun auf sich selbst gestellt. Auch das Manna müssen sie erst einmal selber einsammeln. Gegen die Amalekiter, von denen sie kurz danach angegriffen werden, müssen sie selber kämpfen. Das Unzumutbare übernimmt Gott immer noch, aber das Zumutbare auf menschlicher Ebene wird ihnen nun selber in die Hände gelegt. Gott entlässt Israel beziehungsweise den Menschen überhaupt, er überlässt ihn nun der Realität seiner Schöpfung, mit allen Ecken und Kanten dieser Schöpfung.

Und so sagen später unsere Weisen „Ejn somchin al haness“ - „man verlässt sich nicht auf Wunder“. Wer damit meint, Gott habe sich zurückgezogen, sich etwas weiter vom Menschen entfernt, der irrt sich gewaltig. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn ein Kind heranwächst, geht es die ersten Jahre an der Hand seiner Eltern, und wenn es etwas älter wird, wird es von der Hand entlassen und geht vor den Eltern her, bis es mal später ganz eigenständig, selbstständig, ohne die Eltern gehen kann.

Es gibt einen anderen Midrasch, der Noah und Abraham vergleicht. Über Abraham steht geschrieben, er ging rechtschaffen vor Gott. Und über Noah steht geschrieben, er ging rechtschaffen mit Gott. Unsere Weisen erklärten das so, dass Noah noch mit dem Vater an seiner Hand gehen musste, also noch mit Gott ging. Abraham war ein Stück weiter, er musste nicht mehr an der Hand gehen, er ging vor dem Vater her, auch wenn der Vater noch aufpasste, aber er ging eigenständig, er ging vor Gott. So auch Israel: Israel ging an der Hand Gottes und wird nun entlassen, um vor Gott zu gehen. Eine höhere Stufe ist erreicht, die ein tieferes Verständnis voraussetzt, mehr Verantwortung bedeutet. Eine größere Standfestigkeit wird verlangt, um auch Leid zu ertragen und Schwierigkeiten zu bewältigen, ohne dass man gleich schreit: „zurück aus der Freiheit nach Ägypten!“ Die Voraussetzung für diese Stufe der Selbstverantwortung ist, dass man Freiheit von Ägypten erlangt und die Weisung vom Sinai als Bund mit Gott akzeptiert. Von Ägypten aus am Sinai beginnt der Weg, über den wir sprechen.

Meine lieben Freunde,
trotz der schlimmen Erfahrungen der letzten Jahrhunderte, ja der letzten Jahrtausende gar, und trotz der schlimmen Erfahrungen, die wir auch heute in der Welt machen, in der wir leben, hören wir doch immer noch von schrecklichen Dinge, von denen wir gehofft hatten, sie nicht mehr hören zu müssen. Aber weil sie immer wieder thematisiert werden, vergessen wir, was im Laufe der Jahrhunderte und auch in unserer Zeit gleichwohl an großartigen Werten und Einsichten aus dem Glauben heraus erwachsen ist. Wie viel Selbstlosigkeit, Nächstenliebe und Verantwortungsbewusstsein in unserer Welt existieren und ausgeübt werden. Sie sind nur nicht nachrichtenwürdig, Zeitungen lassen sich mit ihnen nicht verkaufen. Aber landauf, landab in allen Teilen der Welt sind Millionen und Abermillionen von Menschen damit beschäftigt, beruflich oder ehrenamtlich, ihren Mitmenschen in Not und Leid beizustehen. Nur, wie gesagt, darüber wird selten gesprochen. Aber wir sollten es nicht vergessen, zeigt es doch genau jenes „Gehen auf dem Weg“, von dem wir sprechen.

Nun, vor zweitausend, dreitausend Jahren hätte niemand den Weg, den die Menschheit gegangen ist, voraussehen können. Aber jetzt sind wir hier, an diesem Punkt auf unserem Weg. Und dieser Weg führt weiter in eine für uns noch undurchdringbare Zukunft. Momentan gehen wir, unsere Füße sind auf dem Weg, im Gehen entsteht der Weg, in unserem Gehen entsteht der Weg, der in die Zukunft führt. Ist es ein Königsweg? Oder ein Sumpfpfad in den Nebel des Nichts? Das ist zum Teil uns überlassen. Das wird sich erweisen, an dem, was wir tun. Wir gehen diesen Weg nicht ohne Hilfe, nicht blindlings, wir gehen ihn nach unserem besten Wissen und Gewissen. Und wir hatten von Anfang an einen Wegführer und haben ihn noch immer. Die Weisheit, die Weisung Gottes, die Tora und alles, was sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende daraus ergeben hat. Alle Worte Gottes, wo immer wir sie auch finden und sie in Aufrichtigkeit niedergeschrieben sind und gelehrt werden, sie sind unsere Wegweiser. Über diese Tora steht geschrieben, über die Weisheit steht geschrieben: „drachejah drachaj noam v´kol natiwoteiha shalom“ - „Ihre Wege sind Wege der Anmut und all ihre Pfade Frieden.“

Kommt, lasst uns auf diesem Wege gehen.

Amen.