"Nun gehe hin und lerne": Gemeinsam weitergehen

Ansprache von Pfarrer Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, während der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier am 4. März 2017 im Kaisersaal des Römers, Frankfurt/M.


Das ist eine wunderbare Szene, die wir aus dem Markusevangelium gehört haben. Ich halte sie für eine Schlüsselszene – nicht nur für das Verständnis dessen, was Jesus sagt, sondern auch für das Verhältnis von Judentum und Christentum.

Da kommt ein Schriftgelehrter zu Jesus, weil er Jesus als Lehrer schätzt. Die Frage, die er stellt, ist eine unter jüdischen Schriftgelehrten immer wieder diskutierte Frage: Gibt es in all den Geboten – 613 zählen die Schriftgelehrten in der Torah – so etwas wie einen zentralen Orientierungspunkt?

Zusammenfassungen der Gebote waren zu Zeiten des Neuen Testaments öfter gefragt. Unser Motto der Woche der Brüderlichkeit 2017 „nun geh hin und lerne“ stammt aus einer solchen Zusammenfassung:

Die Geschichte geschah wiederum an einem Nichtjuden, der zu Schammaj kam und sprach „Bekehre mich, indem du mich die ganze Torah lehren willst, solange ich auf einem Bein stehen kann.“ Da stieß Schammaj ihn fort mit einem Maßstecken, wie sie die Zimmerleute gebrauchen. Da ging der Heide von Schammaj weg und kam zu Hillel und fragte auch ihn, ob er ihn die ganze Torah lehren wollte, solange er auf einem Bein stehen könne. Da bekehrte ihn Hillel auf seine Worte hin und sprach: „Ich will dich die ganze Torah lehren, solange du auf einem Bein stehen kannst.“ Und sprach zu dem Heiden: „Halte dich an den Schriftvers: ‚Du sollst deinem Nächsten nichts Ärgeres tun, als du dir gern getan haben willst.‘ Das ist der Urgrund der ganzen Torah. Der Rest ist Auslegung. Geh hin und lerne weiter.“ So lehrte Hillel ihn die ganze Torah, während er auf einem Bein stand.  (Babylonischer Talmud, Schabbat 31a)

Im Markusevangelium antwortet Jesus in ähnlicher Weise, indem er sich nichts Neues aus-denkt, sondern zwei Gebote zitiert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es sind die Gebote der Gottesliebe und der Nächstenliebe – der Nächstenliebe, die verknüpft ist mit der Liebe zu sich selbst. Der Schriftgelehrte ist sehr zufrieden mit der Antwort. Und er fügt hinzu, dass dies, nämlich Gott zu lieben und den Nächsten, wichtiger ist als alle Brand- und Schlachtopfer. Dahinter steht die alte Kultkritik der Propheten: Was nutzt ein Kult, wenn der nicht in den Alltag hineinreicht? Wenn die Gottesliebe keine Herzensliebe ist, die sich verwirklicht in der Liebe zu anderen? Gottesliebe kann nicht ohne Liebe zu den Nächsten sein.

Der Evangelist Matthäus unterstreicht dies noch einmal besonders. Er fügt seiner Version dieser Szene hinzu: „In diesen beiden Geboten hängt das Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 22,40)

Das sagt er übrigens noch einmal, und zwar an folgender Stelle: „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (7,12) Das ist dann so etwas wie eine praktische Anleitung für die Frage: Wie geht das mit der Gottesliebe, der Nächstenliebe und der Liebe zu sich selbst? Die Antwort: Spürt in euch, was ihr zum Leben braucht. Dann spürt ihr, was andere brauchen, und darin spürt ihr auch die Gottesliebe.

Das Gespräch des Schriftgelehrten mit Jesus zeigt: Jesus steht mit dem, was er lehrt, ganz auf dem Boden des Judentums. Jesus lehrt nichts Neues.

Als im März 2015 an der Hauptwache hier in Frankfurt Pegida-Kundgebungen stattfanden, hat die Katharinengemeinde darauf reagiert. Sie hat ein Transparent an der Kirche aufge-hängt, auf dem stand: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Markus 12,31“.

Es ist zweifellos völlig richtig, denen, die meinen, sie würden mit ihrer fremdenfeindlichen Agitation das christliche Abendland verteidigen, so entgegenzutreten. Mit dem Plakat war allerdings Salomon Korn, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, nicht zufrieden. Die Gemeinde hatte die an die Übersetzung Martin Bubers angelehnte Textversion gewählt, aber nicht vermerkt, dass Buber so die Ursprungsstelle aus der Torah übersetzt – nämlich Kapitel 19, Vers 18 aus - wie Bruder Nachama sagen würde – aus „Wajikrá“ oder wie Bruder Bätzing sagen würde – aus „Leviticus“, oder – wie ich sagen würde aus „dem 3. Buch Mose“.

In der F.A.Z. hat damals ein Kommentator nachgehakt und kritisch gefragt: Hat die Gemeinde dies getan, um das Christentum als „einzige Liebesreligion“ darzustellen? Ich bin mir sicher, dass die Gemeinde dies nicht im Sinn hatte. Aber eine Nachfrage ist durchaus berechtigt. Gerade weil wir mittlerweile gern von der jüdisch-christlichen Tradition reden, wäre es auch gut gewesen, dies zu verdeutlichen.

In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau bekommt seit einiger Zeit jedes Mitglied zweimal im Jahr einen Brief von mir. Was andere Massenmailings nennen, nennen wir „Impulspost“. Wir wollen einen Impuls geben, ein Thema zur Diskussion anbieten und auch elementares Wissen über den  christlichen Glauben anbieten und verankern, nicht nur durch ein lange vorbereitete, schön gestaltete und inhaltsreiche Postsendung, sondern auch mit Material zur Vertiefung in den Gemeinden und im Internet. Im vergangenem Frühjahr hatten wir das Thema „Bibel“ gewählt und manche von Ihnen erinnern sich vielleicht an den etwas gewagten „Aufmacher“ der Aktion: Die Bibel zusammengefasst auf einem Bierdeckel. Auf diesem Bierdeckel standen nur drei kurze Sätze: 1. Liebe Gott. 2. Liebe Dich selbst. 3. Liebe die Anderen.

In der Vorbereitung dieser Aktion haben wir natürlich viel darüber diskutiert: Geht das? Dürfen wir die biblische Fülle so konzentrieren? Wir sind überzeugt: Wir folgen dem, was Jesus in dem Gespräch mit dem Schriftgelehrten auch tut. Und die Konzentration ist damit auch keine Konzentration auf das Neue Testament.

Manche Kritik empfand die drei Sätze auf dem Bierdeckel als ethische Verkürzung. Im Liebesgebot geht es doch dann ausschließlich darum, was Menschen tun sollen. Es geht nicht um das, was Gott getan hat. Und das ist doch eigentlich das „Evangelium“.

Das greift meines Erachtens viel zu kurz. Die Antwort Jesu im Markusevangelium beginnt ja so: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“. Es ist das Schema Israel – das Grundbekenntnis Israels, das fest verankert ist im jüdischen Leben. Das Liebesgebot ist fest verknüpft mit dem Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes. Es ist damit geradezu im Wesen Gottes verankert. Dieser Gedanke lässt sich weiter ausführen: Das Liebesgebot ist begründet in der Liebe Gottes, der wir diese Welt und unser Leben verdanken.  

In dem Gefüge von Gottesliebe, Nächstenliebe und Liebe zu sich selbst wird die Liebe ge-wissermaßen als von Gott ausgehende Lebenskraft bestimmt. Gerade an diesem Abschnitt des Markusevangeliums zeigt sich beeindruckend die Einheit von Glaube und Ethos.  Gott als der Liebende beschenkt und trägt uns Menschen mit seiner Liebe. Durch seine Liebe befähigt und fordert er uns zugleich. Damit werden zugleich heilsame Grenzen gezogen. Gottesliebe ohne Menschenliebe geht in die Irre und ist keine Liebe mehr. Menschenliebe ohne Gottesliebe ist in der Gefahr, dass Menschen sich an sich selbst oder an andere verlieren. Gottes Gebot ist die Einladung, sich ihm anzuvertrauen – mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzem Gemüt, mit all unseren Kräften, damit wir gestärkt werden, uns selbst anzunehmen und unsere Nächsten zu lieben. Das ist nicht immer einfach. Da gibt es kein Stehenbleiben, kein Verharren in dem, was erreicht worden ist. Auch nicht im christlich-jüdischen Gespräch. Bei aller Dankbarkeit für das Erreichte. Dass wir nach allem Leid, das Menschen – auch Christinnen und Christen – Jüdinnen und Juden angetan haben, die 65. Woche der Brüderlichkeit gemeinsam begehen können, dafür bin ich von Herzen dankbar.

„Nun geh hin und lerne“. Das ist unser Auftrag. Gemeinsam weiterzugehen. Weiterzuarbeiten an einer wirklich dialogischen christlich-jüdischen Beziehung in Theologie und Praxis. An der Basis in Gemeinden und Schulen, in der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern, von Lehrerinnen und Lehrern, in den Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen, die uns gemeinsam herausfordern.

Ich freue mich auf diese Woche der Brüderlichkeit. Möge sie dazu beitragen, dass wir gemeinsam noch mehr verstehen von der großen Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel und seiner Menschheit. Und möge uns Gottes Geist dabei leiten. Amen