"Nun gehe hin und lerne": Sichtbare Zeichen des Miteinanders

Grußwort und Einführung von Dr. Georg Bätzing, Bischof von Limburg, bei der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier am 4. März 2017 im Kaisersaal des Römers in Frankfurt a.M.


Sehr geehrter Rabbiner Nachama,
sehr geehrter Herr Kirchenpräsident Jung,
sehr geehrte Mitwirkende und sehr geehrte Gäste,


gemeinsam beten wir heute, feiern unseren Glauben und drücken so aus, dass wir zusammen in dieser Welt und im Glauben unterwegs sind. Das ist heute wichtiger denn je, wo Religion vielerorts Skepsis erfährt und sich viele Menschen zurückziehen und sich voneinander abgrenzen. Daher drückt das diesjährige Motto „Nun gehe hin und lerne!“ Gemeinsames im Glauben aus, aber auch eine Grundhaltung, die für unser Wirken in der Welt und unser menschliches Miteinander wesentlich ist.

Das Lernen ist ein verbindendes Paradigma des Jüdischen und des Christlichen und findet sich in den religiösen Texten und Traditionen der Glaubensaneignung und -vermittlung. Dennoch: Wenn wir Christen in der Vergangenheit das Neue Testament als Überbietung des Alten verstanden haben, wenn wir unsere eigenen Wurzeln und die wichtigen Verbindungslinien vergessen haben, dann haben wir in unserer Auslegung Fehler gemacht und Beziehungen unnötig belastet. Frank Crüsemann hat dies in seinen Arbeiten immer wieder deutlich gemacht , so z.B. anhand der nicht schriftgemäßen künstlerischen Umsetzungen des 12jährigen Jesus im Tempel. Häufig wird dieser in überhöhter Position dargestellt, dozierend vor einer Schar von Schriftgelehrten. Nach dem Text des Neuen Testaments sitzt Jesus allerdings „mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen“ (Lk 2,45). Er sitzt eben nicht über, sondern mitten unter den Schriftgelehrten. Er doziert nicht, sondern hört zu und fragt. Damit sind wir bei den verbindenden Grundhaltungen der Glaubensaneignung. Es heißt eben nicht: „Geh hin und lehre!“, sondern „Geh hin und lerne!“ Als Jünger und Jüngerinnen Jesu heute bleiben wir Lernende, egal ob Laie, Bischof oder Experte auf einzelnen Gebieten. Wir lernen in unserem Glauben immer wieder von anderen Menschen dazu. Dem Glauben wohnt immer etwas Dynamisches inne, und das macht ihn so interessant. Tritt er statisch auf, unverrückbar, unbelehrbar, dann bricht er.

Ich selbst erfahre eine solche Dynamik immer wieder im Beten mit den Psalmen. Das Buch der Psalmen ist deshalb so reich, weil es – treu und wiederholend gelesen – immer neue Einsichten ermöglicht, weil sich die eigene Lebenserfahrung verändert, und weil es in jeweilige Lebenssituationen hinein immer anders zu mir spricht. Da fällt mir dann ein Vers besonders auf und lässt mich nachdenken, den ich vielleicht lange überlesen habe. Und gerade im Beten der Psalmen weiß ich mich nicht nur mit der Gebetstradition Jesu und der frühen christlichen Gemeinden verbunden, sondern vor allem auch mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern.

Durch einen solch dynamischen und gegenwartssensiblen Umgang mit den Texten, den Lebens- und Glaubenserfahrungen und den Traditionen geht uns Gemeinsames und Verbindendes auf, und Abgrenzungen treten in den Hintergrund. Mit Blick auf unsere evangelischen Mitchristen sehen wir im Jahr des Reformationsgedenkens ja deutlich: Die Zeiten der Konfrontation konfessioneller Abgrenzung waren schlimm; sie führten zu Krieg, Streit, gegenseitigen Vorhaltungen – zu nichts, was dem Willen Jesu entspricht. Jetzt beginnen wir zu lernen, wie wir einander gegenseitig bereichern und den Glauben bewahren, weil wir uns aus unterschiedlicher Erfahrungsperspektive, mit unterschiedlichen Traditionen und Akzenten gegenseitig anspornen, die ganze Wahrheit des Glaubens an Jesus zu bezeugen, ja, diese immer wieder neu zu suchen, und dies bei aller Unterschiedenheit im gemeinsamen Bemühen: die einen mit ihrer Betonung der Schrift und des Wortes, die anderen mit der Hochschätzung des Sakramentes der Eucharistie; die einen als eine Weltkirche, die anderen mit ihren synodalen Entscheidungswegen usw.

Im redlichen Ringen, Gott und seine Weisung immer tiefer zu erkennen und richtige Entscheidungen zu treffen, ist eine Dynamik von Schrift, Tradition und Leben notwendig, die sich auch in der historischen Entfaltung der Theologie und deren Rückbindung an das konkrete Leben zeigt. Ausgehend von den Glaubenserfahrungen und der Glaubenspraxis der Menschen durch die Geschichte hindurch entstanden verbindliche Textsammlungen, Lehrtraditionen und Riten, die wesentlich zu einer Religion oder Konfession dazu gehören. Diese müssen aber immer wieder neu an der Schrift orientiert werden und v.a. müssen sie vor dem eigenen Gewissen – auf Herz und Nieren – geprüft werden, und zwar in den ganz konkreten Herausforderungen des Lebens. In diesem Dreischritt eignen wir uns den Glauben an und sind angefragt, unseren Glauben immer wieder neu im persönlichen und öffentlichen Leben ansichtig werden zu lassen.

Und dann werden wir auch kritisch auf Strukturen, gesellschaftliche Zustände und Entscheidungsprozesse blicken. Ein eben beschriebenes Paradigma des Lernens braucht die Hinwendung zu anderen, Offenheit, Selbstreflexion und vor allem Demut. Dem gegenüber steht z.B. ein Paradigma des Wirtschaftens. Hier gilt meist „Deal or no deal“, was mittlerweile auch in politischen Entscheidungsprozessen Anwendung findet. Das ist etwas ganz anderes, denn hier gilt: Ich habe etwas, du hast etwas, und daraus lässt sich im besten Fall noch ein gegenseitiger Vorteil generieren, meistens aber steht am Ende – oder schon zu Anfang – eine Machtposition des einen über den anderen, ein Nutzen und Ausnutzen für den eigenen Vorteil zur Erreichung eines materiellen Gewinns. Eine Haltung des Lernens im Glauben wird gänzlich andere Auswirkungen auf unser Leben haben und in der Wahrnehmung der anderen auch ihre Not sehen.

Schwestern und Brüder, nicht das Darüber-Sprechen macht unser gemeinsames Anliegen deutlich, sondern die vielen sichtbaren Zeichen des Miteinanders. Dazu gehören unsere Feier heute Abend und die zahlreichen Versammlungen in dieser Woche der Brüderlichkeit.

Erbitten wir für unsere Begegnungen und für unser Handeln den Segen Gottes und beten wir nun gemeinsam.