"Nun gehe hin und lerne": Wir sind die Alternative

Ansprache von Prof. Dr. Rabbiner Andreas Nachama, Jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates, während der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier am 4. März 2017 im Kaisersaal des Römers, Frankfurt/M.


Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser christlich-jüdischen Gemeindschaftsfeier,
lieber christliche und jüdische Amtsbrüder und Amtsschwestern,
und ganz besonders – lieber Reb'Henry Brandt!

Weit über ein viertel Jahrhundert hast Du, lieber Henry, diese Gemeinschaftsfeier aus jüdischer Sicht geprägt, hast den Dialog zwischen Juden und Christen in ein neues Zeitalter gebracht: Geh hin und lerne, bedeutete für uns: wir sind hierhergekommen, um gemeinsam mit Dir und denen, die auf protestantischer und katholischer Seite diese Gemeinschaftsfeier zu einem Ort des Lernens und Begegnens gemacht haben, eine weitere Seite im christlich-jüdischen Dialog aufzuschlagen. Da hast du und alle mit Dir die Messlatte hoch gesetzt: Hoffen wir, beten wir, dass wir dem gerecht werden können.

Lernen! Willi Brandt, der große Bundeskanzler der Versöhnung, hat einmal gesagt, die Schule, ist die Schule der Nation, um sich damit von denen abzugrenzen, die damals meinten, die Bundeswehr sei die Schule der Nation.

So sehr ich Brandt als Abiturient und später bewundert habe, ich bin nicht gerne zur Schule gegangen! Und damit mich keiner missversteht, als Westberliner musste ich mir auch keine Gedanken über den Wehrdienst machen. Aber Lernen in der Schule war doch oft damit verbunden, dass man die Antwort auf Fragen finden musste, die der Lehrer oder die Lehrerin als richtig im Kopf hatte, ja, dass da auch vieles gelernt werden musste, das mir in meinem ganzen späteren Leben nicht mehr begegnet ist.

Aber, da gab es auch das andere Lernen: Das Lernen in der Schrift, in der Tora, in den Prophetenabschnitten, in den Psalmen.

Das fing damals und das fängt heute für mich damit an, dass ich den Text lese: damals als Schüler den Text in der Übersetzung von Martin Luther und von Martin Buber, von Moses Mendelssohn und von Leopold Zunz, um nur einige zu nennen. Und heute natürlich auch und immer als erstes den hebräischen Originaltext. Und schon bevor man auch nur einen Kommentar zur Hand nimmt sieht man, die biblische Wirklichkeit und Lebendigkeit der Texte besteht darin, dass man sie unterschiedlich verstehen kann.

Und dann, dann kamen die unterschiedlichen Sichten von Raschi, dem großen Rabbi Schlomo Jischaki, der 6 Jahre nach dem ersten Kreuzzug im Jahr 1105 in seine Welt gegangen ist. Später kamen Ibn Esra, Seforno, Nachmanides und wieder später Joseph Hermann Hertz oder Gunter Plaut, um nur einige zu nennen, hinzu.

Aber das spannendste war, wenn in meinem Elternhaus einer der evangelischen Pfarrer, die mit meinem Vater befreundet waren, von mir befragt werden konnte und eine ganz andere Sicht auf den gleichen Text vorstellten.

Es gab kein richtig oder falsch mehr wie in der Schule, es gab und gibt, liebe Gemeinde dieser christlich-jüdischen Gemeindschaftsfeier, nur ein Nebeneinander von unterschiedlichen Sichten.

Leben ist anders als ein physikalischer Versuch. Da kann man die Dinge so anordnen, dass man sie immer ein-eindeutig beschreiben kann, zumindest bist einer eine bessere Versuchsanordnung einrichtet.

Die Schrift kann man, muss man immer wieder neu lesen und, ja, immer wieder anders verstehen. Unsere Sichten auf die Schrift lehren uns: es gibt keine alternativlosen Situationen! Ja, es ist augenöffnend, wenn man verschiedene Midraschim zu eben einer Textstelle findet und versteht, um selbst neue Sichten auf die Schrift zu finden.  Das wichtigste im Predigen im christlich-jüdischen Kontext – um mal den Titel der Predigtmeditiationen vom Studium in ISRAEL zu nennen zu dessen Herausgeberkreis ich seit vielen Jahren gehöre, ist es, den Menschen zu denen wir sprechen nicht nur Details biblischer Stellen zu vermitteln, sondern die Lebenseinsicht: Andere können mit anderen Augen das gleiche ganz anders sehen als ich.

Unser Leitspruch in diesem Jahr ist "Geh hin und lerne". Der Spruch stammt von Rabbi Hillel. Nach dem Kern der biblischen Religion wurde Rabbi Hillel einmal von einem Nichtjuden gefragt: "Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht! Das ist die ganze Lehre, und alles andere ist Erläuterung. Geh hin und lerne."

Das Gegenstück dazu findet sich in der christlichen Tradition. In der Geschichte des barmherzigen Samariters heißt es etwa: "Was lehrt uns das Gesetz? 'Du sollst deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.'" Jesus von Nazareth fügt hinzu: "Du hast recht geantwortet, tue das, so wirst du leben."

In alten Zeiten hätte man wohlmöglich gesagt: Die Juden setzten sich hin und lernen, die Christen tun es.

Aber – wir haben doch inzwischen gelernt, das Ganze zu verstehen:

Heißt es in der einen Tradition:

"Was dir nicht lieb ist,
das tue auch deinem Nächsten nicht!"

so wird in der anderen Tradition danach gefragt, was das Gesetz uns lehrt – "liebe Deinen Nächsten wie dich selbst" und hinzugefügt, "tue es!"

Verblüffend ähnlich – in beiden Traditionen ist das "LERNEN" im Sinn der Befragung des Gesetzes enthalten, in beiden Fällen das "TUN". Und doch "die Eichung" wird in beiden Fällen eine andere sein. Und dann will man sich gar nicht vorstellen, was das für ein Christentum gewesen wäre, das von Eisenach ausgehend einen "arischen" Jesus zu konzipieren versuchte oder jetzt in dieser Tradition, die Berliner theologische Fakultät das im Christentum so genannte alte Testament zur apokryphen Schrift herabstufen will.

Nein, christlich-jüdischer Dialog, das heißt: Sich der Gemeinsamkeiten vergewissern, und im gleichen Augenblick der Unterschiedlichkeit bewusst bleiben – das ist Brüderlichkeit. Geschwister werden nicht eins, aber sie wissen, um ihre gemeinsame Herkunft und ihre unterschiedlichen Lebenswege.

Aber – wir leben gemeinsam in einem Land und in der gleichen Welt. Wir sind gemeinsam verantwortlich für die Lehren aus der Vergangenheit: Am 8. Mai 1945 lag Europa in Schutt und Asche. Ja, wir beklagen die Opfer der Schoa, aber wir beklagen auch alle anderen Opfer dieses sinnlosen Krieges: Kaum eine Familie in Europa, die nicht um Tote klagen musste, Berlin oder Dresden, Warschau, Lidice oder Leningrad: Schutthaufen. Nationalstaaten haben ihre Nationen nicht schützen können, was sich kaum jemand vorstellen konnte, heute kann man vom Atlantik bis zum Ural ohne wirkliche Grenzkontrollen durch ein Europa der Vaterländer fahren, kein Germania, keine Hegemonie, sondern einen Zusammenschluss von Europäern. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung, diese Geschichte zu erzählen und diese Errungenschaft des Friedens zu bewahren: "Geh hin und lerne!" Ja, aus der Geschichte der beiden großen europäischen Kriege im 20. Jahrhundert und der Überwindung der Grenzen kann man lernen ganz so wie Hillel gelehrt hat: "Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht! Das ist die ganze Lehre, und alles andere ist Erläuterung. Geh hin und lerne."

Und da kann man unseren Psalm heranziehen:

Unser Psalm beginnt mit Versen, die belegen sollen, dass ein Leben mit der Tora zum Idealbild der Vollkommenheit führen kann.

"Deine Gebote will ich halten, verlass mich nimmermehr."
So übersetzt Martin Luther den 7. Vers.

Der andere Martin, Martin Buber, hingegen sagt:
"Ich will deine Gesetze hüten, -
verlass mich nimmer gar sehr!"

"Ta'asweni ad me'od"

"Verlass mich nicht bis zum sehr." – holprig, aber wörtlich übersetzt.

Verlass mich nimmer "gar sehr", wie Buber sagt oder radikal "nimmermehr" wie Luther fast fordert.

Ja, wenn wir vom Pfad der Tugend abweichen, sollen wir nicht zu sehr, nicht zu weit, nicht zu lange abweichen.

Alternativlos?
Nein, alternativlos soll nichts sein. Man soll sich ganz und gar und immer auch die Alternativen vorstellen und versuchen andere Wege zu finden.

In dem mittleren Teil unseres Psalms aber, geht es um das von Gott belehrt werden, was das wirkliche Lernen ist.

Wir lesen:

"Lehre mich Deine Gebote,"
"lehre mich heilsame Einsicht und Erkenntnis."

"Es ist gut für mich, dass du mich gedemütigt hast,
damit ich deine Gebote lerne."

Der Psalmist ist keiner, der für sich beansprucht, alles besser zu wissen,
keiner der alternative Fakten schafft,
auch keiner, der meint, irrdischer Reichtum gebe einem nach dem Motte; Jesch Mamon, jesch kawod" – zu deutsch - "hat einer Geld, hat er auch Ehre und Macht"

Nein hier lesen wir:
"Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber
als viele Tausend Stück Gold und Silber.
Deine Hand hat mich gemacht und bereitet,
unterweise mich, dass ich deine Gesetze lerne."

Wieviel Unglück haben Menschen über die Welt gebracht, die sich selbst über alles setzen, eine solche Bibel der Dummheit war das Buch „Mein Kampf“, eine solche Dummheit war "Deutschland, Deutschland über alles" oder wie es jetzt heißt "America first".

Wir wollen aus der Schrift lernen für das Leben, wir wollen immer Alterativen versuchen zu verstehen, wir sind in unserer Brüderlichkeit uns unserer Verschiedenheit bewusst, aber wollen andere sichten in Respekt betrachten.

Lasst uns gemeinsam Verantwortung tragen für die Lehren unserer Schriften, bewusst bleiben, dass Geschwister die gleiche Herkunft haben, aber ganz unterschiedlich leben können – wie Buber sagte, zwei Glaubensweisen – und wie ich immer gerne hinzufüge: Zwei unterschiedliche Lesetraditionen. Was uns verbindet ist nicht nur die Herkunft und der Respekt voreiander, sondern auch das Lernen und Tun zur Erhaltung der Schöpfung, das Aufzeigen von Alternativen in angeblich alternativlosen Situationen.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser christlich-jüdischen Gemeindschaftsfeier, lieber christliche und jüdische Amtsbrüder und Amtsschwestern, und ganz besonders – lieber Reb'Henry Brandt!

Wir sind die Alternative in diesem Land!

AMEN ve AMEN!