Themenheft online 2013: "Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis"

Von rosa Kaninchen

Ramona Ambs
 

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl[1], gab es mich noch nicht. Dennoch fühle ich mich um ein rosa Kaninchen bestohlen. Und nicht nur um ein rosa Kaninchen. Sondern um ein ganzes großes Zimmer voller Spielsachen. Ein Zimmer voll mit Holzeisenbahnen, Büchern, einem bunten Teppich und einem Schaukelpferd. Es wäre ein Zimmer gewesen, in dem viel gelacht worden wäre, weil man so viele Spielsachen gehabt hät- te und weil es so einfach gewesen wäre, sich lieb zu haben in so einem Zimmer.

Ich fühle mich bestohlen um eine glückliche Kindheit, die ich nicht hatte, weil diejenigen, die mir diese Kindheit hätten glücklich machen sollen, so unglücklich waren ... unglücklich und krank vor Sehnsucht nach einem rosa Kaninchen. Oder eben nach etwas, was ein rosa Kaninchen hätte sein können.

Ich beginne ganz bewusst mit Hitler. Ich hätte auch mit Israel beginnen können. Hitler und Israel – das sind die beiden Begriffe, die hier spontan assoziiert werden, wenn man als „jüdisch“ identifiziert wird. Ich beginne aber mit Hitler. Das scheint mir dringend geboten in einer Zeit, in der alle davon reden, dass endlich Schluss sein solle mit der Besinnung auf die Vergangenheit, dass endlich „Normalität“ zwischen Deutschen und Juden herrschen solle. Naja.

Gibt es eigentlich ein hinterhältigeres Wort als „Normalität“? Normale Beziehungen haben zueinander, miteinander gar? – das klingt so liebevoll unanstößig. Wer sehnte sich nicht danach?

Dummerweise sieht es dann aber so aus: Die Deutschen wollen nicht mehr an die Ver- gangenheit erinnert werden, sie jubeln, wenn im Zentralrat „endlich kein Überlebender“ mehr sitzt, sie reden lieber von der Zukunft mit „unseren jüdischen Mitbürgern“ und denken, Israel kritisieren sei eine mutige Tat – und wir Juden? Wir besuchen in der Zeit unsere Synagogen, die einem Hochsicherheitstrakt ähneln, halten unsere Veranstaltungen unter Polizeischutz ab und gewöhnen uns daran, dass „Jude“ mittlerweile wieder ein Schimpfwort ist. Schöne Normalität. „Lassen Sie uns Deutschen endlich Raum zum Atmen“, hieß ein Leserkommentar nach der Wahl von Graumann zum Zentralratspräsidenten – als seien wir Luftvergifter, als habe die bloße Existenz einer Überlebenden wie Charlotte Knobloch kollektive Asthmaanfälle im deutschen Volk ausgelöst.

Aus deutscher Sicht ist die Perspektive ja sogar vielleicht irgendwie nachvollziehbar. Wer will schon gerne daran erinnert werden, dass das eigene Volk, wie auch immer, in einen Massenmord verstrickt war? Und es ist ja auch scheinbar schon so lange her. Für sie ist die Schoa Geschichte, deren kollektive Aufarbeitung als Beton gewordene Stelen in Berlin prima als Hüpfsockel benutzt werden können. Oder als Sonnenbank. Oder als Picknicktisch. Jedenfalls glaubt man, dass man mit der Betongießerei nun genug an Erinnerungsarbeit getan hat.

Für uns Juden sieht das anders aus. Unsere Überlebenden sitzen bei uns im Wohnzimmer und legen ihre traurigen Geschichten neben den Suppenteller auf den Tisch. Früher dachte ich, es wird besser werden. Ich dachte, je mehr die Leute über jüdischen Alltag erfahren und je mehr sie sich zumindest zeitweise, versuchsweise auf unsere Perspektive einlassen, desto näher werden wir einander kommen. Ich dachte, wir müssen uns einfach voneinander erzählen. Aber wenn man von diesen traurigen Geschichten erzählt, heißt es, man packe die Ausschwitzkeule aus. Und wirkliches Interesse am Judentum – unabhängig von den Themen Holocaust oder Israel – findet man kaum. Vor allem beim Thema Israel jedoch entwickeln Deutsche eine Leidenschaft, die man kaum erwarten würde.

Es sind manchmal die kleinen Episoden, die das veranschaulichen. Während meines Studiums hielt ich ein Referat über jüdische Pädagogik. Ich erzählte von verschiedenen jüdischen Pädagogen und ihren teils revolutionären Ansätzen und deren Bezug zur jüdischen Ethik. Am Ende forderte ich auf Fragen zu stellen. Das hätte ich besser nicht getan. Die erste Frage lautete nämlich, warum man sich überhaupt dafür interessieren sollte, wo man doch am Mörderstaat Israel genau sehen könne, wie jüdische Ethik praktisch funktioniere. Ich war völlig perplex. Und es kamen weitere Fragen – oder sollte ich besser von Anwürfen sprechen? Keine dieser Fragen hatte auch nur im Entferntesten damit zu tun, wovon ich zuvor gesprochen hatte. Darum ging es überhaupt nicht mehr. Es ging um etwas völlig anderes. Es ging darum, überhaupt die Beschäftigung mit einem jüdischen Thema abzuwehren. Korczak, Simon, Buber – das alles interessierte nicht. Ich fühlte mich sehr fremd.

Ich beschloss damals mich mehr aus der deutschen Gesellschaft zurückzuziehen. Ich dachte mir, ich sollte mich einfach mehr und intensiver in die jüdische Gemeinde einbringen. Dort sind „meine Leute“, dort kann mir sowas nicht passieren. Dort bin ich geschützt.

Und dann geh ich in die Synagoge.

Alles Russen, außer Gott.

Und plötzlich bin ich doppelt fremd. Als Jüdin in der deutschen Gesellschaft – und in der Kehile[2] plötzlich als „Deutsche“ unter Russen. Ich kann kein russisch, also spreche ich mit Gott. Aber der versteht nur hebräisch und das spreche ich nur stolpernd. Deshalb packe ich meine Gedanken und Buchstaben wieder ein und gehe nachhause.

Manchmal ist man eben nirgends zuhause.

Oder überall nur ein bisschen.

Das klingt schlimmer, als es ist. Dieser Zustand setzt viel Kreativität frei und schärft den Blick. Stets hat man die Perspektive des Außenstehenden. Dabei lernt man viel über die eigene Welt und die Welt der andern.

Irgendwann verliebe ich mich, bekomme Kinder, baue mir ein Nest. Wir ziehen zusammen in eine kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Die ältere Nachbarin von gegenüber hält unsere silberne Mesusa[3] an der Wohnungstür für eine moderne Alarmanlage. Wir klären sie auf.

Es dauert keine drei Tage und JEDER in der näheren Umgebung weiß, dass wir jüdisch sind. Ein Nachbar kommt ernsten Blickes auf mich zu. Er sagt mir als erstes, dass er nichts gegen Juden habe – zu Israel, jaaa, da habe er eine dezidierte Meinung, aber Juden seien ihm im Prinzip sehr sympathisch. Er habe große Achtung vor unserer kulturellen Leistung, sagt er. Er schüttelt mir heftig die Hand. Seine Hand ist warm, trocken, groß und stark – und trotzdem wird mir kalt. Das Wort „dezidiert“ klingt noch heute in mir nach.

Wir suchen bald nach einer neuen Bleibe. Diesmal fragt niemand nach der jüdischen Alarmanlage an der Haustür. Aber irgendwann bekommen es die Nachbarn dennoch mit. „Warum hast du das denn nicht erzählt?“ fragt mich empört ein Nachbar, als hätte man ihm eine wichtige Information unterschlagen. Dabei weiß ich bis heute nicht, ob er protestantisch ist oder katholisch, ob er von Hugenotten abstammt oder irgend- wie preußisch versippt ist. Aber als „Jude“ hat man sich wohl noch immer zu melden. Zu erklären – oder zumindest sich als solcher vorzustellen. Wir Juden sind hier noch immer Exoten. Exoten, die man mal kurz bestaunt, aber die man nicht unbedingt mag. Das muss man aushalten. Unsichtbar machen geht nicht. Und verstecken wollen wir uns auch nicht.

Aber ein bisschen weniger lebendiges Museum, das wäre ich schon gerne. Und ich wünschte mir auch, dass man mich nicht für die Außenvertretung Israels halten würde, bei der man seinen Ärger über die Fehlleistungen der israelischen Regierung abladen kann. Den Unterschied von israelisch und israelitisch versuchen Juden nun sicherlich seit Ewigkeiten in deutsche Köpfe zu bekommen. Erfolglos. Auch, dass man als Jude nicht zwangsläufig Israeli ist und sogar sehr wohl Deutscher sein kann – das hat sich noch nicht wirklich rumgesprochen – und ich persönlich habe es auch längst aufgegeben. Deshalb spreche ich hier auch von Deutschen und Juden. In deutschen Köpfen ist das nämlich ein chronischer Gegensatz. Mittlerweile will ich ohne- hin nicht mehr dazugehören. Wozu immer gegen eine Wand rennen, wenn ein Meter weiter eine verschlossene Stahltür ist, an der man sich genauso hart den Kopf stoßen kann?

Eben.

Besonders traurig finde ich es allerdings schon, dass auch meine Kinder immer wie- der darauf gestoßen werden, dass sie nicht dazu gehören. Selten passiert das durch andere Kinder. Es gab nur ein einziges Mal eine Situation, in der meinem damals siebenjährigen Sohn gesagt wurde, er dürfe nicht mitspielen, weil er Jude sei. Das sind wirklich Ausnahmen. Für Kinder spielt das meist noch keine Rolle. Aber wehe, es sind zum Beispiel Schulfeste. Also Veranstaltungen, wo Familien zusammenkommen. Es wird einem unmöglich gemacht, sich einfach über die Kinder, das Wetter oder die Sanierung des Schulgebäudes zu unterhalten. Immer immer immer kommt jemand zu mir und fängt an sich lauthals über etwas zu beschweren, wofür ich offen- sichtlich verantwortlich bin. Eine Familie beklagt sich bei der Einschulungsfeier bei mir, dass der Zentralrat sich immer beschwert und deshalb dafür sorgt, dass man die Juden nicht mag. Während des Sommerfestes kommt ein Vater auf mich zu, um zu erklären, dass die Tatsache, dass wir Juden und auch die Moslems immer nicht mit in die Kirche kämen zu Schuljahresbeginn, für erhebliche Missstimmung sorge, und dass man ja wohl nicht erwarten könne, dass man gleiche Rechte habe, wenn man sich immer allem verweigere. Und als ich mich dann vor dem Mann flüchtend zu einer türkischen Familie setze, muss ich mir dort anhören, was für üble Dinge meine Leute doch in Israel tun. Und meine Kinder stehen daneben und hören zu. Meine Tochter sagt, es ist ihr egal, was die Leute sagen. Mein Sohn sagt, er möchte kein Jude sein, sondern einfach Mensch, denn das wären alle, und somit wären alle gleich und alles wäre gut. Und mein Jüngster sagt, er mag gerne Jude sein, weil man da Geschenke an Chanukka[4] kriegt. Und ich denke, dass das mit der Normalität wohl noch ne Weile dauern wird.

Manchmal träume ich von dieser Normalität – ich stelle mir dann vor, in den Schulen würde es nicht nur Weihnachtsfeiern geben, sondern auch Sukkot[5]-Deko an den Fenstern im Herbst oder das muslimische Zuckerfest würde gefeiert werden. Ich träume davon, dass Elternabende in der Schule nicht an Rosh-Ha-Shana[6] stattfinden, und davon, dass Nachbarn nicht am Sederabend[7] klingeln, um sich einen Hammer auszuleihen.

Schließlich klopfe ich an Heiligabend auch nicht an der Tür meiner christlichen Nachbarn, um nach ein bisschen Mehl zu fragen. Ich träume davon, dass mir jemand sagt, was ihn an mir persönlich stört, und nicht was ihm an uns Juden insgesamt unangenehm ist. Ich träume und träume. Und denke und träume.

Wer im Dunkeln sitzt, zündet sich einen Traum an, sagte Nelly Sachs. Und ich blicke mich in meiner Dunkelheit um und sehe viele kleine Lichter. Und irgendwo zwischen den Lichtern sitzt ein rosa Kaninchen.


Ramona Ambs wurde 1974 in Freiburg geboren. Ihre Schullaufbahn, mit Stationen in Freiburg und Heidelberg, beendete sie 1995 mit Abitur und Scheffelpreis. Danach studierte sie Germanistik und Pädagogik an der Universität Heidelberg. Bereits während des Studiums publizierte sie Gedichte und Essays in verschiedenen Anthologien. Seit 2003, arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Vorliegender Artikel erschien zuerst in: Psychoanalyse, 2012, Heft 1 (28), 113-117.


Anmerkungen

[1] Anspielung auf das Kinderbuch von Judith Kerr (1973). Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag.

[2] Kehile: jüdische Gemeinde.

[3] Mesusa: Schriftkapsel, die am Türpfosten eines jüdischen Hauses angebracht wird.

[4] Acht Tage dauerndes Lichterfest. Es beginnt nach dem jüdischen Kalender am 25. Tag des Monats Kislew (November/Dezember).

[5] Sukkot: jüdisches Laubhütten-Fest.

[6] Rosh-Ha-Shana: jüdisches Neujahrsfest.

[7] Sederabend: erster Abend des Pessachfests.


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