Die Integration von Flüchtlingen als Herausforderung für Juden und Christen

Grusswort von Rabbiner Arie Folger beim Treffen zwischen Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz, des Rates der EKD, der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands am 7. März 2016 in Hannover


Sehr geehrte Damen und Herren, religiöse Würdenträger,

ich möchte vorschlagen, das Problem der Integration von Flüchtlingen aus drei Blickwinkeln zu betrachten(1): Es gibt hier besondere Herausforderungen für uns. Da geht es um Dinge, die wir tun sollen, obwohl sie uns herausfordern. Weiter gibt es Herausforderungen, die von den Flüchtlingen geschaffen werden, die uns besonders betreffen. Damit die Integration gelingt, müssen beide Arten Herausforderungen behoben werden. Und zuletzt haben wir auch die Herausforderung, die Frage zu stellen, ob es moralisch vertretbar ist, Grenzen für die Pflichten gegenüber Mitmenschen zu definieren, und wenn ja, welche.

Fangen wir mit der ersten Art Herausforderung an, Dinge, die wir tun sollen, obwohl sie uns herausfordern. Ganz klar gibt es Vorurteile gegen Fremde. Es ist uns immer leichter, unter einander zu sein. Doch wir müssen das Leid des Fremden sehen, und wir haben auch unsere Vorurteile zu überwinden. Die Bibel fängt nicht etwa mit der Auserwählung Abrahams an, die zur Auserwählung Isaaks und Jakobs führt, sondern mit der Schöpfungsgeschichte. Wie es in der Mischna Sanhedrin 4:5 heißt(2): Deshalb wurde der Mensch alleine erschaffen (bevor aus dem ersten Menschen Adam und Eva wurde), dir zu lehren, dass bezüglich jedem, der eine Seele zerstört, die Schrift es betrachtet, als ob hätte er eine ganze Welt zerstört; und bezüglich jedem, der eine Seele rettet, die Schrift es betrachtet, als ob er eine ganze Welt gerettet hat.

Die gleiche Lehre ergibt sich aus der Geschichte der Sintflut: Nach der Sintflut sind alle Menschen noch enger miteinander verwandt. Laut dem Midrasch (Bereschit Rabba 39:14) verstand Abraham, dass es eine fundamentale geistige Zuneigung aller Menschen gibt, denn: Der [Stammvater] Abraham konvertierte die Männer und die [Stammmutter] Sara die Frauen [zum Monotheismus]. Diese waren Menschen aller Nationen und Religionen, und bei allen empfanden die Stammväter eine geistige Zuneigung.

Jeder Mensch wurde im Ebenbilde Gottes erschaffen. Gesellschaftliche Diskussionen über die Asylpolitik dürfen die grundsätzliche menschliche Würde aller Menschen nicht vergessen.

Ihr Leid haben wir entsprechend zu spüren und womöglich mitzutragen. An zahlreichen Stellen erinnert die Tora uns (z.B. im 5. B.M. 15:15): Und gedenke, dass du in Ägyptenland auch ein Knecht warst. Im Gegenteil zu anderen Exilen deutet die Tora keinen Grund an, weshalb die Kinder Israels nach Ägypten ins Exil gingen. Obwohl manche Tora-Gelehrten auch hier fest überzeugt waren und sind, dass das Exil von einer Sünde verursacht wurde, sind andere der Meinung, dass das ägyptische Exil keine Folge irgendwelcher Sünde war. Entsprechend war die Erlösung aus diesem Exil nicht mit Umkehr bedingt. Viel eher versteht zum Beispiel der gegenwärtige Rabbiner Menachem Leibtag das Exil als Sensibilisierung Israels für alle Zeiten und Generationen, dass wir das Leid des anderen wahrnehmen lernen.

Es gibt aber auch Herausforderungen, die uns besonders treffen. Europa brauchte viele Jahrhunderte, bis es tolerant, pluralistisch und multikulturell wurde. Das wurde nur deshalb erreicht, weil Menschen sich entschieden, Raum für andersdenkende Menschen zu schaffen. Heute wird diese Offenheit gleich von zwei Seiten bedroht, von solchen, die kein Respekt mehr für religiöses Bewusstsein und für das jüdisch-christliche Erbe, für das geistige Erbe des Abendlandes mehr haben, und von solchen, die zwar viel Respekt für religiöse Werte haben, aber nur für die eigenen. Die, die kein Respekt für religiöse Menschen haben, bedrohen das Recht auf Religionsfreiheit. Die, die kein Respekt für Andersdenkende haben, bedrohen den Frieden unter den Bürgern. Beide gefährden unsere Gesellschaft.

Es ist nicht legitim, Muslime oder andere „Ausländer“ auszugrenzen oder ihre Prägung unserer Kultur zu bekämpfen, weil wir gerne eine statische Gesellschaft sein wollen, in der alles so bleibt, wie es „schon immer“ war. Die Gesellschaft ist dauernd im Wandel, und wenn wir finden, dass die westliche Kultur als Kultur gefährdet ist, dann haben wir teilweise nur uns selbst anzuklagen, die zu narzisstisch sind, um Familien zu gründen und mehr als 1,3 Kinder pro Familie zu haben.

Hingegen ist es schon legitim – und unsere Verantwortung – zu gestehen, dass es Elemente gibt, die den Religionsfrieden nicht so wie wir sehen. Mittlerweile erwarten alle – hoffentlich mit viel Leid – einen Zuwachs des Antisemitismus. Es sind vielleicht nicht die Flüchtlinge von heute, die gewaltbereit sind. Ich finde es noch viel erschreckender, wenn Zweit- und Drittgenerationen der ehemaligen Migranten aus dem Maghreb gewalttätige und nicht-gewalttätige Antisemiten produzieren. Gerade sie, die erfolgreich integriert hätten sein müssen, sind es nicht. Wenn wir die Zuwanderer der letzten Generation noch nicht erfolgreich integrieren konnten, wie sollten wir die neuen Flüchtlinge integrieren? Unser Track Record ist nicht gut.

Ich habe zwar das Problem des Antisemitismus hier thematisiert, weil es uns von der jüdischen Gemeinde persönlich trifft, und weil es die am meist verbreitete Form des Hasses ist, die älteste Hasskrankheit der Welt. Aber auch viele andere Sorgen sind legitim. Wie wir in verschiedenen Ländern in Nahost leicht dokumentieren können, hat sich dort eine intolerante Form des Islams durchgesetzt, die seine strenge Auslegung den eigenen Bürgern aufzwingt. Bürger sind frei, selber sehr fromm sein zu wollen. Persönlich befürworte ich die Frömmigkeit in meiner Religion. Es ist aber eine ganz andere Sache, wenn diese Frömmigkeit anderen aufgezwungen wird.

Es ist daher unsere Pflicht, als Teil der Aufnahme der Flüchtlinge, sowohl Kinder als auch Erwachsene in unsere kollektiven Werte einzuschulen. Im Westen haben wir die Meinungsfreiheit und dulden auch falsche und verwerfliche Meinungen, dulden aber keine Verhetzung. Freunde der Palästinenser dürfen demonstrieren, um die zivile Opfer des Konfliktes zu thematisieren; „Juden ins Gas“-Schreie kann unsere Gesellschaft aber nicht dulden. Ein anderes Gebiet, wo unsere liberalen und pluralistischen Werte nicht verhandelbar sind, ergibt sich in der Kindererziehung. Wir verpflichten nicht alle Familien, ihre Kinder sexuell freizügig zu erziehen. Ich glaube, dass viele der heute anwesenden religiösen Würdenträger sogar mehr Biederkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung empfehlen würden. Es kann aber nicht sein, dass andersdenkende Mädchen beleidigt, genötigt oder mit Gewalt eingeschüchtert werden.

Um eine erfolgreiche Integration der Flüchtlinge zu bewirken, deren Leid wir nicht ignorieren dürfen, müssen wir Wege finden, um Kinder und Erwachsene für unsere Gesellschaft zu schulen, sie durch und durch zu inspirieren, liberale Demokraten werden zu wollen, sonst werden wir noch viele sehr unangenehme Konflikte erleben.

Wir begnügen uns nicht, unsere berechtigten Ängste zu kommunizieren. Wie viele meiner Kollegen bin auch ich im jüdisch-muslimischen Dialog aktiv. Erst gestern lernte ich einen Imam kennen. Zusammen haben wir vor, in einem Flüchtlingsheim einen oder mehrere Workshops zur Integration in der pluralistischen Gesellschaft als Jude und Muslime im Zweierteam durchzuführen. Aber damit leisten wir nur einen bescheidenen Beitrag. Man braucht nicht nur viele solche Beiträge, sondern viel, viel mehr. Auch wenn wir endlos viel Geld hätten – und die Budgets sind nicht unbeschränkt! – dann brauchen wir noch viel Zeit und Arbeit, bis wir diese Integration richtig bewirken können. Es fehlen sowohl Lehrer als Lehrpläne, Integrationsbeauftragte als auch Ordnungshüter, Ausbildungsstellen als auch soziale Arbeiter.

Die dritte Herausforderung ist, eine ethisch-moralische Antwort auf die Frage zu geben, was die Grenzen sind. Wenn eine Million oder anderthalb Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sind wir, jede und jeder, verpflichtet, jeweils eine Familie bei uns im Wohnzimmer aufzunehmen? Wenn Sie nein antworten, dann sagen Sie, dass unsere Verantwortung Grenzen kennt. Manche oder viele von uns finden den Begriff Obergrenze geschmacklos. Hätten die Briten vor und während des Zweiten Weltkrieges keine Obergrenze für jüdische Heimkehr nach Israel in ihrem berüchtigten White Paper eingeführt, dann hätten sich viel mehr vorm Holocaust retten können. Doch die Halacha sagt, dass es Grenzen für die Pflichten der Wohltätigkeit gibt. Zu Lebzeiten sollen nur die wenigsten mehr als 10% ihres Einkommens für Wohltätigkeit spenden, und sicher nicht mehr als 20%. Dadurch soll nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch Betagten, Obdachlosen, Arbeitslosen und anderen Bedürftigen geholfen werden. Das bringt uns das Religionsgesetz bei: wir haben Pflichte gegenüber bereits einheimischen Armen.

Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe der religiösen Würdenträger ist, eine genaue Definition der Rechte von Flüchtlingen zu geben, oder eine mögliche Obergrenze genau zu umschreiben. Zwischen dem, was erlaubt, erwünscht und verpflichtet ist, besteht ein bestimmter Spielraum. Doch es ist unsere Pflicht, dieses gesellschaftliche Gespräch moralisch zu umrahmen. Ja, es gibt Grenzen, sei es die Obergrenze oder andere Grenzen. Aber diese Grenze darf weder unrealistisch noch unmoralisch sein. Wir haben also die Verantwortung, die Gesellschaft zu mahnen, keine unmoralischen Grenzen zu setzen.

Eine andere ethisch-moralische Frage ist, wie mit jenen Menschen umzugehen ist, die wir nicht aufnehmen können. Helfen heißt nicht immer auf Dauer aufnehmen. Eine Nicht-Aufnahme darf auch nicht heißen, das Leid des anderen zu ignorieren und nicht weiter als die Landesgrenzen hinaus zu sehen.

Eine dritte Frage der gleichen Art ist, inwieweit wir unsere Werten aufzwingen dürfen. Bestimmt haben wir weder den Wunsch noch das Recht, den Flüchtlingen eine bestimmte Religionsauslegung oder die Denkweise einer bestimmten politischen Partei aufzuzwingen. Bestimmte Regel dürfen wir aber doch erzwingen.

Die zunehmende Gewaltbereitschaft von Teilen unserer Gesellschaft untergräbt den gesellschaftlichen Frieden und erfüllt uns mit Besorgnis, sowohl wenn die Gewaltbereitschaft von Rechtsextremisten als auch von Dschihadisten kommt. Hier sind also unsere Aufgaben: die Gesellschaft zu mahnen, weder ihre Augen vor dem Leid des anderen, noch vor den Gefahren einer missglückten Integration zu schließen, und einen ethisch-moralischen Rahmen zu schildern, innerhalb dessen die politischen Auseinandersetzungen stattfinden können.


ANMERKUNGEN
(1) Dieser Text entspricht eine erweiterte Version, die zwei Ansprachen des Autors an der gleichen Tagung vereinigt.
(2) Text nach dem Jerusalem Talmud.