Integration – aber wie?

Grußwort von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EDK), beim Begegnungstreffen "Kirchen und Rabbinerkonferenzen" am 07.03.2016 in Hannover


Es sind besondere Zeiten, in denen wir uns als Vertreter der christlichen Kirchen un der Rabbiner Konferenz in Deutschland heute versammeln. Heute ringen die Regierungschefs Europas auf dem EU-Türkei-Gipfel um angemessene Wege des Umgangs mit der Situation der Flüchtlinge. Ich bin in den letzten Wochen viel international unterwegs gewesen. Überall habe ich Anerkennung und Hochachtung für die großzügige Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland gehört.

Desmond Tutu hat davon gesprochen, dass das es wunderbar sei, wie die deutsche Bundeskanzlerin mit der Situation umgegangen sei.

Auch in Ruanda hat man die deutsche Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme von Flüchtlingen aufmerksam wahrgenommen.

Ich komme gerade von der VELKD-Bischofskonferenz in Wittenberg, wo wir eine Delegation der lutherischen Bischofskonferenz Tansanias zu Gast hatten. Bischof Alex Malasusa aus Tansania hat einmal mehr seine Hochachtung vor der deutschen Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig hat er darauf hingewiesen, dass in seinem Land Tansania seit vielen Jahren Flüchtlinge aufgenommen werden – jetzt v.a. aus Burundi, früher aus Ruanda und Uganda. Für uns hier ist immer wieder wichtig, zu hören, was andere Länder tun und wie selbstverständlich sie es schon die ganze Zeit tun….

Was die Solidaritätsleistungen bei der Aufnahme betrifft,  ist mir dadurch deutlich geworden, wie sehr wir unseren Blick über Europa ausweiten müssen. Inzwischen hat sich herum gesprochen, in welch hohem Ausmaß die Nachbarstaaten Syriens Flüchtlinge aufnehmen.

Aber wir müssen auch andere Länder noch deutlicher wahrnehmen: Ruanda nimmt seit vielen Jahren zahlreiche Flüchtlinge aus dem Kongo und nun verstärkt aus Burundi auf.  Südafrika, ein Land mit ca. 55 Millionen Einwohnern, hat schätzungsweise 5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Für viele Menschen in Afrika ist Südafrika das Land der Hoffnung.  Viele kommen illegal, weil eine Grenzsicherung illusionär wäre.

Es ist wichtig, unsere eigenen Anstrengungen in diesen internationalen Kontext zu stellen.

In den letzten Monaten habe ich im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage immer wieder vom Judentum gesprochen. In einer Diskussion hat mir vor langer Zeit einmal ein jüdischer Theologe gesagt: Wenn wir von der Herausführung als Ägypten sprechen, dann sprechen wir davon, als ob wir es in unserer eigenen Biographie erlebt haben. Ich glaube, davon können wir als Christen viel lernen. Das sogenannte „Credo Israels“ gilt in der Bibelwissenschaft als Urbekenntnis Israels, das deswegen durchaus auch als so etwas wie ein Ausgangspunkt der jüdisch-christlichen Tradition gesehen werden kann. Im 5. Buch Mose 26,5-9, heißt es:

„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.“

Es gehört zum Wesen des Gottes, an den wir Christen glauben, dass Gott einer ist, der sein Volk aus der Unterdrückung, aus der Sklaverei in Ägypten herausgeführt hat in die Freiheit. Im Lichte des unlösbaren Zusammenhangs zwischen Gottesbeziehung und Beziehung zum Anderen wird klar, warum das Gebot zum Schutz des Fremdlings mit Moralismus nichts zu tun hat. Die Geltung dieses Gebots zum Schutz des Fremdlings wird nämlich ausdrücklich in der als heilsam erfahrenen Beziehungsgeschichte Gottes mit den Menschen verwurzelt.

Grundlage für die Offenheit gegenüber dem Fremden ist eine Ethik der Einfühlung. Das wird in einer Passage im 2. Buch Mose besonders deutlich:

„Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid“ (Ex 23,9).

Dass Fremde mit Achtung und Respekt behandelt werden sollen, gewinnt seine Plausibilität durch die Einsehbarkeit und die Einfühlbarkeit ihrer besonderen Situation der Verletzlichkeit.
Mit dem konstitutiven Charakter der Einfühlung stoßen wir auf ein Charakteristikum jüdisch-christlicher Ethik, das bei der Frage nach dem Umgang mit dem Fremdling besonders deutlich wird, das aber für die Ethik als ganze gilt. Besonders deutlich wird das, wenn wir nun ins Neue Testament schauen und einen bestimmten Aspekt des Liebesgebotes näher betrachten, nämlich seine enge Verbindung zur sogenannten „Goldenen Regel“:

Beginnen wir also bei dem Doppelgebot der Liebe, mit dem Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot im Gesetz antwortet: „‘Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das ist das höchste und größte Gebot. ‘Das andere aber ist ihm gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22,35-40)

Wir sehen also, dass Matthäus den besonderen Stellenwert des Doppelgebots der Liebe dadurch unterstreicht, dass er es als “das Gesetz und die Propheten” bezeichnet (Mt 22,40), eine Formel, die den grundlegenden Charakter dieses Gebots unterstreicht.  Nur einer anderen neutestamentlichen Tradition wird die Ehre zuteil, als “das Gesetz und die Propheten” bezeichnet und damit als inhaltliche Summe der Ethik Jesu besonders herausgehoben zu werden: der Goldenen Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12).

Die Goldene Regel kann geradezu als eine Programmformel für die Einsehbarkeit ethischer Orientierungen und die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich in den anderen einzufühlen, gesehen werden. Umso mehr kann das Liebesgebot, interpretiert durch die Goldene Regel, als Einfühlungsgebot interpretiert werden und weist damit die gleiche Grundstruktur auf, die wir im Hinblick auf den Schutz des Fremden herausgearbeitet haben. Das Gebot des Fremdenschutzes mahnt zur Einfühlung in den Anderen mit dem Hinweis auf die historische Erfahrung des Volkes Israel als Traditionsgemeinschaft, die ihrer eigenen Unterdrückung gedenkt.

Ich bin dankbar dafür, dass wir als Religionsgemeinschaften in Deutschland in der Flüchtlingsfrage eine große Gemeinsamkeit in der Positionsbestimmung erleben. Der theologische Austausch ist dafür eine wichtige Grundlage. Deswegen bin ich sehr dankbar, dass wir als Rat der EKD diesen regelmäßigen Austausch mit der Rabbinerkonferenz haben. Auch heute haben wir wieder davon profitiert. Dafür sage ich von Herzen Dank!