Im Gehen entsteht der Weg - Impulse christlich-jüdischer Begegnung

Ansprache von Kirchenpräsident Christian Schad in der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier im Pflazbau zu Ludwigshafen am 07. März 2015


Liebe Schwestern und Brüder!

„Im Gehen entsteht der Weg“ – mit diesem Jahresthema geht es um einen neuen Impuls für die jüdisch-christliche Begegnung, die – gewissermaßen peripatetisch – im gemeinsamen Gehen der Wege Gottes zu neuen Erkenntnissen und zu vertiefter Freundschaft führen kann. Dieses Motto, es geht zurück auf ein Wort von Franz Kafka. Er sagt: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“

In dieser Erkenntnis spiegelt sich das jüdisch-christliche Gottesbild wider, von dem auch Kafka geprägt war. Der Gott Abrahams und Sarahs, der Gott, der mit Mose sein Volk aus der Sklaverei Ägyptens in die große Freiheit der Kinder Gottes führt, ist von Beginn an ein Wege-Gott. Ein Gott, der die Seinen auf ihrem Lebensweg begleitet, der ihnen in Feuerschein und Wolke vorangeht – sich mitunter schroff in den Weg stellt, um ihnen den Gang in die Irre zu verwehren.

Die Bibel ist voll von Weg-Geschichten. Geschichten mit unerwarteten Wendungen, mit Holzwegen und überraschenden Auswegen. Dass Gott ein mitgehender Gott ist, macht sein Wesen aus. Gottes Sein ist im Werden. Es verwirklicht sich im Weg mit seinem Volk.

Gottes Wege sind dabei nicht notwendigerweise Menschenwege. „Denn“, so der Prophet Jesaja, „meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken“ (Jes 55, 8-9).

Dass Gottes Wege und die von Menschen sogar diametral entgegengesetzt sein können, schildert ein – Ende des vergangenen Jahres erschienenes – Buch des emeritierten Ludwigshafener Dekans und Ehrenbürgers dieser Stadt: Dr. Friedhelm Borggrefe. Es trägt den Titel: „Im Gleichschritt Marsch …“ und es zeigt eine Kirche, meine evangelische Kirche, synchron mit dem NS-Staat. Im Gehen entstehen nicht nur Wege, sondern auch bittere Irrwege!

Mit einem Prozent der Gesamtbevölkerung stellte 1933 die kleine, ca. 1.070 Personen zählende jüdische Gemeinde hier, in Ludwigshafen, eine absolute Minderheit dar. Sie bestand vornehmlich aus prominenten, z. T. alteingesessenen Unternehmen und Familien, einem großen Teil der Ärzteschaft und der Juristen dieser Stadt. Daneben waren aber auch – in den 1920er Jahren – wirtschaftlich wenig wohlhabende und verarmte Juden aus Russland und Polen eingewandert. Neben der liberalen Synagoge, gab es ein offizielles ostjüdisches Gotteshaus, sowie in Hinterhöfen einige private Bethäuser.

Als am 09. November 1938 die Synagoge in der Kaiser-Wilhelm-Straße, unweit von hier, angezündet und jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet, und zwei Jahre später, 1940, die verbleibenden Juden nach Gurs deportiert wurden, erfolgte in Ludwigshafen selbst keine Stellungnahme: weder seitens der christlichen Gemeinden, noch von deren Vertretern. Ein Augenzeuge berichtet: „Ich nehme an, dass es Donnerstagmorgen, der 10. November 1938, war, als ich Zeuge einer Greueltat in Ludwigshafen wurde, dort, wo die Lisztstraße, wo mein Vaterhaus stand, in die Schützenstraße einmündet, an der Straßenbahnhaltestelle am Schützenplatz. Ich sah, wie aus einer Etagenwohnung im zweiten oder dritten Stock Möbelstücke auf die Straße geworfen und Menschen unter Gejohle aus dem Haus gezerrt wurden, Juden zweifellos … Deutlich erinnere ich mich an die Abscheu, die ich angesichts der schlimmen Szene empfand, aber ich dachte nicht daran, sie öffentlich zu bekunden, ich wandte mich schweigend ab und beschwichtigte mein Gewissen damit, dass ich doch nichts hätte ausrichten können, und dass es eben auch üble Entgleisungen im Zug einer großen Bewegung geben könne.“

Als andere das ganze Ausmaß der Zerstörung sahen, eilten sie zum Protestantischen Dekanat dieser Stadt, in der Hoffnung auf Rat und Orientierung. Doch die Antwort, die sie bekamen, lautete lapidar: „Da kann man nichts machen!“

Nein, als in unseren Städten die Synagogen brannten, als jüdische Geschäfte, Häuser, Wohnungen zerstört und ausgeplündert wurden, als die böse Hatz auf Jüdinnen und Juden begann, Menschen ermordet wurden, Familien auseinandergerissen und Männer verschleppt, da gab es keinen Aufschrei im Land. Und es gab auch keinen Aufschrei in unseren Kirchen! Einzelne nur waren es, die sich trauten, ihre Stimme zu erheben, um das himmelschreiende Unrecht beim Namen zu nennen. Die meisten aber blieben stumm.

Wir stehen heute vor der Geschichte unserer christlichen Gemeinden und suchen danach, ob sich nicht doch eine Stimme finden lässt, nicht doch ein Beschluss gefasst wurde, der dem Ungeheuerlichen widersprach. Wir suchen – noch immer in der Hoffnung, dass sich in den Gesichtern derjenigen, die vor uns waren und auf deren Schultern wir stehen, ein Wort findet, an dem wir uns festhalten können; ein Gesicht, in dem sich der klare Blick auf das Unrecht spiegelt; eine menschliche Hand, die den Gejagten ihre Hilfe anbot.

Es gab diese Stimmen. Aber sie waren zu schwach oder sie wurden mundtot gemacht, aus Angst, der Hass und die Bosheit könnten sich unversehens gegen einen selbst richten. Es waren zu wenige. Es mangelte an Klarheit. Wir sind als Volk und als Kirche in einen ungeheuren Abgrund gestürzt.

Dies zu erkennen und darauf zu verzichten, Rechtfertigungen zu suchen, Entlastungsstrategien und Verleugnungen: vielleicht bedarf es dazu einer größeren Hoffnung, als der Mensch sie von sich aus haben könnte.

Zeit vergeht – Verantwortung nicht! Und Verantwortung braucht Erinnerung, um nicht zu einem allgemeinen Postulat zu verschwimmen. Die Rufe nach einem Schlussstrich, sie sind fast schon so alt, wie die Vergangenheit selbst, um die es geht. Doch sie bleiben so vergeblich, wie die Hoffnung, dass die Belastung unserer Geschichte durch die Nazi-Zeit eines Tages verschwinden werde. Nein, sie bleibt. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.

Es war die Generation meiner Großeltern, die damals das Feuer legte, die Steine warf, die Türen eintrat und Menschen jagte. Es war die Generation meiner Großeltern, die dem Geschehen zusah, den Blick abwandte und zur Tagesordnung überging, als sei nichts geschehen.

Wir beten in dieser Stunde darum, dass die Scham über zugefügtes Unrecht, die Verantwortung für die Folgen vergangener Schuld und die Pflicht zur Erinnerung unser gemeinsames Handeln bestimmen. Die schrecklichen Bilder von damals, sie lehren uns heute: Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen und dem für menschlichen Zugriff Unverfügbaren gibt, dort gibt es auch keinen Respekt vor den Menschen!

Unsere Erinnerung an die Jahre 1933 bis 1945 liefe deshalb ins Leere, wenn wir sie nicht mit der Frage nach der praktischen Solidarität verbänden, die wir den in unserer Zeit zu Unrecht Verfolgten schulden. Frauen, Männer und Kinder kommen in diesen Tagen bei uns an, weil die Gewalt sich immer mehr ausbreitet und sie an Leib und Leben bedroht. Helfen wir denen, die es nach schlimmen Erfahrungen zu Hause und auf der Flucht bis hierher geschafft haben, und heißen wir sie unter uns herzlich willkommen!

Jedem Menschen, gleich, welcher Hautfarbe, gleich, welcher Volkszugehörigkeit oder Religion ist das Bild Gottes eingeprägt. Keiner darf preisgegeben werden. Davon in Wort und Tat Zeugnis abzulegen, sind wir in besonderer Weise gefordert. Gemeinsam mit dem jüdischen Volk halten wir fest an der Verheißung, dass Gott Recht schafft denen, die Gewalt leiden und die Würde derer wieder aufrichtet, die damals gedemütigt wurden und die heute gedemütigt werden.

„Im Gehen entsteht der Weg“, genauer: Im Umkehren, in wahrhaftiger Reue, können neue, können gemeinsame Wege entstehen. Entsprechend hat meine Landeskirche, die Evangelische Kirche der Pfalz, 1995, also genau vor 20 Jahren, in ihrer Verfassung folgende Selbstverpflichtung festgeschrieben: „Durch ihren Herrn Jesus Christus weiß sie sich hineingenommen in die Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk Israel – zum Heil für alle Menschen. Zur Umkehr gerufen, sucht sie Versöhnung mit dem jüdischen Volk und tritt jeder Form von Judenfeindschaft entgegen.“

Gemeinsam mit dem jüdischen Volk hoffen wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und wollen mit ihm in der Kraft dieser Hoffnung für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt beten und arbeiten.

Amen.