"Nun gehe hin und lerne": Sich zu erinnern ist keine Schande, sondern eine Pflicht

Grußwort des Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier bei der Zentralen Eröffnungsfeier der Woche der Brüderlichkeit am 05. März 2017 in der Frankfurter Paulskirche


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
verehrte Ehrengäste, verehrte Preisträger,

ich heiße Sie ebenfalls sehr herzlich hier bei uns in Hessen und in Frankfurt am Main und an diesem besonderen Platz willkommen.

Wir freuen uns, dass wir erneut Gastgeber dieses Dialogs zwischen Christen und Juden sein dürfen – und es passt zu uns. Wir haben ein festes Fundament, wir sind aber auch offen für Neues, wir sind stolz, aber nie überheblich und wir pflegen den Dialog. Und das passt dann auch sehr gut zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit.

Meine Damen und Herren, es passt auch, weil dieses Land Hessen über Jahrhunderte von Christen und Juden geprägt worden ist und ungemein viel befruchtet hat. Es war aber auch immer eine Geschichte der Spannungen, der Tiefpunkte, der Auseinandersetzungen, der Ausgrenzungen, des Hasses – auch das gehört zum Miteinander der Religionen in Hessen. Wenn wir uns vor Augen halten, dass an Stelle des Dialogs häufig die Gewalt trat, dann gilt das für uns, innerhalb des Christentums. In diesem Jahr des Reformationsjubiläums, sehr geehrter Herr Landesbischof, sei daran erinnert, dass Hessen ein Kernland der Reformation ist – mit großen Errungenschaften: Hessen ist das Land, in dem die erste Evangelische Synode der Welt tagte, in Homberg. Hier in Ziegenhain ist die Konfirmation erfunden worden. Die erste protestantische Universität der Welt wurde in Marburg an der Lahn gegründet. Alles Dinge, die durchaus weit über Hessen hinaus, ein Stück die Welt verändert haben. Aber auch der Dreißigjährige Krieg gehört zu dieser Entwicklung in Hessen: Am Ende des sogenannten Hessenkriegs zwischen den Katholiken und den Evangelischen stand tausendfacher Tod, großes Elend und die Verwüstungen von ganzen Landstrichen.

Wenn wir auf unsere Religionsgeschichte schauen, dann zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit den Juden sogar noch brutaler und noch schlimmer gewesen ist. Der großen Bereicherung steht schreckliche Gewalt gegenüber. Hessen war einst charakteristisch für ein sehr reiches und ein intensives jüdisches Leben in den Städten. Aber insbesondere auch auf dem Land gab es eine reichhaltige jüdische Kultur. In den hessischen Landgemeinden lebten insgesamt weit mehr Juden als im übrigen Reichsgebiet. Herausragende Leistungen zeugen von dieser Geschichte. Wenn wir heute diese Auszeichnung im Namen von Martin Buber und Franz Rosenzweig vergeben, dann fühlen wir uns hier besonders geehrt, es berührt uns. Denn Buber nahm seinen Wohnsitz in Heppenheim und Rosenzweig kam aus Kassel. Die beiden Namensgeber der Auszeichnung dieses Tages für Menschen, die sich für den Dialog zwischen Juden und Christen einsetzen, hat daher eine Menge mit uns und Hessen zu tun. Nach dem absoluten Tiefpunkt der deutschen Geschichte aber, nach der Shoah, lebten hier in Hessen kaum mehr Juden. Die einst bedeutsamen Landgemeinden bestanden jeweils nur aus kaum mehr als einem Dutzend Mitgliedern. Umso glücklicher sind wir heute, dass es gelungen ist, wieder jüdisches Leben hier heimisch zu machen. Der Oberbürgermeister hat zu Recht darauf hingewiesen, diese Stadt hat eine besondere Tradition, aber es ist nicht nur Frankfurt, sondern glücklicherweise das ganze Land. Und wenn wir uns heute über reiches jüdisches Leben freuen dürfen, so zeigt dies, dass wir ausgezeichnet sind vom Vertrauen derer, die allen Grund hätten, diesem Land zu misstrauen. Und dass es gelungen ist, hier wieder in vielfältigster Weise jüdisches Leben zu etablieren, ist uns eine Freude und wir fühlen uns geehrt. Das Land unterstützt dies in vielfältiger Weise. Dazu fühlen wir uns nicht nur verpflichtet, sondern dies gehört zu unserer Staatsräson.

Daher gilt auch, meine Damen und Herren, dass im Hinblick auf die Frage, ob denn die Arbeit derer, die den Dialog pflegen, überhaupt noch notwendig ist, auch nach so vielen Jahren. Ich meine uneingeschränkt ja. Das, was wir tun können als Staat, ist beschränkt. Der weltanschaulich neutrale Staat kann den Dialog der Religionen nicht ersetzen. Das müssen die Religionen schon selbst tun. Das Gespräch über den Glauben, die Frage der Wahrheit, nach der Tradition und der Überlieferungen – dieses alles müssen die Religionen miteinander austragen und in einem Geiste der Brüderlichkeit, so wie diese Woche ja auch ganz bewusst heißt. Und deshalb sind die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der ich mich selbst ja seit vielen Jahren angehörig fühlen darf, so wichtig. Und wenn wir heute in der Bundesrepublik Deutschland, nach den zarten Anfängen 1948 und 1949 hier in Frankfurt und in Wiesbaden, 84 Gesellschaften haben, dann ist das für uns alle ein Anlass zu großer Freude. Diese Arbeit ist wichtig, und sie bleibt wichtig, und sie verdient unser aller Dank. Und nicht nur den heutigen Preisträgern gilt daher unser Glückwunsch, meine Damen und Herren.

Dieser Dialog ist deshalb so wichtig, weil er verhindert, dass jeder sich in sein Schneckenhaus zurückzieht. Dieser Dialog verhindert, dass eine Gesellschaft in immer mehr unverbundene Teile zerfleddert. Wenn jeder für sich alleine sozusagen absteckt, den Rahmen dessen, in dem er sich bewegt, die Ausgrenzung zum Maß der Dinge wird, dann kann eine Gesellschaft nicht erfolgreich beieinander bleiben. Das galt schon immer und das gilt erst Recht heute. Und deshalb ist mein Wunsch, dass es uns gelingen möge, den religiösen Dialog auch auf die Muslime und ihre Organisationen auszudehnen.

Ich bleibe bei der Trennung von Staat und Religion. Aber ich bin davon überzeugt, dass uns ein gutes gesellschaftliches und religiöses Miteinander im Geiste der Brüderlichkeit nur gelingen kann, wenn damit eine Absage an die Überhöhung und Alleingültigkeit von Religion und religiöser Ansprüche einher geht und unsere Zukunft prägen wird. Auch deshalb ist dieser Dialog nach wie vor so ungemein wichtig.

Meine Damen und Herren, auch das gehört dazu: Für alle, für Gläubige, für Nichtgläubige, für Muslime, für Christen, gilt, dass der Kampf gegen Antisemitismus heute vielleicht anders geführt werden muss als früher, aber er ist nicht weniger wichtig. Und er ist gelegentlich noch viel notwendiger denn je. Die Erlebnisgeneration der Shoah ist weitestgehend nicht mehr unter uns. Mancher, der hier lebt, mag sich fragen: „Was habe ich damit zu tun?“. Umso mehr ist es notwendig, dass wir Hasspropaganda nicht nur, aber gerade in den sozialen Netzwerken, entgegentreten. Das hat überhaupt nichts mehr mit respektvollem Dialog zu tun, das hat überhaupt nichts mehr mit Brüderlichkeit zu tun, sondern das hat mit einer Inanspruchnahme der alleinigen Wahrheit für eigene Zwecke zu tun. Und wenn diejenigen, die sich gelegentlich zum Verteidiger des christlichen Abendlandes aufschwingen, Menschen ausgrenzen, insbesondere jüdische Bürgerinnen und Bürger, dann müssen wir laut und deutlich sagen: Dieses christliche Abendland ist ohne die jüdische Tradition nicht denkbar, es ist ein Teil unseres Erbes und ein Teil unserer Geschichte, auf das wir nicht verzichten dürfen und auch nicht verzichten wollen, meine Damen und Herren.

Und es sei auch klar gesagt, dass wir all denjenigen, die entweder aus Vergessenheit, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, ja manchmal auch Unwissenheit, versuchen, ihre gefährliche Saat zu säen, indem sie – nicht zuletzt neuerdings auch aus den Parlamenten heraus – die Erinnerungskultur diffamieren, laut und deutlich widersprechen müssen, sie erinnern müssen, dass es keine Schande ist, sich zu erinnern, sondern es dass es eine Pflicht ist, sich zu erinnern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegt also an uns, in unserer Verantwortung aus der Dialektik der Kultur-, Religions- und Konfliktgeschichte der Religionen immer wieder diesen Ruf, diese jahrhundertelange Verzeichnung, Verleumdung und das Verlernen zu überwinden. Sie haben das Motto gewählt „Nun gehe hin und lerne“. Ich will es mal weiterdenken: nicht nur lernen, sondern vielleicht auch verlernen. Das Verlernen von Vorurteilen, das Verlernen von Hass, das Verlernen von Gewalt. Wenn das gelänge, dann hätten wir eine Menge gelernt. Und in diesem Sinne seien Sie herzlich willkommen.

Ich wünsche dieser Woche der Brüderlichkeit regen Ertrag, viele gemeinsame gute Begegnungen und uns allen eine gute Zukunft, herzlichen Dank.