Themenheft online 2017: "Nun gehe hin und lerne"

„Nun gehe hin und lerne“

Natascha Janovskaja


Das Jahresthema ist aktuell, wir gehen (besonders wir, die vor 25 Jahren im Westen neu waren), in die Synagoge, ins Haus der Kirche, in Museen und lernen. Wir lernen nicht einfach zu leben im Westen, wir lernen Juden zu sein. Auch ich gehöre zu dieser Gruppe der sogenannten “Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion, die seit 1990 nach Düsseldorf gekommen sind. Das Wort Kontingentflüchtling gilt nicht mehr. Viele sind längst Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Seit nunmehr 25 Jahren bin ich Mitglied der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und der Gesellschaft für CJZ. Nach mehr als 40 Jahren beruflicher Tätigkeit bin ich nun in Rente. Meine Töchter sind selbst Mütter geworden und ich bin Oma von vier süßen Enkelinnen.

Vor ca. 20 Jahren wurde im Themenheft mein Artikel “Auch wir sind dabei“ veröffentlicht. Heute nach so langer Zeit möchte ich wieder ein paar Gedanken zum Thema des Jahresheftes beitragen.

Im Mai dieses Jahres erschien auf Deutsch das Buch meiner Eltern “Vorsicht! Genosse ist Jude.“ Mein Vater Aaron (88 Jahre) schrieb Erinnerungen auf. Darüber, wie er und meine Mutter, ehemalige Atheisten und Kommunisten, in Deutschland lernten, Juden zu sein. Und es entspricht der Wahrheit. Wir alle hatten doch mit dem Judentum, mit der jüdischen Religion nie was zu tun gehabt. Erst hier im Westen, in Düsseldorf haben unsere Kinder die jüdische Religion sogar als Schulfach im Abitur gehabt. Alle meine Enkeltöchter sind sehr gut mit vielen jüdischen Traditionen und Feiertagen vertraut. Mein Vater (ehemaliger Kommunist) und meine Mutter haben erst hier in Düsseldorf zum ersten Mal die Synagoge betreten und sogar mit dem damaligen Rabbiner Freundschaft geschlossen. Bei dem Begräbnis meiner Mutter vor zehn Jahren erinnerte sich unser damaliger Rabbiner Soussan, dass meine Mutter ihm die ersten Kenntnisse der russischen Sprache beigebracht hat. Sie war mehr als 40 Jahre Russischlehrerin in der Ukraine.

Mein Gefühl der Unsicherheit in der neuen Heimat habe ich längst überwunden. Auch viele der ehemaligen Neuzuwanderer, die es sich selbst wünschten und selbst etwas dafür unternommen haben, sind angekommen. Hier kann man einige Initiativen auch im Rentenalter noch in die Tat umsetzen. Außerdem habe ich ein tolles Gefühl, wenn etwas, was ich mir in den Kopf gesetzt habe, auch klappt. Meine Freude ist riesig, wenn der Raum in der Bastionstraße voll ist und ich einige Landsleute vorstelle, die hier längst eine neue Heimat gefunden haben und erfolgreich berufstätig sind oder waren. Sehr gerne präsentiere ich unser Leben hier auch in der nichtjüdischen Öffentlichkeit. Mit meinen Vorträgen, Lesungen, kleinen Kostproben aus der jüdisch-osteuropäischen Kultur und Alltag. Mit Erzählungen aus dem Emigranten-Alltag versuche ich, den Dialog lebendig zu machen, eine kleine Brücke des Verständnisses mehr auszubauen. Ich hatte das Glück, persönlich solche großartigen und hier gut bekannten Menschen, wie Ilse Neuberger, Paul Spiegel, Ignatz Bubis, George Teller, Herbert Rubinstein, Ahmad Mansour und viele andere kennen zu lernen. Ich hatte die Möglichkeit, kurze Gespräche mit Charlotte Knobloch, mit dem Sohn von Ilse Neuberger, mit Ahmad Mansour und Johannes Rau zu führen. Für meine Projekte während der Arbeit in der Martinschule Kempen haben meine Schüler viele Wettbewerbe gewonnen. Stolz bewahre ich die Briefe vieler Prominenter, wie z.B. Fritz Pleitgen, verschiedenen Ministern und sogar vom Büro Frau Merkel auf. Nach langer Zeit der Arbeit in NRW im öffentlichen Dienst als Lehrerin habe ich mir wirklich eine umfangreiche Erfahrung aneignen können.

Man braucht viel Kraft, Nerven, Geduld und Gesundheit, wenn man als Emigrant nach Deutschland kommt. Anfangs aber waren wir Flüchtlinge. „Asyl nach Tschernobyl“ davon erzählte ich noch 1995 im Buch „Meine ersten Jahre im Westen“. Vielleicht kann ich deswegen die Situation der heutigen Flüchtlinge besser verstehen. Ich kenne viele Vor- und Nachteile der Emigration. Traurige und lustige Augenblicke solcher Menschen kann ich schildern und nacherzählen. Es ist die Zeit gekommen, uns, die wir hier schon längere Zeit leben, mehr auszufragen und uns aufmerksam zuzuhören. Nur gemeinsam auf einer Feier zu sitzen, reicht nicht aus. Unsere Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf ist aus der Sicht ihrer Mitglieder eine der besten in NRW. Von Anfang an hat diese Gesellschaft den neuen Menschen hier mit zahlreichen Begegnungen, Ausflügen und Sprachkursen, mit Rat und Tat geholfen. Im Projekt „Heimat in der Fremde gefunden“, dass ich vor Jahren bereits vorgeschlagen habe, das jetzt glücklicherweise dank der Geschäftsführerin Andrea Sonnen zur Realisierung gekommen ist, lasse ich Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion zu Wort kommen. Als Gäste durften wir bereits eine ehemalige Ingenieurin aus Moskau begrüßen, die hier als Pflegekraft arbeitet. Die Musikerin aus Kasachstan, die hier als Band-Sängerin tätig ist. Die „Meisterin der goldenen Hände“, eine Friseurmeisterin, die hier einen eigenen Friseursalon eröffnete. Die ehemalige Leiterin des jüdischen Kindergartens, die heute als Logopädin tätig ist. Spannende Lebensgeschichten, interessante Gespräche, schöne Musik, freundliche Atmosphäre.

Unterhaltung auf einem Level, das ist aus meiner Sicht gelungene Integration.

Wir kommen und lernen. Die Juden, die lernen wirklich ihr ganzes Leben lang. Deshalb trifft uns alle der Ausspruch des jüdischen Schriftgelehrten Hillels, der schon vor Tausenden von Jahren festhielt, dass das Lernen als bleibender Auftrag zur Geburt zu deuten ist.

Natascha Janovskaja ist Mitglied des erweiterten
Vorstands der Gesellschaft CJZ Düsseldorf


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