Wenn Populismus populär wird

Vortrag von Rabbiner Avraham Yitzchak Radbil (Osnabrück) beim Treffen von Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz, des Rates der EKD, der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ARK) und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD) am 12. März 2018 in Recklinghausen


Sehr geehrte Herrn Bischöfe,
kwod ha-Rabbanim,
sehr geehrte Damen und Herren!

In zwei Wochen werden alle Juden auf der ganzen Welt das Pessachfest feiern, an dem wir beim Sederabend ausführlich über die Geschichte des Auszuges aus Ägypten erzählen und reflektieren müssen. Vieles aus dieser Geschichte können wir, meiner Meinung nach, auf die heutige Zeit übertragen und für uns wichtige Lehren aus dieser Geschichte ziehen.

Denn Rechtspopulismus ist kein neues Phänomen. Meiner Meinung nach war der erste dokumentierte Rechtspopulist der Pharao in der Exodusgeschichte, und, wenn wir uns diese Geschichte genauer anschauen, merken wir, dass der Aufstieg der Rechtspopulisten immer nach demselben Muster verläuft, wie es bei Paro der Fall gewesen ist.

Das zweite Buch Moses fängt an mit der Aufzählung der Namen der Familie Jaakows, die nach Ägypten gekommen sind, an, um uns kurz an die Geschichte und die Gründe, warum die Familie nach Ägypten gekommen ist, nämlich, weil im Land Kanaan die Hungersnot herrschte, zu erinnern. Die meisten aus der Familie waren also Flüchtlinge, wobei Josef schon früher als Sklave nach Ägypten gebracht wurde. Diese Aufzählung der einzelnen Namen will uns aber auch zeigen, dass jeder einzelne Mensch, auch wenn er ein armer Flüchtling ist wichtig ist, und in der Zukunft einen sehr wichtigen Beitrag leisten kann wie es bei der Familie Jaakows, und insbesondere Josef, der zum zweiten Mann im Staat aufgestiegen ist, die ägyptische Infrastruktur rettete und weiterentwickelte und dem Königshaus zu einem großen Reichtum verhalf, der Fall war.

Übrigens wird der Satz „Du sollst den Fremden lieben“ in der Tora viel öfter wiederholt, als der Satz „Du sollst deinen nächsten lieben, wie dich selbst“. Der Grund dafür ist selbstverständlich, weil es viel einfacher ist deinen Nächsten, der dir kulturell und gesellschaftlich sehr ähnelt, als einen Fremden, der anders als du ist, zu lieben.

So steht es beispielsweise im 3. Buch Moses, Kappitel 19:
„Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken.

Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer G-tt.“
Hierzu gibt es einige interessante Kommentare, die unsere Beziehung zum Fremden verdeutlichen sollen. Erstens, das Wort welches in unserer Übersetzung als „Einheimischer“ übersetzt wird heißt auf Hebräisch „Esrach“ und wird im modernen Iwrit für „ein Bürger“ bzw. „ein Staatsbürger“ verwendet. Dieses Wort besteht aber aus zwei verschiedenen Worten in der Mitte steht das Wort „Sar“ was als „ein Fremder“ übersetzt wird. Der erste und letzte Buchstaben (Alef und Chet) ergeben zusammen das Wort „Ach“, welches „ein Bruder“ bedeutet. Das bedeutet wenn ein Fremder zu dir kommt, sollen sich zwei Brüder, also die Einheimischen ihm von beiden Seiten unter die Arme greifen und ihn einbürgern, bzw. ihn in die Gesellschaft integrieren.

Interessant ist auch die Begründung, warum wir den Fremden lieben sollen: „Weil ihr selbst Fremde in Ägypten gewesen seid. Ich bin der Herr, euer G-tt“.

Normaler Weise denkt, man dass die Bedeutung dieser Aussage ist, da man selbst ein Fremder gewesen ist, kann man das Leid und Kummer eines Fremden am besten nachvollziehen. Doch ein berühmter Kommentator, Rabbi Naftali Tzwi Berlin kommentierte darauf im 19. Jahrhundert, dass wir zwar am Anfang arme Flüchtlinge im Land Ägypten waren, sind aber später (obwohl es uns keiner zutrauen würde) zu einer großartigen Nation aufgestiegen, die mit der Tora und den 10 Geboten ein großes Erbe für die gesamte Menschheit hinterlassen hat und während unserer Geschichte außergewöhnliche Persönlichkeiten hervorbrachten. Aus diesem Grund sollten wir am besten an unserem eigenen Beispiel sehen, dass kein Volk, keine Nation, und kein Mensch unterschätzt werden darf, denn wie der Talmud sagt: „Keiner darf unterschätzt werden, denn jeder erlebt mal seine Sternstunde“. Und wieso dürfen wir niemanden unterschätzen? Weil „Ich bin der Herr, euer G-tt“. In jedem Menschen ist ein Stück G-ttlichkeit enthalten, diese sollen wir ehren und lieben, denn sie macht jeden Menschen zu einem Heiligtum.  

Kommen wir zu der Exodusgeschichte zurück. Es steht weiter in der Tora: „Doch Josef und seine Brüder, sowie die ganze Generation starben“…. „Da erhob sich ein neuer König über Ägypten, der Josef nicht gekannt hatte“. Das bedeutet, dass die Geschichte vertuscht und verändert wurde und dass der ägyptische Wirtschaftsaufschwung nicht mehr Josefs Verdienst war, sondern ein Grund, um an den Nationalstolz der Ägypter zu appellieren.

Doch was jeden Rechtspopulisten ausmacht, ist die Tatsache, dass er es versucht, dem eigenen Volk zu verkaufen, dass sie die eigentlichen Opfer im eigenen Land sind, die von den Fremden schamlos ausgebeutet und gefährdet werden. Doch dafür bedarf es einen konkreten Sündenbock, in dessen Richtung man mit dem Finger zeigen könnte, eine Minderheit, die im eigenen Land lebt. Wie so oft danach, waren es bei Paro die Juden.

„Da sprach (Paro) zu seinem Volke: Seht, das Volk der Kinder Israels wird zahlreicher und stärker als wir selbst! Wohlan, lasst uns ihnen durch List beikommen, sie möchten sich doch zu sehr vermehren, und wenn dann der Krieg ausbricht könnten auch sie zu unseren Feinden übergehen und gegen uns kämpfen.“  Somit wurde die jüdische Loyalität hinterfragt und Angst in der eigenen Bevölkerung geschürt. Das jüdische Volk wurde dazu genötigt „Vorratsstädte, Pithom und Ramses für den Pharao zu bauen“. Später wurden sie zu Menschen zweiter Klasse erklärt und „deshalb trieben die Ägypter die Kinder Israels zur Arbeit an“. Wenn man lange genug die anderen als Läuse, Ratten und Ungeziefer darstellt, dann erschafft man eine neue Realität, in der es moralisch ist, andere (Unter)Menschen zu töten, und so folgte der nächste Erlass von Pharao, nämlich, dass „Wenn ihr, Hebammen, entbindet, so sollt ihr achthaben, wenn es ein Sohn ist, dann sollt ihr ihn töten…“, und schließlich wurde es dem ganzen Volk geboten: „Jeden neugeborenen Sohn sollt ihr in den Nil werfen“. Um die Geschichte kurz zu fassen, es wurden viele weitere Erlasse von Pharao verordnet, doch alle hatten nur ein Ziel das jüdische Volk zum Sündenbock für alle Probleme im Land zu erklären und sie später zu vernichten, um das eigene Volk von den eigentlichen Problemen im Land abzulenken, denn es gibt kaum eine bessere Möglichkeit das eigene Volk unter einer Fahne zu versammeln, ihm die eigene politische Agenda aufzuzwingen und im eigenen Thron sitzen zu bleiben, als ihnen einen gemeinsamen Feind aufzuzeigen, den man erfolgreich bekämpfen kann.  

Das war die Zusammenfassung der politischen Entwicklung, die zu der Exodusgeschichte führte. Eine sehr ähnliche politische Entwicklung, die fast nach demselben Muster verlief erlebten wir hierzulande vor ca. 80 Jahren. Das Ende der beiden Geschichten für das betroffene Land und dessen Bevölkerung ist ebenfalls sehr ähnlich ausgefallen, nämlich, die totale Verwüstung und sehr viele vollkommen unnötig verlorene Menschenleben. Denn sowohl die damalige Großmacht Ägypten, als auch das ehemalige Land der Dichter und Denker, Deutschland verwandelte sich in Tohuwabohu und deren prächtige Größe und Glanz wurden zu hässlichen Trümmern und Ruinen.

Es gibt jedoch auch eine andere Methode die Minderheit im eigenen Land auszulöschen oder zu vertreiben. Diese Methode ist weniger Brutal und kann nach außen viel einfacher vermittelt werden, denn in diesem Fall versteckt man sich hinter dem Gesetz. Dieser Methode bediente sich der syrisch-griechische Herrscher Antiochus, der im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung über Israel herrschte und scharfe Religionsgesetze erließ, die unter anderem die Beschneidung verbaten. Der Hintergrund dieser Erlasse war, dass alle in seinem Land gleich sein sollten, alle sollten an dieselben Götter glauben, sich gleich anziehen und dieselben Ritten pflegen. Jeder der anders war, oder eine andere Meinung vertrat wurde unterdrückt und war in seinem Land nicht willkommen. An diese Geschehnisse erinnern wir uns an unserem Chanukkafest.

Auch diese Geschichte scheint sich zu wiederholen. Ich kann mich erinnern, dass als die Beschneidungsdebatte in Deutschland entflammte, habe ich in einem Interview gesagt, dass falls man hierzulande die Beschneidung verbieten würde, würde man damit uns Juden es unmöglich machen in Deutschland zu leben. Auf einer Internetseite las ich in einem Kommentar auf diese Aussage den Satz: „Schöne Heimreise!“. Da ich in Deutschland aufwuchs, den gesamten Schulweg hier erlebte, einen deutschen Pass habe und mich mit Deutschland identifiziere, habe ich bis dahin immer angenommen, dass Deutschland meine Heimat wäre. Dieser Satz brachte mich jedoch sehr zum Nachdenken.

Doch sehr bemerkenswert ist die Tatsache, dass es gerade die Vertreter der AFD sind, die sich große Sorgen um die Gesundheit der muslimischen und jüdischen Jungen machen, indem sie die rituelle Beschneidung in Deutschland verbieten möchten.

Ähnliches erleben wir bei der Diskussion über das rituelle Schächten in Deutschland. Da müsste man sich schon fragen, wenn es diesen Menschen so viel an dem Wohl der Tiere liegt, warum reden sie da nicht über die Mängel in der Schweinehaltung in Europa. Und eine noch wichtigere Frage ist, wenn sie sich so sehr für die Tiere einsetzen wollen, warum sind dann ihnen die Menschen egal, die vor dem Krieg, Hunger und Elend fliehen wollen und die sogar  teilweise bereit sind ihr Leben dafür zu riskieren, weil das Leben dort wo sie her kommen nicht mehr möglich ist.

Diese Äußerungen werden von uns also für die jüdische Gemeinschaft als eine versteckte Botschaft wahrgenommen, die eigentliche Aussage die sich dahinter versteckt: „Ihr seid hier nicht willkommen“. Auch die Diskussion zur Erinnerungskultur weist in diese Richtung, denn in einem Land wo jüdische Kinder an den Schulen von den Mitschülern gemobbt werden, Juden auf der Straße beleidigt, bedroht und angegriffen werden, Synagogen, jüdische Friedhöfe und andere jüdische Einrichtungen beschädigt werden und aus diesem Grund ständig unter Polizeischutz stehen müssen, jüdische Restaurants wegen antisemitischer Vorfälle geschlossen werden, ist eine gesunde Erinnerungskultur mehr als nötig, denn die Statistiken der letzten Jahre zeigen uns sehr deutlich, dass Antisemitismus noch lange nicht der Vergangenheit angehört, sondern immer noch ein allgegenwertiges und ein wachsendes  Problem ist, welches immer mehr seinen Ausdruck in den Missetaten findet.

Einige Statistiken dazu: 2016 wurden in Deutschland 1468 gemeldete Straftaten mit antisemitischen Motiven registriert. Das sind 7,5% mehr als im Vorjahr. Allein in Berlin gab es im Jahr 2015, 13 Beschädigungen oder Zerstörungen jüdischer Einrichtungen, unter anderem von Holocaustgedenkstätten. 2016 wurden schon 42 solche Vorfälle gemeldet.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Antisemitismus heute oft hinter sogenannter Israelkritik versteckt wird. So wie etwa in 2015 als ein Richter einem Brandanschlag, der in Wuppertal auf die Synagoge von 3 Palästinensern verübt wurde, der Aktion jegliche antisemitische Grundlage aberkannte, und diese als einen Ausdruck der Kritik an der Politik des Staates Israel wertete.

Am vergangenen Wochenende gab es eine Reihe von Anschlägen auf türkische und muslimische Einrichtungen in Deutschland, welche selbstverständlich aufs schärfste zu verurteilen sind. Jedoch habe ich bis jetzt in keinem Beitrag lesen können, dass es sich hierbei um die Kritik der Politik von Erdogan handelte, denn es ist offensichtlich, dass Anschläge auf Moscheen ganz eindeutig als islamfeindlich zu bewerten sind, genauso wie Anschläge auf Synagogen antisemitisch sind und mit der Politik von Netanjahu absolut nichts zu tun haben.

Letzte Woche besuchte ich das Holocaustdenkmal in Berlin. Und in einem Punkt bin ich mit Herr Höcke einverstanden, es ist ein Denkmal der Schande. Denn es ist eine Schande für die Menschheit, dass Menschen anderen Menschen solche Gräueltaten wie der Holocaust antun können und es ist auch eine Schande dass die Menschheit danach kaum was daraus gelernt hat, denn wen es anders wäre würden keine Moscheen oder Synagogen mehr brennen. Deswegen bin ich in einem anderen Punkt mit Herr Höcke alles andere als einverstanden, nämlich dass der Mahnmal weg muss. Denn wie wir leider den Statistiken entnehmen können, gehört er genau dahin wo er steht, nämlich in das Herz von Berlin, von Deutschland und Europa. 

Doch unsere Aufgabe ist es für eine friedliche und tolerante Gesellschaft zu kämpfen. Wenn ich zurück zum Chanukkafest kommen darf und euch bitten darf ein Moment über den Chanukkaleuchter zu reflektieren. Chanukka dauert 8 Tage lang, jeden Tag wird eine zusätzliche Kerze gezündet. So bringt jede Kerze zusätzliches Licht und erleuchtet mehr den Raum. Die Kerzen müssen deutlich separat von einander stehen, denn wenn das Feuer von zwei Kerzen sich vermischt, ist der Halacha, dem Religionsgesetz nach diese Chanukkia nicht koscher. Die Kerzen symbolisieren die Vielfallt in der Gesellschaft. Jede zusätzliche Kerze, sowie jeder Beitrag zu einer friedlichen pluralistischen Gesellschaft ist eine Bereicherung. Jedoch müssen die Kerzen deutlich separat von einander stehen. Das bedeutet, dass wir uns nicht vermischen dürfen, denn unsere Unterschiede sind gerade das was die Gesellschaft so schön, bunt, und liebenswert macht. Wir sind alle unterschiedlichen Teile eines großen Leuchters, jedoch bringt jeder von uns sein eigenes Licht, welches den Raum erleuchtet und zum Gesamtbild beiträgt. Einheit in Vielfallt. Auch aus diesem Grund wird eine Chanukkia oft an öffentlichen Plätzen gezündet, um diese Botschaft in die Welt zu tragen.

Meine Damen und Herren, ich bin kein Politiker, deswegen steht es mir nur begrenzt zu die Politik zu kommentieren, zu kritisieren oder jemandem politische Ratschläge zu erteilen aber ich bin ein Rabbiner und ich weiß dass es im Talmud steht: Hillel sagte: Sei von den Schülern Aharons, liebe den Frieden und verfolge den Frieden. Die Kommentatoren erklären die doppelte Ausdrucksweise (lieben und verfolgen). Den Frieden zu lieben ist passiv. Das bedeutet, dass man niemandem was Schlechtes antut und keinen Streit sucht. Doch die Abwesenheit des Krieges ist kein idealer Friedenszustand, denn wen wir nicht ständig und ununterbrochen an dem Friedenszustand arbeiten, droht jeden Moment der Krieg auszubrechen. Somit ist es nicht genug den Frieden nur passiv zu lieben, man muss den Frieden auch aktiv verfolgen, sich immer um den Frieden bemühen und sich für den Frieden ununterbrochen einzusetzen. Es darf nicht weggeschaut und geschwiegen werden.

Aus diesem Grund, muss jeder gegen jegliche Rechtsrethorik, Fremdenhass und Bedrohung der Minderheiten sensibilisiert werden. Jeder Hasspredigt und jeder fremdenfeindlichen Äußerung egal, ob sie religiös, politisch oder gesellschaftlich motiviert ist, muss man vehement entgegentreten. Den Menschen muss es aufgezeigt werden, zu welchen fatalen Folgen so eine gefährliche Entwicklung führen kann. Denn wie wir alle wissen und wie aus diesem Vortrag hoffentlich deutlich wurde, hat die Geschichte, wenn wir nichts aus ihr lernen, die Angewohnheit sich zu wiederholen.